vonWolfgang Koch 30.12.2021

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Ich liebe verrückte Bücher, die nicht als zu Lesefutter verschweisste Textware zum Gebrauch aufliegen, Bücher, die kein Bildungsstoff oder Ratgeber für irgendwelche Lebenslagen sind, sondern etwas anderes: Narratorium, literarische Schrulle, Satzschrottplatz, ein Splitter von der Unsterblichkeit der Seele, Privatjournal, Hobbybastelei oder Flaschenpost für die Freunde.

Ich mag riskante schriftstellerische Unternehmungen, die auf die Wokeness pfeifen, die von den Universitäten in die Verlage getragen wird. Robert Sommer wirft ein Konvolut vor uns hin, das sich allen traditionellen Genrezuschreibungen widersetzt. Dieser lebenserfahrene Autor gestattet sich ungefragt das Recht auf Schreiben und auf Argumente. Herausgekommen ist dabei das ungewöhnlichste aller Wienbücher der Gegenwart, eine kaum verdauliche Totalschrift, ein Ärgernis, das nur in Samisdatform erscheinen kann, weil der Autor die absolute Kontrolle über die Text- und Bildmasse in der Hand behalten wollte.

Wir werden in diesem ›Blend Werk‹ hineingerissen in einen Strudel des politischen Engagements, der Perestroika, des Antiquaritas-Anarchismus, der Mundartgedichte, der Reisenotate, der Lektürefrüchte, der Selbstermächtigung der Gestauchelten, in das Heulen der Bettlerlobby und in die elende Mediokrität der Linksalternativen. Und so bunt wie es thematisch zugeht, gerät auch das Feuerwerk an Textformen und Stilversuchen.

Ist das überhaupt noch ein Text-Bild-Band, könnte man fragen, oder schon eine Medienparodie, die in den Intertext hineinwuchert? – Manchmal glaubt man die Antwort direkt vor den Augen zu haben, das Skelett einer Autobiographie oder dieses Zwänglerische des An-die-Grenze-Gehens beim Schreiben. Dann wieder macht einen das Buch ratlos wie ein plötzlich vernommener Pulsschlag.

Möglicherweise ist dies gerade das Kunststück: dass der wirkliche Herr Sommer in seinem Werk wie Gott im Weltall ist, überall anwesend und nirgends sichtbar, selbst dort, wo sich der fiktive Herr Sommer penetrant vor das Publikum hindrängt. Man denkt an Flauberts satirisches Spätwerk von 1874, und dass der Wiener Autor ›Bouvard et Pécuchet‹ hier zu einer Person zusammendrängt, der er auch noch seine eigene Identität verleiht. Aber adrett und logisch wird das ›Blend Werk‹ immer nur für ein paar Sätze, dann geraten die Seiten wieder zu versinnbildlichten Leerstellen, in die wir Leser*innen schneeflockengleich fallen dürfen, bevor wir beim Umblättern dahinschmelzen.

Der 833-Seiten-Ziegel besteht aus vier Teilen. Auf den ersten dreissig Seiten japsen die Sätze wie tolle Hunde durchs Schneegestöber. Im zweiten Teil, bis den Illustrationen, beruhigt sich das Auf- und Abwogen der Zitate, Ideen und Listen. Was Gesagt wird, pendelt sich in der Bipolarität von zwei Themen pro Doppelseite ein. Im dritten Textteil, nach den wenig hilfreichen Faksimiles aus Sommers Pickbüchern, zieht ein journalistischer Erzählton im Buch ein, immer wieder unterbrochen von Parodien, längere Fund- und Experimentaltexten. Der Protagonist wird mit biographischen Daten angereichert, die Textmasse insgesamt konventioneller.

Aber statt von Erzählen sollte man eher von einem erzählerischen Unwollen reden. Der Autors bleibt an einer logischen Auflösung der Aporien ebenso desinteressiert wie an der Genauigkeit von Schilderungen, und das lässt eine Schwächen dieser Textmasse deutlich hervortreten. Wenn Sommer etwa die Obdachlosenbrüder und -schwestern der Augustin-Verkäufer portraitiert, so bleiben diese höchst originellen Menschen doch papierne Charaktere ohne Gesicht, ohne Gestalt, ohne Kleidung, ohne Geruch. Alle Personen werden auf Namen und Anekdoten reduziert.

Einer der besten Texte des Bandes stammt nicht von Sommer, sondern aus der 1908 verfassten Chronik von Tattendorf in Niederösterreich. In dieser Geschichte treten Gestalten mit wenigen Worten plastisch vor uns hin, fernab der stilisierten Pappkameraden von Sommer. Plötzlich steht der Rest des ›Blend Werks‹ komplett entzaubert da. Der magisch-schöne Fremdtext degradiert den Nonstop-Flug Sommers zu einem Übungsakt für Schreibwütige.

Sommer hat mit verführerischer Sprachgewalt wenig am Hut, er mag uns nicht den unfasslichen Reiz eines Klanges geben, den flüchtigen Schein einer Silbe, den fliehenden Schatten eines Wortes, den silbernen Klang einer Wendung. Wohl taucht der flutende Duft blühender Sätze in Zitaten auf, häufig in solchen der im Juni 2021 verstorbenen Friederike Mayröcker. Auch der Fieberschaum gleitender Rhythmen von Marianne Fritz Ihre Sätze folgen weder den Regeln noch den Unregeln«) rinnt vorüber. Heiner Müller, in dem Sommer immer noch einen Protagonisten der Revolte für »eine wirkliche DDR« sieht, komplettiert diese heilige Trinität der erklärten Vorbilder, und zwar samt seiner gruseligen Stalin-Hymne.

Auch Robert Walser, James Joyce und Elfriede Jelinek glühen in Zitaten auf, Mundart-Autoren aus der dritten und vierten Reihe, lautmalende Obdachlose, … Sommer urasst mit den im Buchhandel kanonisierten Autor*innen und mit einer Vielzahl von Schreiberlingen, die kaum wer kennt. Er bewundert den Ungarn Peter Esterhazy als den genialsten Verwerter von Fremdtexten. Und er bewundert den ›Grabspruch‹ des dichtenden Psychatriepatienten Ernst Kostal (1944-2013): »auch ich war da/ und sage ja/ zu meinem Dagewesensein:/ mehr ja als nein.«

Sommer kennt unfassbar viel Gedrucktes. An den wichtigsten österreichischen Literaturgrössen der jüngeren und der jüngsten Epochen aber (Aichinger, Cotten, Doderer, Haushofer, Hoffmannsthal, Holzer, Jonke, Obernosterer, Priessnitz, J. Roth, Timber-Trattnig, Zier) schreitet das zitierwütige Mammutwerk verlässlich vorbei. Immer wieder blendet uns das Alter Ego des Autors. Mal als Bildungskanone, die mit Blindmunition in einem Potemkinschen Dorf herumballert; mal als roter Grossvater ohne Enkel; mal als Liebhaber der spanischen Sprache im Katalonien der stalinistischen Genickschüsse.

Sommer ist weder ein antiautoritärer Uhrmacher der Jura-Förderation (das wäre er gerne) noch ein Barfuss-Querdenker (solche hat er zu Freunden), sondern ein Menschen- und Freiheitsrechtler im Modus der typisch Wienerischen Dauerempörung. Der Sommer des Buches ist ein libertärer Luftfahrtpionier, der im Revoluzzertum seiner Jugend stecken geblieben ist. Der Autor stellt sich im Werk bloss, stellt sich kaltsinnig als einen hin, der den Sozialismus und sich selbst als Kleinstveranstalter parodiert.

Das ist nicht irrsinnig komisch, aber lustig ist es doch. Und natürlich kann ein vom Sammeln und von Anspielungen besessener Autor, der so souverän mit dem Bild von sich selbst verfährt, kein Freund von Schreibwerkstätten sein. Sommers Untergrundmentalität setzt auf die kompromisslose Radikalität des Schreibens. »Das Schreiben muss etwas Seltenes bleiben, mindestens so selten wie eine abgeschrägte Gehsteigkante auf der unsichtbaren chinesischen Seite des Mondes, da man lange getrunken haben muss, bis einem etwas wirklich Hervorragendes gelungen ist«.

Na, sowas! Kann etwas Seltenes wirklich zu 833 dicht beschriebenen Seiten führen? Müssen hier nicht andere Kräfte im Spiel sein: eine Erbitterung oder ein Gefühl erlittenen Unrechts zum Beispiel? Da Authentizität nicht behauptet und jede Selbsteinschätzung systematisch anfechtbar gemacht wird, ist schlechterdings jede Interpretation möglich.

Das ästhetische Ideal des ›Blend Werks‹ dürfte der Textteppich ohne Höhepunkt im Sinn der Narration sein. Literatur soll sich hauptsächlich aus der Literatur anderer speisen und nur nebensächlich aus dem eigenen Erleben des Autors kommen. Denn der Autor/ die Autorin verkörpert sich nach Sommers Verständnis automatisch in verstreuter Form. Wie Alfred Döblin sieht Sommer in der Technik der Montage die Möglichkeit, möglichst weit hinter sein Werk zurückzutreten und mit einer Kombination von Aufzählungen den Eindruck von Geschwindigkeit und Bewegung zu vermitteln.

Mangelnde Werkgeschicklichkeit macht das Buch mit einem Ozean aus Schwulst wett. Das Erzähl-Ich schwärmt vom Adrenalinrausch beim Baufällen, von Mischsprachen im österreichisch-tschechischen Grenzgebiet, von der melancholischen Seele Unterkärntens, von Sommers Freundin Riki, und von tausenden Erscheinungen des öffentlichen Leben und der Privatangelegenheiten.

Auf diese Weise erzeugt das Konzept des Erzählens in Fragmenten das dynamisches Bild einer linksradikalen Männerexistenz im Tauwetter des Kalten Krieges und in den Millenniumsjahren; auf diese Weise fängt der Riesenpfannkuchen ein halbes Jahrhundert ausser Atem ein. Aus versprengten Teilen schafft Sommer ein Sprachkunstwerk, in dem die Partikel und Komponenten nebeneinander geklebt werden wie die Zeitungsschnipsel seiner Pickcollagen.

Der Textteppich bildet eine assoziative Verknüpfung der unterschiedlichen Handlungs- und Bewusstseinsebenen. Wird es schwierig, eine Balance zwischen Sätzen zu halten, pfeift Sommer auf die Symmetrie-Frage, auf alles Kompositionsprinzipien überhaupt. Da für ihn nichts so ohne weiteres durcharbeitbar ist und er nicht erwartet, neue Formen zu bislang vorhandenen Ausdrucksweisen zu finden, wuchert der Rückblick in der Assoziationswiese. Am Ende stehen wir vor einem gewaltigen Canyon zwischen politischer Intention und künstlerischer Artikulation.

Sommers ›Blend Werk« wird zu dem Hohlraum einer versinkenden Welt, in der es einem einzelnen unertäglich ist, ertragen zu werden, und dieser Hohlraum wird zu einem Mischort namens Wien-Brigittenau und Wien-Favoriten, erfüllt mit den Funken und Überschneidungen einer Dissidenz – wird eine Form auch, sich aus Betroffenheit der linken Werte der Lese-Generation der 1970er-Jahren zu vergewissern.

Welcher Werte? Nun, zuoberst der Bildung, wie sie etwa ein Rudolf Virchow verstanden hat: »Das Hauptmittel der Demokratie ist die Bildung«, kritzelte der Arzt seiner Zeit auf den Rezeptblock. Sommer unterschreibt das, aber es passieren ihm in seinem Wissenseifer auch arge Schnitzer. Pier Paolo Pasolinis Phrase »scomparsa delle lucciole« zum Beispiel hält Sommer für »eine Metapher der Zerstörung der Natur durch das Profit-Prinzip«, wo doch das Absterben der Glühwürmchen für den Verlust der Werte und das Verschwinden einer archaischen Vorstellungswelt stolzer Armut steht. So heult ein Sozialromantiker am anderen vorbei den Mond an.

Oder Sommer steckt seine Nase naiv in die Libertinage. Bei sadomasochistischen Sexualpraktiken geht es nach ihm nicht um ein machterotisches Spiel von Paraphilen mit Herrschaft und freiwilliger Unterwerfung, sondern darum »die Schmerzen zu finden, die schon in uns drin sind«. Das hätte ein Dom im S/M-Arrangement seinem Sub auch nicht schlaglustvoller zurufen können.

Der Erkläreifer von Sommers Erzähler ist nicht zu bremsen. Er diskutiert die Unterschiede zwischen Papierfaltern, Papierzerknüllern und Papierwicklern bei der Körperreinigung auf der Toilette. Er fragt sich, mit welchen Armenlängen japanische Sumo-Ringer ihren Arsch sauber wischen. Grossartig, wie er das kollektive Schweigen der Strassenbahnpassagiere in Wien beschreibt; wie er die Sitte der Wiener Doppelbegrüssung (»Seawas, Griasdi!«) aufs Korn nimmt; prächtig, wie Sommer sich über die Hausschlapfenpflicht in Schulen auslässt; oder wie er den Kult der Liebesschlösser an den Brückengeländern als »Massenprotest gegen die Werte der 68er-Bewegung« interpretiert.

Wofür Wien diesem Subkultur-Autor nicht genug danken kann, das ist, dass er den Radikalismus der Elite-Kultur als das benennt, was er ist: ein Extremismus des Kulturgeschehens, in dem sich die Grossabschöpfer und Millionenverdiener bei Festspielen, in der Staatsoper und in den Bundesmuseen als bürgerliche Leistungsträger verkleiden, als ob von Böhm über Karajan, Hauessermann, Schenk, Brandauer und Netrebko je irgendeine weltbewegende künstlerische Innovation ausgegangen wäre.

Kommunalpolitisch träumt Sommer von einer rot-rot-schwarz-grünen Stadtregierung für Wien (länger als ein Säkulum regiert hier die Sozialdemokratie, derzeit in einer Koalition mit pinkfarbenen Liberalen). In Sachen Israel hält er der Wiener Autor mit dem Punkkünstler und Postzionisten Avi Pitchon, der ausgerechnet die Distanz zum Staat Israel zur Definition des Jüdischseins macht, während der israelische Geheimdienst angeblich die Linke in der ganzen Welt mit der Ideologie der Israelsolidarität spaltet.

Sommer sieht im Kleinbürgertum die eigentliche experimentelle Klasse. Er beklagt den Verlust der Bahnhofsrestaurationen, dem Zufluchtsort der Aussenseiter. Von Pasolini holt er sich den Freibrief, sich selbst zu widersprechen, und auch das tut er ausgiebig. So wendet er ich auf Seite 513 »gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe« und behauptet gleich im nächsten Atemzug Provokation sei eine »Aufgabe der kritischen Kunst«.

Im Allgemeinen sieht Sommer in Kunst »ein Gleitmittel gegen die Disziplinierungsversuche«. Der Staat, beklagt er, trete heute nicht mehr Künstler*innen, sondern exkludierten sozialen und militanten politischen Gruppen »als Polizeistaat« gegenüber. Doch Randgruppen und Kreative dürften sich nicht auseinander dividieren lassen. Es gibt für den Erzähler zwei Professionen, die garantiert lügen, wenn sie den Mund aufmachen: die Politiker- und die Historiker*innen. Unter Revolte versteht der Erzähler das Hinstreben zur Freiheit, vergleichbar den Grammelknödeln, die im siedenden Wassertopf zu Oberfläche aufsteigen.

Der Staat sei »die grösste Glückvermeidungsmaschine«, Polizisten nennt Sommer »zweifüssige, gepanzerte Strafroboter mit schussicherem Männerbusenhalter«. Apropos Roboter. Humanoide Roboter werden, so unser Fantast, schon die zweite Generation ihrer Schöpfer zum Wahnsinn treiben.

Am stärksten kommen Sommers anarchistisches Wertsystem wohl in seinem Geschichtsbild zum Ausdruck. Athen, die Wiege der Demokratie, und Rom lässt er als »hochmilitarisierte Gesellschaften« gleich mal beiseite. Er hält den Anfang des 15. Jahrhunderts für die spannendste Zeit in Europa. »Unter allen relevanten Momenten der Geschichte fasziniert mich am meisten die Erfindung Amerikas und die Selbstauflösung der betroffenen Bevölkerungen gegenüber ihren Erfindern.«

Zum spannendsten Datum der Geschichte überhaupt erklärt er das Jahr 1911 (politische Umstürze in Mexiko und Portugal, der Dada-Krach in Zürich). Als »seltsamster Krieg« innerhalb des Ersten Weltkriegs, ein Papierkrieg, wird die Konfrontation USA gegen Österreich-Ungarn ausgelobt. Und 1918 haben die Wiener Sozialdemokraten, so Sommer, ihre aus dem Krieg mit nach Hause gebrachten Waffen fälschlich gegen die »russischen Klassengenossen« eingesetzt (Seite 270).

Im Juli-Aufstand 1927 am Wiener Ring erkennt Sommer einen Sieg der Spontaneität, weder die Sozialdemokraten noch die Kommunisten hätten in der Menge etwas zu melden gehabt. Dem Schutzbundführer Koloman Wallisch gebührt der Titel der tragischste Figur der österreichischen Arbeiterbewegung. Und das Jahr 1937 – mit dem Zögern des Westens gegenüber Hitler – sollte am besten wiederholt werden.

Ich komme zu den negativen Kräften. Die drei grossen Verderber der Menschheit: Laotse, Paulus, Hegel. Moralisch böse und politisch verderblich für Sommer sind natürlich die Nation und der Nationalstaat – Begriffe, von deren sozialgeschichtlicher Wirkungskraft er sich nicht die geringste Vorstellung macht. »Der Nationalismus ist eine lebensbedrohende Krankheit und der Patriotismus nur dessen folkloristische Gestalt«, lesen wir. Am Nationalbewusstsein der Östereicher*innen tragen einfach Schule und ORF die Hauptschuld. Und weil der Autor dieser Quersicht im Christentum den »Sinn Österreichs« sieht, ist dann auch klar, wie er über das nächste Menschheitsunglück urteilt.

Sommer ist erklärter Atheist und Abolutionist, er träumt unbeirrbar von der gefängnislosen Gesellschaft und der Abschaffung des Strafrechts, als wären diese Illusionen der Linksradikalen nicht durch endlose Ketten von Genoziden und Gewalttätigkeiten in aller Welt hundertfach abgestraft worden. Nichts! Sommer bleibt Wühler und Revolluzer vor zwei Handvoll Altersgenossen. Päpste nennt er »verludertes Pack«. Evangelische oder Devote Atheisten stellen für ihn das Verbindungsglied zwischen dem katholischen und dem marxistischen Geist dar.

Für eine besonders widerliche historische Figur hält Sommer den militanten Sozialdemokraten Friedrich Adler, der in den Umsturztagen nach dem Ersten Weltkrieg die Einheit der Partei erhalten und damit den Einzug der Linksradikalen als eigene Fraktion ins Parlament verhindert hat.

Nun sind vom Parlamentarismus begeisterte Libertäre und Herrschaftsfreie politisch ein ziemliches Kuriosum. Aber ein glaubwürdiger Anarchist wird Sommer sowieso nicht. Der ukrainische Schwarzarmist Nestor Machno und seine Machnowschtschina bleiben ihm ebenso ein Rätsel wie die Wobblies in der USA oder der Freistaat Christiania in Kopenhagen. Den Holodomor, die genozidale Hungerpolitik Stalins zur Russizifierung der ukrainischen Bauern Anfang der 1930er-Jahre, erklärt Sommer auf Seite 209 zu einem böses Gerücht.

Also alles nur Attitüde am Misthaufen der Geschichte? Antivolksgeist? Radikale Maskerade und Possentum? Sagen wir: eine linksradikale Gewürzmischung, Nostalgie und falsche historische Aneignung. Sommer erinnert an den Austroanarchisten Herbert Müller-Guttenbrunn (1887-1945), einen Karl-Kraus-Bewunderer, der die Zeitschrift Das Nebenhorn heraus gab. Und er zeichnet Mails gelegentlich mit dem Nickname des einzigen österreichischen Anarchisten von internationalem Rang, Pierre Ramus (der bürgerlich Rudolf Grossmann hiess, aber ein Tolstoianer und Voluntarist war, der seine antimilitaristische, autoritätsfeindliche Agitation für Mutterrecht, Kriegsdienstverweigerung und Vasektomie tatsächlich »Anarcho-Kommunismus« nannte).

Was die Zeitgeschichte betrifft, gerät jeder Gedanke Sommers ins Extrem. Der Erzähler beklagt die »Zerstücklung Jugoslawiens durch die Grünen« und geisselt das 2010 mit den Stimmen der Grünen beschlossene staatliche Bankenrettung 2008 durch Kapitalschulden als »ein Verbrechen gegen die nächste Generation«. In der internationalen Finanzkrise ging es in Österreich um zehn bis elf Milliarden Euro. Wie will Sommer denn nach dieser Superlative die um ein Vielfaches höhen Corona-Hilfsmilliarden der letzten beiden Jahre nennen? Das »Genozidpaket im Bruttoschuldenstand«, oder was?

Gewalt ist bekanntlich die zentrale Frage der Revolten, und zur Gewaltfrage gibt es in dem Mammutblendwerk nur Verstörendes zu lesen. Geistig lebt Sommer immer noch mit einem Fuss in der Sowjetischen Besatzungszone, mit dem anderen im Aktionistenkeller und mit einem dritten im Deutschen Herbst 1977. Er beklagt die Entsolidarisierung der linken Akademiker mit der RAF in den 1980er-Jahren (Seite 826) und lobt die »überlegene Intellektualität« von RAF-Positionspapieren aus dem bewaffneten Untergrundkampf in Westdeutschland.

Jahrzehntelang hat dieser Terrorsympathisant offenbar geschwiegen und sich nur klammheimlich über die Opfer der Anschläge gefreut. Heute, ergreist und die eigene biologische Zerbrechlichkeit vor Augen, mag er die Stadtguerilla-Taktik bewaffneter Linksradikaler in den Millionenstädten Europas nicht mehr »in die Schublade der Provokationen des Staates stecken«.

Der Kommunismus habe Ulrike Meinhof »richtig Spass gemacht«. Auch die kriminelle Gewalttäterin Gudrun Esslin nennt Sommer bedenkenlos eine »Guerilla«. Exekutionen verharmlost er zu einer »Folklore der Befreiungsbewegungen« (Seite 514). »Die Brigate Rose zog mit der Symbolfigur Aldo Moro nicht den Falschen aus dem Rennen, sondern genau den richtigen« (Seite 357).

Die RAF ist in Sommers Erinnerungen nicht durch die Rasterfahnung zerstört worden (was niemand behauptet hat), sondern durch freiwillige Selbstauflösung. Man hätte, lässt Sommer sein Double auf Seite 705 bedauernd sagen, mit dem Lösegeld aus der Entführung des Textilindustriellen Walter Michael Palmers das Wiener Obdachlosenblatt bereits ein gutes Jahrzehnt früher gründen können.

Näher an der Gegenwart verteidigt Sommer die Zerstörungen durch Gegner*innen des G20-Gipfels in Deutschland im Sommer 2017. Strassenschlachten und brennende Barrikaden durch vermummte Autonome in Hamburg kosteten die deutsche Steuerzahler*in 72,2 Millionen Euro – in Sommers alternativer Normsetzung aber enthielt dieser Riot »das unverzichtbare Moment des Nichtverhandelbaren«.

Das eigentlich Tragische an dem Werk ist aber nicht der vollmundigen Erzähler, sondern dass es dem Autor nie gelingt, sein literarisches Talent dem Wissensstand dieses Linksradikalen entsprechend zur Geltung zu bringen. Er wettert gegen die kommerzielle Umgarnung der Literatur, besonders gegen konzernbeauftragte Lyrik, und macht die Rebellion zum alleinigen Kriterium lesenswerter Texte. Dabei hinkt das Schreiben ständig jenem alleinseligmachenden Duft des Umrührens und Provozierens hinterher, die Spiegelgestalt des Autors gleitet ab in eine regressive Subkultur und paart sich mit der resignierenden Abneigung jener, die nicht begreifen und verstehen können.

Am Ende ringt Sommers Linksradikaler flehentlich um fundamentaloppositionelle Angrenzungen. Als der »führende Salonfaschist Martin Semlitsch alias Martin Lichtmesz«, belesener Mitstreiter von Götz Kubitschecks rechtsextremer ›Sezession im Netz‹, in den Fussnoten eines im Perinetkeller gastierenden Wiener Autors auftaucht, ist beim Kellerkollektiv Feuer am Dach. Wie soll sich das Häufchen von Avantgarde-Nostalgiker, die von den Bolschewiki garantiert als »mindermutige Rotarmisten« exekutiert worden wären, von den konservativ-subversiven Intellektuellen in Schnellroda abgrenzen? Stimmen denn deren Interesse am »Heimatlichen«, an der Bildung, am Freidenken, an der Staatsgegnerschaft und am unversöhnlichen Hass auf die Eliten nicht überein? Sind sich der anarchoide Kunstkommunismus und die hypostasierte Konservative Revolution einander nicht zum Verwechseln ähnlich: Kultur als Politikersatz, Glaube an die verschworene Gemeinschaft, Verbitterung über den Digitalisierungsdruck, Dazugehören durch Schreiben und Lesen?

© Wolfgang Koch 2021

Robert Sommer: Ich komme aus der Herz Gegend Meine Mutter Sprache ist das Herz Klopfen. Ein Blend Werk. 833 Seiten, mit Collagen aus den Pickbüchern des Autors, Wien: Selbstverlag 2021. Bestellungen: blendwerk-sommer@gmx.at, € 25,00 + 6,50 Versand.

Foto: Robert Sommer, © Mario Lang 2005

Abbildung: Collage in Mischtechnik aus Robert Sommers Pickbüchern, 2021 (Ausschnitt)

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