Ein armer Tropf, ein Jammerlappen, ein Wrack. Es gibt keine grössere Bitternis, als über uns selbst zu reden. Also kneift dieser Erzähler den After zusammen und redet unter dem blankgefegten Himmel was das Zeug hält über sich selbst, immer in der stillen Hoffnung, das indizierte Wortgift wirke, wie bei Cioran, auf selbsttherapeutische Weise.
Gerhard Jaschkes Erzähl-Ich beklagt in den Nachsätzen sein ungelebtes Leben. Es gibt niemals zu, das es ohnehin schon alles weiss. Man blättert rasch weiter, weil man über das Buch statt in dem Buch instruiert wird, über die Literatur statt in der Literatur. Doch noch bevor ich die Konvention der Bildungsgleichkeit von Autor und Leser*in einfordern kann und den Band in die Ecke schleudere, blitzt wieder eine fulminante Passage auf, wie diese Klage über den Verlust der reichhaltigen Sprache auf Seite 23:
»Was wir nicht alles sagen und manche manchmal auch schreiben! Unwetter, vor Ort, abgeschmeckt wie abgeschminkt, zugesperrt und zugeknöpft. Was war das noch für eine Sprache! Wir sind ihrer verlustig gegangen. Machen wir uns nichts vor. Hat die Sprache uns verlassen oder haben wir die Sprache verlassen? Wie immer nie werden wir mehr ihrer habhaft sein.«
Ist denn die fragende Geborgenheit das bedeutende Dichterische schlechthin? Franz Baermann Steiner hat das ausdrücklich verneint. Gerhard Jaschke scheint einer anderen Dichtungstheorie anzuhängen. Sein Ich-Erzähler verbeisst sich genussvoll in den Eindruck, er habe schon alles gelebt, was er zu leben gibt. »Vögel unterhalten sich, ich verstehe kein einziges Wort«. Und dabei bleibt es ihm rätselhaft, wie es zu den auf das Papier gesetzten Worten gekommen ist.
Nicht immer ist alles düster und von Schmerz umwölkt in diesem Buch. An einem 1. Mai fantasiert der alte kranke Mann: »Ein kleines Stück Gold mit sich tragen, um die Erdenschwere zu spüren, die Schwerkraft, bis man erneut leicht wie Asche oder eine Flaumfeder wird«. Die Lebenslast aber – das Bleigewicht des Körpers, das Gebirge des Unerledigten – kehrt wieder. Der grosse Wurf, den andere gleichsam im Vorbeigehen schafften, ist bisher ausgeblieben. »Wir hilflos steht man in der Welt, als armer Teufel gewissermassen, auf vielerlei Vorkommnisse nie und nimmer vorbereitet.«
Man hört von der grenzenlosen Begeisterung des Mannes für alles Ausgefallene, Herausragende, Echte in den Künsten, und man glaubt es dem Wrack auch. Zugleich möchte der Erzähler nicht sein eigener Ersatzvater sein. Er meint, es versäumt zu haben, seine dichterische Arbeit zu verkaufen, sein Gesicht zu Marke zu machen. Nun, da er ein halbseitig gelähmter Vollwaise ist, verpackt er Manuskripte und Notizen zu seinem eigenen Vorlass. »Alles Wissenswerte ging an mir anscheinend vorüber«.
Er schläft im Sitzen ein. Es fehlt ihm die Kraft, sich zu erheben, um weiterzuleben. Ruht der Tag erst einmal, so gibt er ihm zu verstehen, das er es ebenfalls so halten will. Erotische Bilder leuchten auf wie von weiter Ferne (die sliplose Galeristin am Bürotisch); sein Heimatland Österreich ist ihm ein politischer Alptraum. Tag für Tag das gleiche elende Bild des Nichtweiterkommens, ja mehr noch, des Alterns, des körperlichen Verfalls bei gleichzeitigem Verblassen der Lebensleistung. »Im Internet finde ich ausschliesslich falsche Einträge über mich«.
In des Buches Mitte zerkugelt sich der Erzähler über das Wort »lustzerschabt« in einem Gedicht von Albert Ehrenstein. Aber diese belustigenden Momente nehmen in der zweiten Hälfte des Buches ab. Und wieder heisst es cioranisch: »Ich brauche keine Uhr, um zu erkennen, um zur Einsicht zu gelangen, dass meine Zeit längst vorbei ist«.
Wann war denn seine goldene Zeit? Wann trug er die Krone der Mannesjahre? Die Auftritte der ›First Vienna Working Group : Motion‹ im Keller der Wiener Secssion 1970/71 werden genannt. Ein paar Joint im US-Bundestaat Philadelphia und eine Ausstellung auf Long Island. »Wie leicht das Leben doch damals war. Ungebunden, ungezwungen. Ein Rausch sondergleichen«.
Noch zählt der Mann sich zum stillvergnügten Völkchen der Lesenden. Doch in den Zeitgenossen sieht er nur noch Schemen. Wien montiert die Namenschilder von den Türen ab, wird zur »Stadt der Namenlosen«, und die von Jaschke mal in groben, mal in feinen Strichen karikierte Figur konsequenterweise mit ihr. »Mit mir ist nichts mehr anzufangen. Vieles begonnen, nichts zu Ende gebracht, einfach gar nichts abgeschlossen, nicht das Geringste beendet«.
Eines seiner beruflichen Lebensrisiken dürfte darin bestand haben, das Buch unendlich dem Buch zu öffnen, die eigenen intellektuelle Begabung auf die Literatur zu verschwenden. Das ist nicht gelungen, und in der Gegenwart scheint es dafür hoffungslos zu spät, weil die Buchkultur den Bach hinunter geht. – »Nicht einmal geschenkt will das leseunkundige Publikum Bücher haben«.
Das Vorhaben des Mannes noch kleiner, noch unsichtbarer zu werden, um durchzukommen, gelingt ihm täglich schlechter. Der Katheter ist furchtbar. Das Bett ein Sarg. »Wir sind«, lesen wir, »ein Geriesel von Verwünschungen«. Die Rede in der Rede beginnt sich zu überschlagen: Sein Alter ego, sagt der Erzähler, liefert ihm keinen Beweis mehr für seine Existenz. Was, wenn es dem Autor mit seinem Alter ego auch so ergeht wie dem Erzähler mit dem seinen, denkt man; was also, wenn der Erzähler keinen Beweis mehr für die Existenz des Autors liefert … dann wäre ja der Kreis, den dieser Text eröffnet, geschlossen.
»Der Fluch der Bücher durchzieht alles und jeden.« In der Mitte des Zimmers steht seit sieben Jahren eine Kiste mit dem Gesamtwerk eines isländischen Nobelpreisträgers und harrt darauf, geöffnet und gelesen zu werden. Der Kraftakt wird nicht mehr stattfinden.
Wenn der Protagonist in dem Buch vom guten Leben spricht, dann nur, um sich vom Wunsch nach einem postmortalen Leben frei zu machen. Immer öfter geraten ihm die Bilder im Kopf durcheinander und er redet, als wäre er schon tot. Zum Islam, sagt er zum Beispiel, will er nicht konvertieren, er könne mit den zig Jungfrauen, die der Koran im nächsten Leben verspricht, nichts anfangen. Schon eine, sagt er, wäre im zuviel.
Diesseits und Jenseits verschmelzen in diesem Wort zu einer problematischen Statusmeldung. Erkennt der armer Tropf denn nicht mehr, dass die Prophezeiung den Toten gilt? Oder zählt er sich bereits in das Reich der Schatten? Erkannt werden von diesem Subjekt nur mehr seine Niederlagen:
»Jetzt ist es eine Gewissheit, dass man vieles hätte ganz anders machen müssen. Nahezu alles wäre zu lassen gewesen, anderen hätte man sich zuwenden müssen, und das mit ganzer Kraft. Menschen hätte man mehr Gehör schenken müssen, zur rechten Zeit, heute ist es wohl zu spät«.
Man drucke dieses Mahnung bitte auf Papier aus und nagle das Blatt an die Tür des nächstgelegenen Seniorenschlössels (oder wie die finalen Wohlfühloasen der Alten gerade wieder heissen). In einer vergesslichen Welt, die ihre Dichter gar nie gekannt hat, haben die betagten Menschen 0,0 Rechte auf eine selbstzufriedene Lebensbilanz.
© Wolfgang Koch 2021
Gerhard Jaschke: Geliehene Leben. Nachsätze. 151 Seiten, Ritter Verlag 2020, ISBN-13: 9783854156147, 14.90 EUR
Foto (Ausschnitt): Literaturgefluester 2013