Die Grausamkeit der Zahl – sie ist wieder da! Irgendwie hat man gehofft, sie endgültig hinter sich zu lassen und doch taucht sie auf. Natürlich ist es auch dieses Mal nicht das letzte Mal gewesen und man muss sich mit dem Problem, dass sie stellt, immer wieder auseinander setzen. Was ist die >Grausamkeit der Zahl<? Das Problem der Zahl ist ein viel diskutiertes ethisches Problem, das in den letzten Jahren geradezu berühmt wurde durch ein kleines Buch von Ferdinand von Schirach und sich mit Fragen befasst wie: Wenn ein Passagier-Flugzeug entführt wird und auf ein Hochhaus oder Atomkraftwerk zusteuert, darf man es abschießen? Oder: Wenn ein Zug fünf Menschen zu überfahren droht, darf man den Zug auf ein Gleis lenken, auf dem nur ein einziger Mensch überfahren werden würde? Verzwickt ist das Problem auch deshalb, weil es viele Menschen gibt, die intuitiv dafür plädieren würden den einen zu überfahren und das Flugzeug abzuschießen. Die akademisch dominante Position dagegen, die sich vor allem auf eine bestimmte Kant-Lesart stützt, betont gerade den anderen Weg.
Dass es sich dabei nun nicht nur um gedankliche Konstruktionen handelt, sondern die Fragen mit >wirklichen< Ereignissen verbunden sind, ist bereits dem Flugzeugbeispiel zu entnehmen, das in Anlehnung an die WTC Anschläge 2001 diskutiert wurde. Es finden sich aber auch in der näheren Vergangenheit Varianten des Problems. In der Flüchtlingskrise zum Beispiel wurde über die Obergrenze diskutiert, wobei die Frage der absoluten Obergrenze mit Rekurs auf den Ansatz Österreichs als Aufnahme zeitlich bedingter Kontingente zugespitzt wurde. Hier kamen dann immer wieder Einwände der Art: Was machen wir, wenn jemand übrig bleibt – wenn man also eine große Gruppe von Menschen aufnimmt und vor einer einzigen Person die Grenzen schließt? Wenn man jemanden, der nach Schutz auf Leben und körperliche Unversehrtheit sucht, zurück weisen muss, weil er oder sie aus dem Kontingent fallen, das man für diesen Zeitraum veranschlagt hat? Hier stand also der Vorwurf der ethischen Unvertretbarkeit oder Grausamkeit im Raum, den einen – mit Hinblick auf das obige Zug-Beispiel -– zwar nicht zu überfahren, ihn aber, zugunsten der Aufnahme aller anderen, der dramatischen Schutzlosigkeit ausgesetzt sein zu lassen. Österreich hat das Problem (mit fraglichem Erfolg) ja bekanntlich so gelöst, dass das Prinzip der kurzen Taktung eingeführt wurde, dem nach nicht alle gleichzeitig rein kommen, niemand aber im stärkeren Sinne ausgeschlossen wird.
Ich denke nun, dass dieses Dilemma der Zahl heute wieder an unsere Tür klopft – auch wenn es Momentan als solches noch nicht diskutiert wird – zumindest wird es, wenn es diskutiert wird, nicht sichtbar diskutiert. Es geht dabei um die priorisierten Impfungen, um eine Rangordnung von Gruppen bei der Impfung. Nun ist es durchaus sinnvoll eine Priorisierung beispielsweise des Alters im Impfverfahren einzuführen – viele ethischen Probleme im Umgang mit der Corona-Krise haben sich daraus ergeben, die Schwächsten der Gesellschaft durch einen laxen Umgang mit Infektionen der größten Gefahr auszusetzen. Hier ist, wie oft betont wurde, ein klarer Anstieg des Todesrisikos – als Funktion des Alters – beobachtbar gewesen, so dass die Schwächsten, dem Alter nach, einen Vorrang im Schutz genießen sollten. So weit so gut – etwas schwieriger wird es, wenn man sich die Verteilung en Detail anschaut: Zuerst sollen die Ü-80ger, dann die Ü-70ger, denn die Ü-60er und dann alle anderen geimpft werden (hinzu kommt eine Funktionspriorität z.B. für Pflegepersonal). Wie ist es aber nun beispielsweise, wenn man 79 Jahre alt ist? Vielleicht steht sogar in ein/ zwei Monaten der eigene Geburtstag an – die Impfung wird der Priorisierung nach aber erst in etwa einem Monat für die nächste Gruppe veranschlagt – so lange etwa dauert der jeweilige Turnus. Problematisch ist das nun deshalb, weil hier ein Zeitraum der Schutzlosigkeit entsteht, obwohl eine klare Priorisierung eigentlich nicht gegeben werden kann. Derzeit ist das Risiko für ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen, innerhalb eines Monats an Corona zu sterben, höher denn je. Gleichzeitig ist das Risiko in Bezug auf kleine Altersdifferenzen (also mitunter der Ende-70-und-Anfang-80-Jährigen) absolut unscharf – es stellt eher eine Tendenzaussage dar, die weiter von anderen bio-psycho-sozialen Faktoren abhängt. Die >Grausamkeit der Zahl< als böse Metapher wird hier nur allzu deutlich – sie stellt in gewisser Wiese den puren Formalismus oder Willensakt dar, der inhaltliche Betroffenheiten aufschneiden und die einen der Welt der Rettung, die anderen dem Fegefeuer zuteilt.
Die Fragen also, die man sich angesichts der Situation stellen muss, wären: Sind wir nicht heute tatsächlich mit einem anderen Szenario da, wo wir in der Debatte um die Obergrenze vor ein paar Jahren gewesen sind – dass also ein formaler aber der Sache nach unvertretbarer Ausschluss aus der Schutzgemeinschaft praktiziert wird? Wie können wir mit dem Problem, das nun in einem ganz anderen Kontext wiederkehrt, angemessen umgehen? Sind wir verurteilt letztlich doch auf Formalismen und Willensakte zurückzugreifen? Fest steht jedenfalls, dass eine Antwort schleunigst benötigt wird, weil mit dem baldigen Beginn der Impfungen auch das ethische Dilemma einen fragwürdigen Anfang nehmen kann.