Die kürzliche Protestaktion der >Letzten Generation< erzeugt erneut Empörung. Das Beschmieren eines Kunstwerkes, mit dem die demokratische Verfassung Deutschlands nicht nur zum Ausdruck kommt, sondern symbolisch überhöht wird, grenzt für einige an Unerträglichkeit. Sie sehen spätestens hier den demokratischen Kern unserer Gesellschaft herausgefordert. Beispielhaft twittert Minister Buschmann, dass das Grundgesetz nie und für nichts in den Schmutz gezogen gehört – was nichts anderes bedeutet, als dass die Verfassung in den Dreck gezogen und verunglimpft worden ist. Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, bestätigt dies und spricht mithin von einer aktivistischen Selbstbezogenheit, die nichts für die Gesellschaft übrighat.
Ohne genauer danach zu fragen, welche demokratischen Gehalte die Aktion der Protestler haben könnte, glaube ich, dass die Situation geeignet ist, zu verdeutlichen, wie gut man sich heute im politischen Streit missverstehen kann. Dieses Missverstehen wird klar, wie ich glaube, wenn man eine andere Deutung der Ereignisse anbietet. Eine Deutung, die zwar nicht zwingend ist, aber naheliegt.
Hier wäre zu betonen, dass das Beschmieren der Verfassungstafeln nicht eine Abkehr von der Verfassung bedeutet, sondern eine Forderung, die Verfassung ernst zu nehmen. Und das zum einen, weil sie einen Klimaschutz impliziert, der in der Regierungspolitik immer noch fehlt. Zum anderen aber auch, weil nun die Naturbedingungen der Verfassung ins Auge gefasst werden (die Verfassung gibt es ja, so die These, nicht im luftleeren Raum des Sozialen, als demokratisch-schwebendem Grundkonsens, sondern sie ist auch an Naturverhältnisse gebunden).
Ist es in diesem Sinne nicht leicht zu sehen, dass die aktivistische Idee keineswegs die Verfassung verachten möchte? Gelangt man nicht zur Einsicht, dass die schlichten Kritiken an den Aktivistinnen ungerechtfertigt sind? Es ließe sich sogar behaupten, dass, indem Verfassungsansprüche gegenüber der Regierung vertieft werden, der Regierung ihrerseits ein Fehlen, Versagen oder nicht-Achten der Verfassung vorzuwerfen ist. Wer durch sein Handeln die Verfassung besudelt oder beschmiert, wäre aus Sicht der Aktivisten die Regierung, und der >Schmierprotest< als Ausdruck dieses Fehlens zu verstehen.
Abgesehen davon, wie sehr diese Intuition trifft oder nicht – es ist erstaunlich zu sehen, wie Teile der Politik und der Medien in der Lage sind, solche Perspektiven zu umschiffen oder misszudeuten, um den Aktivisten nur Geringschätzung der Verfassung vorzuwerfen. Michael Roth stellt sogar einen Vergleich mit den Taliban her, insofern beide Gruppen ungeniert Kunstwerke zerstörten. Man ist geneigt zu sagen, dass, wenn beliebige Parallelen zwischen Dingen zu ziehen bereits genügt, um daraus ein Argument zu machen, es um die Qualität des politischen Diskurses nicht gut bestellt ist.
Aber vielleicht gerade das: Das gewollte Missverstehen ist eine Art, wie sich Politik heute oft vollzieht. Man diskutiert Dinge nicht aus, sondern versucht sich gegenseitig zu disqualifizieren. Vorzugsweise damit, dass die anderen als nicht-demokratische Gegenüber verkannt werden. Natürlich ist ein ölverschmiertes Kunstwerk gerade kein Argument, so könnte man einwenden. Andererseits bedeutet das nicht notwendig, der zugrundeliegenden Handlung keinen tieferen bzw. demokratischen Gehalt oder Sinn zusprechen zu können.