Die westliche Allianz tritt regelmäßig mit dem Anspruch auf, nur ein defensives Bündnis zu sein. Das ist natürlich sehr lobenswert, Aggression in der internationalen Politik höchst verwerflich. Nun präsentiert sich Russland gerade in einer aggressiven Außenpolitik, der Westen dagegen betont seine Zurückhaltung und Reaktivität. Eine Zurückhaltung, die sich auch in der Einschätzung der Krisensituation zeigt – steht für Russland offenbar ein Konflikt auf Weltebene an, ein globaler Siegeszug des Westens, ist die Einschätzung des Westens eine andere. Sie zielt auf die Gelegenheit defensiv zu bleiben und den Konflikt, sollte er sich auch verschärfen, klein zu halten.
Hier wundert man sich immer wieder, warum Russland diese Haltung nicht erkennt und nicht versteht – warum es sich also immer wieder vom Westen bedroht fühlt. Nun ist es nicht schwer in dieses Missverständnis etwas Licht zu bringen (ich sage hier gewiss nichts Neues). Zum einen ist die Zeit seit dem Kalten Krieg durch das Scheitern oder Auslaufen diverser internationaler Kontrollmechanismen gekennzeichnet. Zum anderen fand seit dem Kalten Krieg eine Nato-Osterweiterung statt, die militärische Macht nach Osten ausdehnt. Schließlich hat das 21 Jh. mit einer Euphorie des Krieges gegen das Böse begonnen, das die westliche Welt bis heute begleitet: der Krieg in Afghanistan, der Krieg mit dem Irak, das Töten Khadafis, Kämpfe gegen Assad und den IS. Der Westen (natürlich nur in Teilen) steckt seit 20 Jahren in einem Kampf gegen das Böse, für Freiheit und Demokratie. Eine Ambition und Euphorie, die noch Trumps völkerrechtswidrigen Raketenangriff auf ein syrisches Depot als Vergeltungsschlag begleitet hat (als Vergeltung auf einen Chemiewaffeneinsatz).
In dieser Perspektive kann man nur eingeschränkt sagen, dass die Nato und der Westen eine defensive Allianz sind. Diese Defensivität gilt nicht für die seit einigen Jahrzehnten veränderte Auslegung und Praxis der internationalen Politik in Richtung humanitärer Interventionen und der Beseitigung des Bösen.
Warum aber sollte sich Putin dann nicht in Gefahr wähnen? Warum sollte er glauben, dass die westlichen Allianzen davor halt machen ihn zu stürzen? Er wird im Westen ja gemeinhin als Despot oder Diktator bezeichnet – ich habe auch schon einige Nazivergleiche gehört und gelesen. Warum sollte Putin – wenn er denn nicht heute oder morgen als Despot Nr.1 auf der Abschussliste steht – nicht glauben, dass er Teil einer langfristigen Politik der Ent-Schurkung dieser Welt ist?
Hier kann es ja gewisser Weise egal sein, was der Westen tatsächlich plant. Es ist mehr wie im amerikanischen Gericht: gibt es berechtigte Zweifel, dass der Angeklagte unschuldig ist? Kann Putin berechtigt zweifeln, dass er früher oder später auf der Abschussliste des Westens steht? Und wenn ja, wenn er zweifeln kann, wohin wird das seine Politik lenken? Was bedeutet das für den aktuellen Konflikt? Was bedeutet es aber auch für die westliche Politik – kann sie weiter auf die Möglichkeit eines kleinen Konfliktes setzen, oder muss sie nicht mit >mehr< rechnen, Putins gefühlte Bedrohung antizipieren?
Ich hoffe jedenfalls, dass, sofern es an der westlichen Allianz liegt, diese dazugelernt hat und nicht ähnliche Fehler macht, wie sie im Nahen Osten seit 2001 begangen wurden. Jedes einzelne >Interventionsgebiet< kann dort, zumindest in wichtigen Hinsichten, mit einem politischen Scheitern in Verbindung gebracht werden – einem Scheitern in den drei Kernansprüchen: Freiheit, Demokratie – aber auch Sicherheit. Das bedeutet also: zu hoffen ist, dass die westliche Politik, sofern es an ihr liegt, diesmal nicht die Komplexität der politischen Situation verkennt (das war vermutlich eines der großen Probleme) und gute Absichten auch in ein gutes Ergebnis verwandelt.