Metaphysik ist ein hochtrabendes Wort. Nach Ansicht vieler Philosophen – in Deutschland prominent Jürgen Habermas – leben wir gegenwärtig im nachmetaphysischen Zeitalter, was bedeutet, dass wir – die Aufgeklärten – die Metaphysik hinter uns gelassen haben. Was aber bedeutet >Metaphysik< eigentlich? Grob gesagt ist die Metaphysik ein Bestandteil des Versuches die Welt zu erklären und, in diesem Zusammenhang, meistens Grundlagen der Gesellschaft und des Menschen als Grundlagen der politischen Ordnung herbeizudenken. Hier steht die Metaphysik für allgemeine, grundlegende Annahmen, von denen man glaubt, sie seien notwendig, diese Erklärungen oder Begründungen zu leisten. Das Besondere, oder Hochtrabende ist dabei, dass die Annahmen selber nicht einfacher Weise nachprüfbar sind – im gewissen Sinne also ungreifbar bleiben. Im Rahmen der Philosophiegeschichte ging es typischer Weise um Annahmen theologischer Art, um Annahmen einer ewigen göttlichen Ordnung, eines natürlichen oder göttlichen Rechts dieser und jener Gestalt, die mit dem Schritt in die Neuzeit oft in Aussagen über die Vernunft- und Freiheitsfähigkeit des Menschen verwandelt wurden. Auch hier gab es aber, beispielsweise bei Immanuel Kant, theologische Anleihen, so dass die nachmetaphysische Bewegung heute noch stärkere Versuche unternimmt, ihre Aussagen auf magere Vorannahmen allgemeiner Art zu beschränken, oder ganz von ihnen abzusehen.
Wie hängt der Blick auf die Metaphysik nun mit der Coronapandemie zusammen? Ließ man den Blick gegenwärtig durch die Medienlandschaft streifen, konnte der Kontroverse um die zweite Welle erwarteter Coronainfektionen kaum ausgewichen werden. In diesem Zusammenhang tauchten immer wieder bestimmte Schlagwörter auf: tatsächliche Risiken, Realität, Objektivität, Realismus usw. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier auf einen bestimmten Anspruch verweisen, oder ein bestimmter Anspruch erhoben wird, einen Sachverhalt in der Welt >dingfest< zu machen. Anschließend ging es meistens darum, Handlungsanleitungen zu geben – also politische Maßnahmen der Beschränkung oder Lockerung des öffentlichen (oder auch privaten) Lebens zu behaupten. Hier allerdings, so würde ich einhaken, lässt sich mit guten Gründen zurückfragen: Wie gelangt man zu Aussagen über tatsächliche Risiken? Wie gelangt man zu der Realität, die für die einen unsichtbar und verstellt, für die anderen vielleicht zwar hintergründig, aber doch zugänglich und unverrückbar da ist? In der Regel werden dann Antworten gegeben, die auf eine Daten- und Faktenlage verweisen, um ihre Objektivität, also die Objektivität der Risikoeinschätzung und damit auch Handlungsanleitung zu belegen. Hier aber lässt sich erneut zurückfragen: ist die Daten- und Faktenlage nicht kompliziert und vielfältig? Von welcher Eindeutigkeit oder Objektivität kann die Rede sein? Geht es nicht gerade im Kontext gesellschaftlicher Angelegenheiten um eine Kombination physikalischer, biologischer, psychologischer und sozialer >Daten< – also um eine komplexe Verbundenheit unterschiedlicher Dimensionen der Fragestellung? Und, lässt sich schließlich eine Daten- und Faktenlage unabhängig von ihren Interpretationen geben – also unabhängig von einem menschlichen Wesen, das seinerseits in einem sozialen Verhältnis steckt, mit Ängsten und Hoffnungen behaftet, von einer privaten und gesellschaftlichen Vergangenheit durchsetzt ist?
Was hier als Problem angedeutet wird, führt nicht zuletzt auf den Positivismusstreit der 60ger Jahre zwischen Theodor W. Adorno und Karl R. Popper zurück, der sich auf die Aussagekraft der wissenschaftlichen Methode bezog. Allerdings geht es mir nun nicht darum, die Möglichkeit jeder Einsicht – jeder Einsicht also in die Sachverhalte der Coronapandemie – in Zweifel zu ziehen und einen rigorosen Relativismus zu behaupten. Dass die Frage der Erkenntnis und Ordnung zum Problem wird, bedeutet ja gerade, dass sie sowohl für die Ansprüche der Lockerung als auch für Ansprüche der Verschärfung von Corona-Schutzmaßnahmen zum hinterfragbaren Horizont wird. Beide Seiten erheben immer wieder Ansprüche der Fakten- oder Deutungshoheit, um entweder dem Modell Südkorea, Japan, Neuseeland, Israel etc., oder der Strategie der USA, Englands oder Schwedens etc. zu folgen – beide Seiten müssen sich damit der Hinterfragbarkeit stellen. An dieser Stelle möchte ich vielmehr den Bezug zur Metaphysik wieder aufnehmen, also auf die Behauptung des nachmetaphysischen Zeitalters zu sprechen kommen. Was der Seitenblick auf die Kontroverse der Coronapandemie verdeutlichen sollte – und hier steht die Coronapandemie als Lückenfüller für viele andere, ähnliche aber auch abweichende Fälle – war das nachhaltige Überleben oder Einsickern einer Figur der Metaphysik in unsere scheinbar nachmetaphysisch angeleiteten Überlegungen. Die neue, alte Metaphysik stellt natürlich die Renaissance einer reduzierten Form der Metaphysik dar, da es nicht um allgemeine Annahmen im strengen Sinne geht, sondern um Annahmen, die auf bestimmte historische Situationen bezogen sind. Trotzdem lässt sich, so die Behauptung, die Schwierigkeit nicht umgehen, auch bei der Konfrontation mit historischen Situationen einer Unschärfe und Uneindeutigkeit zu begegnen, die durch mehr oder weniger gute, subjektabhängige Deutungsvorgänge und Annahmen überbrückt werden muss, um irgendwie verfügbar zu sein. An dieser Stelle, denke ich, lässt sich mit guten Gründen weiterhin von Metaphysik, oder besser: einer Figur der Metaphysik neben anderen sprechen.
Warum aber dieser Ausritt? Ich denke, dass die Renaissance der Metaphysik deshalb einer Erwähnung wert ist, weil sie eine Umstrittenheit bewusst macht, die mit dem Feld der Politik verbunden ist und gerade in >Krisenzeiten< zum tragen kommt. Sie versucht die Erhebung von Standpunkten und Forderungen nicht nur als argumentativen Widerstreit, sondern als unweigerlichen Widerstreit um die besseren – expliziten oder verschleierten – metaphysischen Hintergrundannahmen kenntlich zu machen. Es hat damit etwas dringlich-demokratisches, diese Umstrittenheit zur Sprache zu bringen und so die Reichweite der Argumente, mit denen Politiken begründet werden, zu hinterfragen. Mehr noch ist das der Fall, da die Interpretation der Unschärfe und Uneindeutigkeit historischer Situationen niemals von der Machtfrage und einem Willen zur Macht getrennt werden kann, die vermeintliche Wirklichkeit auf eine Gestalt des Wirklichen festzulegen und damit eine Politik der Notwendigkeit zu betreiben. Das gilt freilich nicht nur für die Ebene der Politik oder des politischen Aktivismus – gerade auch Politische oder Soziale Theorien lassen sich allzu gerne hinreißen eine Verbindung von Theoriehorizont zur Gesellschaftskritik zu leisten und ihren unausgesprochenen Willen zur Macht zu behaupten. Damit sei nicht gesagt, dass dieser Wille notwendig schlecht sei – vermutlich gibt es nicht viele Alternativen ohne matephysische Festlegungen solcher Art auszukommen, sofern man auf den Lauf der Welt irgendwie Einfluss nehmen und sich nicht in fatalistischer oder skeptizistischer (und damit durchaus problematischer) Hingabe stimulieren möchte. Dennoch kann es hilfreich sein, immer wieder auf die Bedingungen der Einflussnahme zu verweisen.