Der Westen hatte in der Vergangenheit zumeist ein distanziertes Verhältnis zu Machiavelli gepflegt. Machiavelli ist oft als Theoretiker strategischer, eigennütziger Politik kritisiert und als Propagandist des Kampfes und Krieges an den Pranger gestellt worden. Gegenwärtig haben sich Kritiken dazu gesellt, die in Machiavellis Denken von Krieg und Kampf nicht nur folgenreiche, imperialistische Perspektiven identifiziert haben, sondern auch problematische Ideale des Männlichen als Vorlage politischer Ordnungsbildung. Alles dies sind Dinge, die gemeinhin unter die Chiffre eines >politischen Realismus< gebracht worden sind und von weiten Teilen der westlichen Gesellschaften als unliebsame Angelegenheit der Geschichte verabschiedet wurden.
…und in der Tat finden sich bei Machiavelli Elemente dessen, was man im Kontext von Krieg, Kampf und Männlichkeit als einen expansiven Republikanismus bezeichnen könnte. Eine zentrale Idee ist es hier, dass Staaten sich als autonome Staaten (und daher in Freiheit) nur erhalten können, wenn sie die fortwährende, konfliktuelle Konstellation ihrer Außenbeziehungen einsehen und angemessen darauf reagieren. Mitunter führt sie dazu, nach dem Motto: >Angriff ist die beste Verteidigung< handeln zu sollen. Eine solche Idee kann aber auch bedeuten, den eigenen Staat militärisch beständig zu stärken, ihn also kampffähig und kampfbereit zu halten. Und sie kann bedeuten, sich andere Staaten im konfliktuellen Geschehen zielgerichtet einzuverleiben, um den eigenen Einflussbereich zu vergrößern.
Seit der Nachkriegszeit 45ig, insbesondere seit den 90ger Jahren, hat sich im Westen freilich eine sehr konträre Vorstellung der internationalen Beziehungen verfestigt. Jene nämlich, dass die Welt in einen Zustand internationaler Kooperation und Offenheit eintreten kann und muss. In dieser Kooperation sollten sich Staaten dann auf gleicher Augenhöhe begegnen, um gemeinsam produktiv zu sein. Beigetragen dazu haben nicht nur ein fortschrittorientiertes Bewusstsein, das Lehren aus vergangenen Kriegsschrecken zog, oder etwas später, Einflüsse postkolonialer und feministischer Erfahrungen, sondern auch praktische Bedürfnisse und technologische Möglichkeiten, auf neue Weise internationale Gemeinschaft zu stiften. Suprastaatliche Institutionen wie die EU oder UN wurden auf den Weg gebracht (oder vorangetrieben) und viele (mithin kleinteilige) Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit befördert. Die Idee der Menschenrechte, aber auch die Idee des Weltbürgertums, erlebten eine Renaissance. Dagegen sind konfliktuelle oder realistische Ansätze, d.h. die rigide Verfolgung der eigenen Staatsinteressen auf internationaler Bühne, (zumindest vordergründig) aus dem Blickfeld geraten.
Freilich wurde der politische Realismus nie vollständig aufgegeben. Es gab weiterhin Skeptiker, die glaubten, dass die internationalen Verhältnisse, trotz vieler Veränderungen, noch nicht befriedet und kooperativ durchstrukturiert sind, dass also hinter aller Annäherung und Kooperation immer noch das Risiko oder die >Realität< der rauen Eigeninteressen, des Unversöhnlichen, ja der Kampf steht.
Mittlerweile lassen sich viele neue Stimmen hören, die bestätigen, dass der politische Realismus, zumindest in einigen Hinsichten, recht behalten hat, und dass es nun darum geht, diesen Einsichten zu folgen und entsprechend zu handeln. Gerade die schmerzliche Erfahrung einer treffenden Analyse der russischen Außenpolitik via realistischer Theoriebildung zeige deutlich den unverzichtbaren Mehrwert der Perspektive auf.
Entsprechend deutet auch die >Zeitenwende-Rede< von Olaf Scholz eine Rückkehr zum Realismus an und, in diesem Sinne, zu Machiavellis Denken der Außenpolitik – einen Zusammenhang, den ich hier unterstreichen möchte. In und mit dieser Rede sind viele Punkte verbunden worden, die als nun Machiavellische Renaissance bezeichnet werden können. Zum Beispiel die Einsicht, dass viele von uns die kruden Selbsterhaltungsinteressen übersehen haben, die bei verschiedenen Staaten in der Welt offenkundig immer noch vorhanden sind. Oder die Forderung, dass >wir< unsere Vorstellungen darüber verändern müssen, wie internationale Politik in Zukunft funktionieren kann – eben nicht mehr nur als ein gemeinsames Honigschlecken. Und schließlich Vorsätze derart, dass >wir< uns in dem neuen Funktionieren der Politik sehr pragmatisch wieder auf konfliktuelle Weltverhältnisse einstellen müssen.
Mit diesem realistisch-militärischen Paradigmenwechsel sollen seit der Nachkriegszeit einmalige Anstrengungen verbunden werden, um Deutschland wieder kampffähig und kampfbereit zu machen (andere Länder gehen ähnlich vor – an vorderster Stelle vielleicht Polen) …denn man müsse jetzt und künftig, so glaubt man zumindest an vielen Schaltstellen der Macht, die eigene Freiheit im Sinne der Autonomie der Republik wieder aktiv verteidigen.
Wichtig ist zu ergänzen, dass mit diesem neuen Realismus kein Weg des Rechts des Stärkeren gegangen werden soll. Gemeinhin wird der politische Realismus zwar mit einem Selbererhaltungsstreben von Staaten verbunden, das man in der russischen Politik angelegt sieht, diese >Haltung< will man aber nicht für den eigenen Standpunkt in Anspruch nehmen. Hier soll das neue Denken des Konflikts und Kampfes der autonomen Republik – ganz anders – mit dem Kampf für eine insgesamt freiheitliche Staatenordnung zusammengebracht werden können. Damit ginge es um die Instanziierung eines Rechts, das ein allgemeines und freiheitliches Recht wäre; eine freiheitliche Staatenordnung mithin, die durch Russland gegenwärtig (und unzeitgemäß) untergraben worden ist.
Man möchte also weiterbauen an einem gemeinsamen globalen Gebäude des Friedens und der Freiheit, ohne aber die Wachsamkeit dafür und Wehrhaftigkeit dagegen zu verlieren, dass andere Staaten oder ihre Vertreter umstürzlerische und eigennützige Pläne schmieden.