vonWolfgang Koch 07.06.2024

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

Die Bevölkerung der 27 Mitgliedsstaaten ist aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Doch obwohl ein gemeinsames Parlament gewählt wird, können nur nationale Listen angekreuzt werden. Im Europarecht gibt es – was ein demokratischer Skandal ist! noch keine Möglichkeit, eine Partei länderübergreifend zu registrieren. Das historisch antiquierte Wahlverfahren gestattet weder länderübergreifende Kandidaturen, noch erlaubt es mein Voting für eine Liste aus einem anderen EU-Staat.

Was nützt uns die Vielfalt von gleich 24 als offiziell anerkannten Amtssprachen in der Union, wenn das Repräsentationsversprechen der parlamentarischen Demokratie nicht eingelöst wird? In Österreich sind rund 70 Prozent der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt, knapp 6,4 Millionen Menschen dürfen über die österreichischen Abgeordneten im EU-Parlament abstimmen. Ich kann aber beim besten Willen keine wählbare Position auf dem nationalen Stimmzettel finden.

Trauriges Österreich

Das beginnt schon bei der Auswahl der Spitzenkandidaten. Die Listen haben ausschliesslich soziale Prominenz, Bildung und Seilschaften zur Geltung gebracht. ÖVP, FPÖ und SPÖ schicken langgediente Parteisoldaten im Rentneralter ins Rennen; die Grünen eine NLP-programmierte junge Frau mit Mannequin-Appeal; und die Liberalen (Neos) einen NATO-hörigen Ex-Chefredakteur.

Keines der austro-europäischen Wahlprogramme gibt sich globalisierungskritisch, keine Wahlrede hat auf scharfe Kontrolle jener politischen Institutionen und Entscheidungsverfahren abgezielt, die in Brüssel und Strassburg von privaten Akteuren (Konzernen, Denkfabriken, Lobbyisten) manipuliert werden, und niemand – auch die aussichtlosen Kandidati·innen von KPÖ und DNA nicht – besteht auf eine Ausweitung der politischen Teilhabe unter Beteiligung aller.

Was also tun in der Wahlkabine? In Deutschland hätte ich wenigstens die Auswahl zwischen dem Bündnis Sarah Wagenknecht, dessen Pazifismus ich absolut glaubwürdig finde, Martin Sonneborns und Sibylle Bergs netter Satireanstrengung DIE PARTEI und der linksradikalen MERA25-Liste, ums Eck ins Leben gerufen vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Das wäre gegenüber dem österreichischen Politikversagen schon ein enormer Gewinn.

In Italien kandidieren die Radikalen, denen ich lange die Treue hielt, gemeinsam mit +Europa-Listen; und die Partito della Rifondazione Comunista gemeinsam mit dem paneuropäischen Varoufakis-Ableger und Regionalisten. Links herrscht in Italien also einigermassen Verwirrung; und souveränistische Töne sind dort nur aus Salvinis schmutziger Lega zu hören.

Pluralistisches Frankreich

In Frankreich stünde meine Entscheidung zwischen Kandidaten der radikalen Linken von La France Insoumise oder der Parti Radical de Gauche (die leider die Unionclowns von Volt France mit dabei hat) auf der einen Seite und der souveränistischen Rechten von Les Patriotes auf der anderen Seite an. Das wären schon mal drei Möglichkeiten.

In Frankreich gab es noch in den 1990er-Jahren eine Linke, die war säkular, glaubte an Arbeit, sprach von Ordnung, Sicherheit, Bildung, Gesundheit. Das ist  heute aus und vorbei. Da nur der serbischstämmige Offizier Georges Renard-Kuzmanovic  von der Liste Nous le peuple mit einem dezidiert linkssouveränistischen Wahlprogramm antritt, [der Abraham der Strömung, Jean-Pierre Chevènement, ist 85 Jahre alt; er rügte letzte Woche Präsident Macron mit den Worten: »Frankreichs lebenswichtige Interessen liegen nicht in der Ukraine«], wäre die sozialgaullistische Rechte vielleicht eine gute Option. Doch der Konservative Nicolas Dupont-Aignan macht mit Debout la France aus finanziellen Gründen leider Pause. Und so bliebe als fünfte Möglichkeit der Frexit-Forderer François Asselineau (Union populaire républicaine).

Ich hätte also als anspruchsvoller EU-Wähler in Frankreich so viel Wahlmöglichkeiten wie in keinem anderen Land. Deshalb verlange ich eine Europäische Union, die das Echo ihrer Zukunft in sich trägt, und nicht das Echo ihrer nationalistischen Vergangenheiten.

Wahlprozess entwickeln

Um den Wahlprozess weiter zu entwickeln, existiert ein langer Vorschlagskatalog: Einrichtung einer EU-Wahlkommission und einer EU-Wahlbehörde; gemeinsames Wahlalter und gemeinsames Zulassungsalter bei Kandidaturen; Einspruchsrecht von Kandidat·innen vor der Wahl, und das nicht erst im Nachhinein; flächendeckendes Online-Voting wie in Estland; parteiunabhängige Wahlbeisitzer·innen. Die Transparenz, wie Parteien ihre Mittel ausgeben, muss erhöht werden. Das Wichtigste und Einfachste aber wäre die Verlängerung des Wahlzettels um einige Seiten.

Mit Sicherheit gibt es 2.000 Polen und Polinnen, die mal ihre Solidarität mit katalonischen Seperatisten in Spanien ausdrücken möchten. Mit grosser Wahrscheinlichkeit fühlt sich eine Hundertschaft von bayerischen Wahlberechtigten bei den irischen Listen der »besten Katholiken der Welt« (Derek Scally) besser aufgehoben als bei der CDU.

Auch der Einfluss grüner Parteien ist EU-weit ungleich verteilt, in einigen Ländern sind sie als Juniorpartner an der Regierung beteiligt in anderen existieren sie überhaupt nicht. Umweltbewegte aus der ganzen Union würden sicher gerne die kriselnden Grünen in Schweden, dem Heimatland der Klimaaktivistin Greta Thurnberg, mit einem weiteren Sitz im EU-Parlament unterstützen.

Ein transnationales Wahlverfahren würde Minderheiten und Marginalisierte aufwerten. In den LGBTQI+-Netzwerken spräche sich in Windeseile herum, auf welcher Liste der Europawahlen progressive Menschen mit unterschiedlichen Identitäten oder sexuellen Orientierungen auf dem Stimmzettel stehen.

Oder nehmen wir die Sozialdemokratie. Ein Teil ihrer Wählerschaft in Deutschland würden in Zeiten steigender Baukosten, Zinsen und sinkender Bautätigkeit sicher lieber bei den Kandidat·innen der Wiener Schwesterpartei SPÖ ankreuzen, die mit dem vor dreissig Jahren in Deutschland abgeschafftem gemeinnützigen Wohnungsbau dem freien Immobilienmarkt die Zähne gezogen hat. Der mit der Integration von Migrant·innen unzufriedene Teil der SPD-Wählerschaft wiederum könnte die Sitze der dänischen Genoss·innen von Socialdemokraterne in der EP-Fraktion stärken, usw. Auf diese Weise käme endlich Dynamik in die Progressive Allianz, und die nationalen Parteibüros müssten lernen auf der Ebene der Mitgliedsstaaten eine politisches Angebot zu legen.

Vielleicht sehen sich zehntausend Linksradikale aus 17 Mitgliedstaaten bei der griechischen SYRIZA, die schon einmal an der Regierungsmacht war, besser aufgehoben als bei ihren lokalen Politsekten.

Wer die Vielfalt im transnationalen Raum so grosssprecherisch im Mund führt wie die EU-Eliten, muss sich endlich der politischen Realität des Wählerwillens stellen. Was ich verlange, ist eine transnationale Demokratie, die grenzübergreifende Solidarität ermöglicht! Was ich verlange, ist ein modernen Pluralismus, der einem dänischen Volksvertreter auch zutraut, die Lebensinteressen von slowakischen Bauern in sein politisches Kalkül miteinzuschliessen. Was ich mir wünsche, ist, dass eine deutsche Kandidat·in für das Europaparlament in polnischen Bauarbeitern und ungarischen Altenpflegern mehr sieht als billige Arbeitskräfte, und das lässt sich mit der Verlängerung der Wahlzettel weit besser und wirkungsvoller befördern als mit den Sonntagsreden des Bundespräsidenten.

Eine transeuropäische Demokratie stünde der Bürokratiemaschine in Brüssel und Strassburg gestärkt gegenüber. Sie würde die politischen Akteure zwingen, in grösseren Massstäben zu denken. Und die Wahlwerbung konnte endlich auf die nervigen Hooklines, die ewig wiederkehrende Momente, verzichten und innovative Programme mehrsprachig zelebrieren.

© Wolfgang Koch 2024

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2024/06/07/warum-kann-ich-in-europa-nicht-europaeisch-waehlen/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert