Sagt uns Moria etwas? Was sagt uns Moria? Moria ist der Name eines in Brand geratenen Flüchtlingslagers der griechischen Insel Lesbos, in dessen Folge das Lager zerstört wurde und die Geflüchteten verurteilt waren in den Trümmern, Landstrichen und Straßenzügen umliegender Orte ihr trostloses Dasein zu fristen. Zwar hat es nun nicht lange gedauert, da in der deutschen Politik eine hitzige Diskussion um den angemessenen Umgang mit Moria entbrannt ist. Obwohl die Richtung, abgesehen kleinerer Differenzen, schnell klar geworden ist – eine beschleunigte Aufnahme vor allem minderjähriger Migranten – haben sich der Aufnahme allerdings Hürden von Seiten der griechischen Regierung in den Weg gestellt. Ganz egal aber, wie genau die dramatische Situation entlang der komplexen Verflechtung nationaler und internationaler Politiken schließlich gelöst wird – Moria ist nicht von einem Moment oder Erlebnis der betrachtenden oder teilnehmenden Öffentlichkeit zu trennen, das eine tiefe Berührung oder Erschütterung besitzt. Ereignet sich Moria, kann man nicht ereignislos bleiben, so die Berührung, so die Erschütterung. Man kann nicht die Menschen, die bereits lange auf der Flucht waren ohne klare Aussichten auf Besserung und mit nur schwacher Hoffnung gerüstet, die jetzt auch das wenige verloren haben, einfach sein lassen, ihrem Schicksal überlassen, kann sie nicht übergehen oder aus dem Bewusstsein streichen. Ich denke es ist Moria, es sind Momente wie Moria, die zeigen, wie wichtig und gleichzeitig schwach die moderne (demokratische) Staatlichkeit ist. Moria bewegt einen Impuls, Moria ist ein Impuls, etwas zu tun, etwas tun zu müssen und dieses Müssen so sehr zu wollen, dass alles andere zweitrangig ist und nicht mehr wichtig wird. Tragsicher Weise ist das, gegen was sich dieses Wollen insbesondere, nicht nur, aber zu großen Teilen richtet, das, was gleichzeitig Mittel der Rettung und Hoffnung ist: der Staat. Es sind nämlich, unter den ersten Vorbehalten, Vorbehalte des Staates, Vorbehalte gegründet im Staat, die eine (weitere) Aufnahme von Migranten bremsen und auf Recht, Bedingungen der Ordnung und die Logik des Prinzips verweisen.
Es ist das Recht, das einschränkt, verzögert oder verunmöglicht, weil es Vorgaben macht und eine Prozedur verlangt. Es ist der Rechtsstaat, der ein zartes und gebrechliches Kartenhaus darstellt, ein begrenzter, empirischer Rahmen, vom dem aus so oft gesagt wird: >wir können nicht jeden aufnehmen, wir können nicht jeden retten<. Und es ist schließlich das Prinzip, die Logik des Prinzips, die diese Überlegung möglich macht, ein Prinzip, das eine Gruppe hilfsbedürftiger Menschen mit allen hilfsbedürftigen Menschen überhaupt gleichsetzt um zu sagen: >wenn jeder aufgenommen werden sollte, würde die staatliche Ordnung zerstört werden, eine Ordnung, die in jeder Hinsicht begrenzter ist als die Menge hilfsbedürftiger Menschen<. Es ist das Prinzip, die Logik des Prinzips, die der Aussage einer überforderten, staatlichen Ordnung einen überzeitlichen und überzeitlich begrenzenden aber also stabilisierenden Charakter verleiht. Gegen dieses Prinzip, gegen die Borniertheit des Rechts und die empirische Begrenzung des Staates stellt sich, mit Adorno gesprochen, der Impuls. Ein ethisches Begehren anderer Art. Der Impuls ist unverwüstlich, drängend, einfach und in dem Augenblick, in dem er ist, maßlos. Er bricht das Prinzip, streckt die Empirie in eine Virtualität des Unendlichen und ignoriert die starre Kompliziertheit des Rechts. Damit ist der Impuls selber anarchisch, ignorant und parasitär. Er sieht nichts außer sich selber und kann nicht alleine besteht – bleibt also gleichzeitig, im dreifachen Sinne, auf Ordnung verwiesen: geht von ihr aus, wendet sich gegen sie, strebt auf sie zu. Wenn er Rettung und Hilfe möchte, dann möchte er Rettung und Hilfe im und durch den Staat – es geht, am Ende, so sehr der Impuls gegen den Staat kämpft, nicht ohne den Staat (zumindest nicht vorerst und vermutlich nie grundsätzlich). Der Staat und sein Recht, die Aufnahme in die Mitte seiner Staatlichkeit und Rechtlichkeit, sind das Mittel der Rettung, Sicherheit und Möglichkeit, die es nicht gab und die es geben soll. Dafür muss die Figur des zarten und gebrechlichen Kartenhauses ein weiteres Mal gestreckt und überwunden werden, das Sicherheit versprechende Recht muss ein weiteres Mal umgangen sein und das Prinzip, das ein berechenbares Leben, eine berechenbare, versorgende Ordnung möglich macht, ein weiteres Mal ignoriert werden.
Es ist offensichtlich, dass in diesem Für und Wieder sich ein gravierender Widerspruch zeigt – es ist vielleicht offensichtlich, dass wir, als Gesellschaft, weder von der einen Seite, dem Impuls, noch von der anderen Seite, der Logik der Ordnung, lassen können. Es stimmt vermutlich, dass man die Einwände der Ordnung nicht einfach (nicht ein für allemal) ausschalten kann, hier hatte Kant und andere einen Punkt – damit aber steht nur fest: es gibt keine Möglichkeit, diesem Teufelskreis zu entkommen. Man riskiert und enttäuscht immer entweder das eine oder andere, braucht und will beides, schützt beides und gefährdet alles zugleich. Trotzdem kann man hoffen, selbst wenn die Hoffnung damit ein Wagnis bezeichnet. Es gilt zu hoffen, dass es noch ein weiteres Mal gut geht. Und es gilt zu hoffen, dass das Wagnis (nicht immer, aber manchmal) nicht nur einer diametralen, sondern komplementären Logik folgt – Staatlichkeit durch Wagnis.
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