Die schriftstellerische Extremleistung des Robert Sommer hat ein mehrdimensionales Überbuch zur Welt gebracht, eine Privatenzyklopädie, ein All-Kompendium. Ob es sich dabei um Literatur für Fortgeschrittene, um Literatur überhaupt handelt, entscheidet sich an zwei Fragen: a) ob Sommers wilde Montage von Zitaten und Wortspielen, Aphorismen und Textexperimenten, von thematischen Aufrissen und Blödeleien technisch funktioniert, und b) ob das Werk ästhetisch gelungene Sätze enthält, das heisst solche, die sich aufgrund ihrer Formulierung ins Hirn schrauben und die Sehnsucht der Leserschaft in die Sphären beflügelter Geschicke lenken.
Die Antwort ist: Sommers erzählerischen Mittel sind bewusst beschränkt. Seine Texte sind nicht in der Sprache des Tauwindes geschrieben, sondern in der des Feuilletonjournalismus. Zum Kalauer neigend, laufen im ›Blend Werk‹ keine Taubenfüsse über das Papier. Das Textchaos kennzeichnet manchmal etwas Kurioses, aber auch die Entspanntheit eines Altersstils, der für umständliche Herleitungen keine Geduld mehr hat.
Stösst man den moralischen Eifer des Erzählers beiseite und streift die gefallsüchtige Vielwortigkeit seiner Zunge ab, übergeht man die vielen Wiederholungen und ignoriert man eine genaue Prüfung der Urheberschaft, bleibt in diesem Werk eine Reihe von wundersamen Sentenzen übrig, deren literarische Qualität oft als Parodie und Selbstparodie hervortritt. Schenkelklatscher hat er gezimmert, dieser Autor, Spontisprüche für gottverlassene Stunden, aber auch sanfte Perlen hat er gehoben aus des Meeres grüner Nacht:
BIOGRAPHISCHES UND GESCHICHTE
Jeder von uns hat seinen ganz eigenen Urknall.
Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.
Die Wahl eines Fussballvereins bedeutet, sich durch eigenes Zutun erstmalig einem Namen zu unterwerfen, sich einer sprachlichen Ordnung anzuschliessen und sich unbewusst mit einem Liebesobjekt zu identifizieren.
Wer seine Biographie verfälscht, bekundet bloss seine Wünsche.
Die Möwen sind grossartig und haben einen aus Unarten zusammengesetzten Charakter, wenn man von der kollektiven Eleganz der Kreise absieht, die sie über den Hafen ziehen.
Der Schlaf ist biologisch nützlich, aber ökonomisch sinnlos.
Die Schönheit des schlafenden Mannes ist in jeder Sprache schwer zu beschreiben.
Man sieht einem Indianer nicht den Ironiegehalt einer Aussage an.
Eine Meinung beginnt mich zu stören, sobald ich einen Vorteil davon habe.
Das sind meine Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht passen, hab ich noch andere.
Ich glaube, dass Wasser das einzige Getränk für einen vernünftigen Menschen ist.
Blut und Bier, die wichtigsten Gewässer des Körpers …
Der Bierbauch kommt von vielem, nur nicht vom Bier.
Dem Wein bekommt am besten, wenn man über ihn redet.
Mannerschnitten/ enthalten zu Phil-Zucker/ Die viel Harmoniker/ fressen sie schwedenbombenweise.
Ich werde so lange Schaumrollen in der U-Bahn essen, bis ein Security-Typ mich anfleht, ihm so eine Blätterteig-Mehlspeise ins Antlitz zu drücken.
Nichttätowierte begreifen nicht, wie tief die Wurzeln der Tätowierung in uns hineinreichen.
Wie starr der Blick alter Menschen ist – als ob sie zuviel gesehen hätten.
Als ich in den Brennesselstauden/ meine Leiche fand/ fiel mir leider nicht ein/ wie lange ich zu trauen habe.
Die meisten Arten sind ausgestorben. Soo intelligent war der Schöpfer anscheinend nicht.
Gott, der in der Schwerelosigkeit des Himmels längst Entmuskelte …
Kein Mensch, nicht einmal er Oberpielachtaler Schamane, hat je einen Schas aus dem Körper des Dinosauriers gerochen.
Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Grad eben noch lebte König Salomon, und nun sind schon 3000 Jahre vergangen.
Wieviele Ritter haben samt ihren Panzerungen über kleine Bächlein springen wollen und sind infolge forcierter Gravitation im Wasser gelandet?
1913 dominierte in der Gesellschaft ein Nein zum Krieg.
1933 war 1931 unvorstellbar.
Die Rote Armee besiegte den Faschismus ohne Kalaschnikow.
1989 stellte die westdeutsche Linke der ostdeutschen Reformbewegung keine Bewegung für Sozialismus in Deutschland zur Seite.
Immer noch verlassen die Werksbäche die Traisen, aber sie finden ihre Fabriken nicht mehr.
Die Menschen gehen, die Wolfsrudel kommen, und wenn es in zehn Jahren noch Gemeinden gibt, werden sie alle Wolfsberg heissen.
REVOLUTIONÄRE POLITIK MACHEN
Revolutionäre Politik machen ist wie Olivenbäume pflanzen.
Die Unterprivilegierten haben etwas Unsympathisches: ihr politisches Bewusstsein.
Die schönste Zeit ist jene, wo die eine Macht nicht mehr und die andere noch nicht da ist.
Die ideale Revolutionärin raucht oder raucht nicht.
Die Schule ist Angstmacherin Nr. 1; Beschämungspädagogik gilt als beste Vorbereitung auf das Leben.
Ein guter Frühling braucht auch ein paar Gefängnisausbrüche.
Die Revolution wird aus dem Süden kommen, gehen wir ihr entgegen.
Ginge morgen die Welt unter, würde ich heute noch ein Polizeiauto anzünden.
Nach der Lösung der Klassenfrage werden sich die KommunistInnen der Lösung des Welträtsels widmen, was für sie als Anhänger der Erkennbarkeit der Welt von geringer Anstrengung sein wird.
Unsere Katholiken glauben paradoxerweise, dass der Islam eine Reform braucht. Was eigentlich braucht keine Reform?
Vielleicht hätte die DDR von innen her emanzipiert werden können.
Wird das Verbot der ländlichen Sparvereine in den Wirtshäusern durch die Bankenaufsichtsbehörde endlich die Revolution auslösen? Nein. Bloss ein Wirtshaussterben.
Kann man den Sozialismus in einem Land aufbauen? Ja, aber leben muss man in einem anderen.
Neben dem Vulgärmarxismus vermittelt nur noch die Autoindustrie den Glauben an den linearen gesellschaftlichen Fortschritt.
Der Himmel ist die bisher besten Utopie.
Keine Lüge ist grösser als die Reisefreiheit.
Der Tourismus zerstört das, was er sucht, indem er es findet.
Alle Ameisen zusammen auf dieser Welt haben dasselbe Gewicht wie alle Menschen zusammen.
Nicht nur die Verehrung der Deutschen Eiche ist entbehrlich, sondern auch die Idyllisierung des Baobab-Baumes auf Madagaskar.
Nicht das esoterische Umarmen der Bäume, sondern das konkrete Agieren in den Baumkronen festigt das revolutionäre Mensch-Natur-Verhältnis.
Die Windenergie ist nur erträglich, wenn sie Commons ist.
KUNST UND REVOLUTION
Apolitizität und Anarchie heissen die beiden Freunde, wenn es um die Avantgarde geht.
Wie kann es sein, dass sich Millionäre und herumstreunende Anarchisten gleichermassen für Dada interessieren?
Wär‘ dein Leben ein Film – würdest du ihn dir anschauen?
Unter den Menschen sind nur die Kleinbürger zur Sprezzatura fähig.
Das Verstecken verachten und viel verstecken müssen, das ist die Crux des Kleinbürgertums.
Kein Künstler ist von allen Seiten überzeugend. Entweder ist er zu wenig Clown, oder zu wenig Magier, oder zu wenig Seher, oder zu wenig Rebell.
Es ist der Schmäh, der die Gesellschaft zusammenhält, der Humua, und nicht die lange Nacht der Museen.
Hermann Nitsch hat noch nie in seinem Leben einen Peter-Rosegger-Preis gekommen. Verdient hätte er mindestens vier.
Wenn wir demnächst alle im Knast landen, weil wir illegal Musik downgeloadet haben, sollen sie uns wenigstens nach Genres getrennt einsperren.
Bücher und Fussball garantieren einen gelungenen Rentnertag.
Was braucht ein Gedicht?/ Ein Wort, das reimt, mehr nicht.
Die Autobiographie ist die verlogenste literarische Gattung.
Es ist das Recht des Lesenden, Schlüsse aus dem Text zu ziehen, von denen der Text nichts weiss.
Die These, grosse Ideen in einem literarischen Werk seien nichts als Gewäsch, ist eine grosse Idee.
Wörter wie Welt- und Naturreligion sind eurozentisch, Herrensprache.
Das deutsche Wort für Uppsala heisst Hoppsala.
Die Hälfte der BewohnerInnen Melks sind Melkerinnen, aber man sieht nichts vom Milchüberschuss.
DU DEPP sagt sich leichter als SIE DEPP.
Ab einer Höhe von ca. 1000 Metern über dem Meeresspiegel muss das Siezen dem Duzen und Geduztwerden weichen.
HEIMAT, PATRIOTISMUS, REUMANNPLATZ
Kurt Tucholsky hat schon 1929 geahnt, dass die Rechten in Krisenzeiten unter anderem deshalb gewinnen, weil ihr die Linke das Lob der Heimat überlässt.
Die Heimat besteht aus schönen Bergen, guter Küche und verstorbenen Musikern.
Heimat ist, wo ich mir jederzeit und überall binnen zehn Minuten einen gerade gewachsenen Haselnussstecken machen kann und wo ich zumindest eine Stelle weiss, wo der Holler wächst, der für zehn Marmeladegläser reicht.
Die Schweizer Nationalhymne hört sich an wie eine Kreuzung aus Kirchenlied und Wetterbericht.
Der Nationalismus ist eine lebensbedrohende Krankheit und der Patriotismus nur dessen folkloristische Gestalt.
Unverkrampfter Patriotismus ist wie frisch gepresster Mamor.
Österreichischerseits schafft die Landschaft selbst jene Punkte, von denen aus sie sich gerne zur Schau stellt.
Für Österreich würde ich nicht in den Krieg ziehen, nicht einmal, wenn ich sicher wüsste, dass wir ihn verlieren.
Zwischen Eggersham und Eggerding steht ein Bierzelt so gross wie ein Bierzelt.
Höhepunkt des Bierzeltprogramms ist das Halleluja, bei dem die Barmherzigkeit von Hans Peter Haselsteiner gelobt wird.
Man merkt es, dass in Sauerbrunn seit vielen Generationen ziemlich viele Menschen sehr gut geschlafen haben.
In Sauerbrunn liest man dicke Bücher bis zur letzten Seite.
Der Wiener leidet an der Sehnsucht nach dem Bauernhof, aus dem er letztendlich stammt, und kompensiert dieses Leiden durch die Liebe zu den 3 Wiener Höfen: Steinhof, Zentralfriedhof, Karl-Marx-Hof.
Der Wiener liebt den mit Handymasten durchzogenen Wienerwald.
War net Wien, wann net durt, wo ka Gfrett ist, ans wurdt.
Ist euch aufgefallen, dass Berlin eine Stadt ohne Gassen ist?
Eine gute Stadt ist eine, in der man mit wenig Geld gut leben kann.
Um einen städtischen Platz zu begreifen, muss man ihn aus allen vier Himmelrichtungen betreten.
Welche Geräusche lieben die Männer der Stadt, ohne es zuzugeben? Das Klacklacklack der Stöckelschuhe.
Ein Mann, der die Bestellung »Ein Frauenzimmer, bitte« aufgab, befand sich plötzlich in einem Zimmer, das im Inneren der Frau aufgebaut war.
Das ursprüngliche Symbol der Niederlage der Frau ist nicht der Schleier, sondern der freie Hals. In der Tierwelt bietet er die Kehle zur Anerkennung der Überlegenheit des Stärkeren an.
Pfadfinder müssen jeden Tag ein gutes Werk tun oder barfuss über ein Heer von Nacktschnecken schreiten.
© Wolfgang Koch 2021
Robert Sommer: Ich komme aus der Herz Gegend Meine Mutter Sprache ist das Herz Klopfen. Ein Blend Werk. 833 Seiten, mit Collagen aus den Pickbüchern des Autors, Wien: Selbstverlag 2021. Bestellungen: blendwerk-sommer@gmx.at, € 25,00 + 6,50 Versand.
Abbildungen: Collagen in Mischtechnik aus Robert Sommers Pickbüchern, 2021