vonWolfgang Koch 30.08.2020

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Toni Kleinlercher stammt wie Leitner aus dem heiligen Land Tirol. Die Männer kennen einander seit ihrem jungen Erwachsenenleben. Sie besuchten gemeinsam u.a. Schottland und Auschwitz, sie teilen miteinander eine grosse Japan-Begeisterung und noch einiges andere, und sie wirken heute beide in Wien-Fünfhaus. Die Unterschiede finden sich in der ökonomischen Basis und im Privatleben. Leitner arbeitet seit Jahrzehnten mit dem vollen Sozialrisiko eines freischaffenden Künstlers ohne eigene Familie; Kleinlercher sichert seine künstlerische Freiheit und seine Familie durch eine Beamtenlaufbahn ab.

In PRIVAT VIEWING 07 antwortet Kleinlercher auf Leitners Zeitkapsel in grosser Gelassenheit mit einer eigenen Zeitkapsel. Praktischerweise ist das ein antiker Reisekoffer aus Kunstleder mit niedlichem Papierfutter im Inneren, in dem vom Künstler über Jahrzehnte sogenannte Bücher aufbewahrt wurden. 63 an der Zahl. Dieser Koffer ruht nun im Zeitalter der romantischen Selbstüberbelichtung, in dem die verlorenenSeelen in ihren eigenen virtuellen Galerie eingesperrt sind, geduldig am Boden. Kleinlercher hat über den Koffer Kopien der enthaltenen Titel so elegant in einer strengen Reihung an der Wand arrangiert, mit wohnzimmertauglichen pinken und violetten Signalen, dass man beinahe übersieht, wie er unsere Wahrnehmung hier manipuliert.

Die Buchtitel im Reiseutensil sind nicht gleich gross; das Bildformat entspricht nicht dem Buchformat. Die Bilder zeigen eigentlich auch keine Bücher, sondern nur die mehr oder weniger lauten Werbeumschläge der Werke. Bei der Anordnung der Bildtafeln in anfangs drei, später neun Reihen war es Kleinlercher – im Unterschied zu Leitner – zunächst wichtig, »keinem Ordnungsversuch zu erliegen«; die Auswahl der Titel sollte dem Zufall folgen, die Erinnerungen an seine verflossenen Lektüren frei von Strukturen flottieren können; die evozierten Inhalte sollten in verschiedenen Intensitäten zurückkehren können – fragmentarisch, bruchstückhaft, halbleserlich, wie von Ferne unter einem Schleier.

Kleinlercher hielt dieses Vorhaben nicht durch und hat sich in letzter Minute dafür entschieden, die Titel alphabetisch nach Autor*innen zu reihen. Mag ausnahmslos jedes Leben als Fragment enden, eine Zeitkapsel ist offenbar immer ein Ordnungsprojekt, das Gegenstände für unbekannten Adressaten zur Schau stellt, ein vergrabener Katalog des Wissens. Kleinlerchers »Coverpaining« streichen dabei die Möglichkeit verschiedener Erinnerungsgrade an Lektüren und Besitztümer stärker hervor als Leitner, sie spielen mit einen Assoziations- und Empfindungsraum, der auf die »Intensitätsbeziehung« von Sachtrieb und Formtrieb hinausläuft, wie sie Friedrich Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen während der Französischen Revolution 1793 untersucht hat. – Das Höchste, was die Erinnerung leisten kann, besteht nach Schiller in einem Schwanken zwischen diesen beiden Prinzipien, Form und Sache, wobei in einer Art Zeigeakt auf Kleinlerchers Wand die Form des Umschlags vollständig über die Realität des Buches triumphiert.

Das führt mich zu der Frage, die mich in den letzten Jahren stark beschäftigt, ob die ästhetische Anschauung und Gestaltung selbst ein Denken ist oder ob sie das Denken bloss illustriert. Sind Kleinlerchers bandagierten Titel Allegorien auf ein verletztes Lesen? Sind sie der symbolische Verweis auf ein Geschehen oder geschieht in der visuellen Darstellung selbst etwas?

Anders gefragt: Ist Kunst ein Denkmodus? Ist die bildende Kunst nur eine »angewandte Philosophie«, die Dinge erspürt, welche dem Bewusstsein unzugänglich sind? Sind ästhetische Vorgänge eine Anrede an die Gemüter und Geister, ein blosses »Entwicklungsmoment des Geistes« (Hegel) oder »Vorstadien der Erkenntnis« (Oswald Wiener), also ein Trainingslager des Denkens? Muss der Intellekt heran gezogen werden, um Kunst aus ihrem Hintergrund heraus zu interpretieren? Liegt die Bedeutung der Kunst in einer Hinterwelt, die erst vom diskursiven Geist in seiner vollen Dimension erschlossen werden kann? – Oder handelt es sich bei den korrespondieren Zeitkapseln um Anstrengungen, in einem bestimmten Bereich eine Äquivalenz aller anderen Bereiche zu verwirklichen? Handelt es sich bei der Kunst um eine Form des universalisierten Denkens, in dem wir zuweilen echtes Wissen über den Gegenstand erlangen, ohne dazu verdammt zu sein, nach Massgabe des Auges oder nach Maßgabe der Sprache allein abzuwägen?

Wie Leitner und Kleinlercher diese Frage mit ihren in das All geschossenen Botschaften praktisch beantworten, das können Sie, bevor die Rotationskreisel der Welt aus der Verankerung springen, in aller Ruhe im Atelier betrachten. Wie ich die Frage umfassend theoretisch beantworte, lässt sich in meinen beiden neuen Büchern über die österreichischen Künstler Hermann Nitsch und Viktor Rogy nachlesen. Beide sind im Wiener Hollitzer Verlag erschienen.

© Wolfgang Koch 2020, Fotos: Marika Rakoczy, Toni Kleinlercher

Ausstellungseröffnung von PRIVATE VIEWING 07

samstag 29. 08. 2020 von 15:00 bis 19:00

 

studio kleinlercher/kosai

gebrüder lang-gasse 14

1150 wien

 

ausstellungsdauer 30.08. bis 06.09.2020

nur nach voranmeldung

0660 7388015

tokyo@kuspace.org

www.toni-kleinlercher.com

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