vonzwiespalt 01.11.2022

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Der Begriff der Zeitwendende begleitet den Russlandkonflikt beinahe seit Beginn des Jahres. Nun wurde er (lange erwartet, wie viele sagen) durch Steinmeier um den Begriff des Epochenbruchs ergänzt. Beide Wendungen – von den höchsten deutschen Würdenträgern auf den Weg gebracht – sollen eine neue historische Konstellation des Politischen markieren. Im Kern kann man wohl zwei Punkte festmachen: Zum einen geht es um das Ende der europäischen (oder sogar globalen) Sicherheitsarchitektur, die nach dem Kalten Krieg zur Voraussetzung der sich umreißenden Weltgesellschaft geworden ist. Zum anderen wird die neue Unsicherheit als Konflikt oder Kampf zwischen Demokratien und Autokratien gefasst. Wichtig ist zu sehen: Da der Krieg als Konstituens des Politischen begriffen wird und dieser Krieg sich zwischen Demokratien und Autokratien abzeichnet, macht es keinen Sinn, zwischen Demokratien hier und da zu unterscheiden. Es geht der Zeitenwende oder dem Epochenbruch darum, dass die Demokratien einen gemeinsamen Kampf (für die Demokratie als solche) führen.

Nun zum Liberalismus, denn die Frage stellt sich: Wie passt der Liberalismus mit einem Programm des Kampfes von Demokratie und Autokratie zusammen? Der Liberalismus wurde als Konzept des rechtlichen Schutzes gegen die Macht des Staates ins Leben gerufen. Hier besaß er seit seinen Anfängen einen blockierenden Einfluss gegen das, was von Seiten des Staates dem einzelnen abverlangt werden kann. Mit dem Schutz des einzelnen wurden aber auch der individuelle Wille und das subjektive Gewissen aufgewertet. Der protestantische Bruch mit den paternalistischen Elementen des Christentums lässt sich als Hinwendung zu einem Rechtsverständnis lesen, das den individuellen Freiheitsanspruch als Wertschätzung einer Gewissensabwägung zur Geltung bringt. Damit geht es nicht nur um ein Motiv der Nicht-Beherrschung oder der Freiheit von äußerer Gewalt – so wird der Liberalismus oft rezipiert. Es geht auch um den Anspruch der politischen Nicht-Beteiligung, der als Schutzraum des Selbst und seines bestimmten Verhältnisses zur Welt gesehen werden muss.

Ich denke nun, dass der Appell eines großen und verbindenden Kampfes für die Demokratie ein wichtiges Merkmal dessen überdeckt, wofür der Liberalismus steht. Wird die Demokratie mit der konfliktuellen Verteidigung ihres Bestandes allzu eng geführt (wie das oft der Fall ist – auch in der Steinmeier-Rede), droht der skizzierte, liberale Freiheitsanspruch verloren zu gehen. Der Kampf für die Demokratie nimmt dann, man kann sagen, illiberale Züge an, weil es keinen legitimen Rückzugsort für den einzelnen mehr gibt, der im politischen Geschehen in Anspruch genommen werden könnte. Die Möglichkeit der legitimen Einnahme einer Position der Nicht-Beteiligung wird in der Mobilisierung einer entweder/ -oder Perspektive auf die Regimefrage schrittweise ausgehöhlt. Das ist aus liberaler Sicht nicht nur besorgniserregend, sondern auch seltsam, da die illiberalen Motive der Herrschaften anderer Staaten gewöhnlich im Zentrum der westlichen Kritik stehen – Demokratien ohne die Achtung dieses persönlichen Schutzraums, so sagt man ja, seien keine.

Dem ungeachtet wird das liberale Rückzugsmoment hier nicht nur übergangen, sondern es wird (zumindest implizit) auch diskreditiert. Das ist dann der Fall, wenn all jenen, die diesen liberalen Rückzugsort in Anspruch nehmen, um nicht in den Modus des Konflikts mit einzustimmen, unterstellt wird, sie verstünden den Ernst der Lage nicht, ihnen fehle die nötige Bildung oder sie richteten sich in einer bürgerlichen Bequemlichkeit ein. Der ethisch-freiheitliche Wert der Gewissensprüfung, der als Würdigungs- und Schutzinstanz persönlicher Urteile angebracht ist, wird damit auf einen persönlichen Mangel (gar eine undemokratische Gesinnung) reduziert und verkannt. Selbst der Umstand, dass das Leid, das mit jeder Beteiligung an einem Krieg untrennbar verbunden ist, auf eine ethische Zwickmühle verweist, in der die Würde des Urteilssubjekts zum Ausdruck kommen kann, wird nicht ernst genommen.

Natürlich gibt es einen Punkt im Konflikt zwischen Staaten, an dem sich alles, was es gibt, in den Zustand des Krieges wendet. Ein liberaler Anspruch muss es aber sein, diesem Punkt und damit dem Moment, an die dem liberalen Motive eingezogen werden, nicht vorzugreifen.

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