vonzwiespalt 16.01.2023

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Es hat einige Zeit gedauert, bis der Konflikt mit Russland eine politisch-theoretische Grundlage bekommen hat. D.h. eine Grundlage, die über eine Verkettung realpolitischer Ereignisse hinausgeht. Nun ist seit längerem Kant im Spiel. Gemeinhin wird Kant dabei in einen Kampf der Freiheit gegen die Unfreiheit, namentlich die Despotie, eingetragen.

Das Argument ist klein, aber fein. Es besagt, dass es für Demokratien geboten ist, sich gegen Autokratien zu verteidigen, da ansonsten Autokratien die Welt beherrschen und ein Regime der Unfreiheit auf den Weg bringen würden.

Das ist eine Wendung des kategorischen Imperativs (der Verallgemeinerung und Annehmbarkeit eines Szenarios) auf die Bühne der Politik. Sie wird mit Äußerungen Kants verbunden, die man z.B. in der >Friedensschrift< findet. So heißt es mitunter: „Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zu Grunde gehen.“ Und es ist, zumindest in der öffentlichen Debatte in Deutschland, die Mehrheitsmeinung, Kant hier so zu verwenden. Die wichtige Annahme im Hintergrund, dass einige Autokratien einen in dieser Hinsicht relevanten Expansionsdrang besitzen können bzw. realiter besitzen, wird dabei mehr oder weniger explizit akzeptiert.

Nun kann man Kant auch anders in Stellung bringen. Das hängt mit der allgemeinen Eskalationsgefahr im Konflikt zusammen. Dass diese Gefahr gegeben ist, hat man im Verlauf des Konflikts immer wieder gehört und vielerorts anerkannt. Sie steigt mitunter im Zuge westlicher Waffenlieferungen bzw. mit der Art der Waffensysteme. Erkannt und anerkannt ist damit freilich auch (zumindest implizit) die mögliche Tragweite der Eskalation – die globale Zerstörung.

Die Formulierung des Imperativs an dieser Stelle ist einfach. Analog zu der obigen Formulierung kann man sagen: Handle nicht so, dass du die Welt bzw. die Staaten dieser Welt zerstörst. D.h. suche in Konflikten einen anderen Weg, als diesen.

Kants eigener Erörterung des kategorischen Imperativs, die, soviel sei gesagt, kein eigentlicher Gegenstand seiner politischen Theorie ist, liegt diese zweite Lesart, so behaupte ich, näher als die erste Lesart. Auch der Staatstheorie liegt die zweite Lesart näher. In beiden Fällen geht es Kant um die Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Verhältnisse, um ihre unbedingte Bedeutung.

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