Was der Begriff des Populismus genau bedeutet – darin gehen, wie bei allen Begriffen, die Ansichten auseinander. Ich möchte mich hier, in einer knappen Fassung, auf drei Merkmale stützen, die von weiten Teilen der Forschung vertreten werden: 1) Konstellation des Volkes gegen die Eliten, 2) Pluralismus- und Liberalismuskritik, 3) Überhöhung des Volkswillens. In einigen Worten wiedergegeben sagen die Kriterien aus, dass der Populismus erstens als Elitenkritik auftritt, bei der das Volk gegen die Eliten in Stellung gebracht und der Willen des Volkes, als eigentlich demokratischer Wille den Standpunkt der (selbstbezogenen, korrupten, verschworenen etc.) Eliten widerlegen soll. Oft spielt dabei auf Seiten der Populisten (ironischer Weise) der Führerkult in dem Sinne eine große Rolle, dass eine herausgehobene Persönlichkeit den Willen des Volkes kanalisiert, deutet und gegen den Willen der Eliten setzt. Zweitens macht der Populismus eine Pluralismus- und Liberalismuskritik stark – der Liberalismus ist für den Populismus im doppelten Sinne ein Problem: auf der einen Seite stehen die liberalen Rechte einem Willen des Volkes inhaltlich im Weg, der seine Vorstellung von politischer Ordnung ungeachtet einer bestimmten, freiheitlichen Gliederung durch diese Rechte umsetzen möchte. Auf der anderen Seite wird der Liberalismus als >Gesellschaftsprojekt< kritisiert, das die Lebensform und den Zusammenhalt von Gemeinschaften zersetzt. In beiden diesen Fällen zeigt sich auch der Pluralismus für den Populismus als Problem, weil er für eine Vielzahl von Freiheits- und Handlungsräumen steht, die der Liberalismus als Rechtsform und Multiplizität von Lebensprojekt in die Wege leitet. Schließlich – das zielt auf den dritten Punkt – hebt der Populismus auf eine institutionelle Kritik vor allem der Rechte ab, ihrer Unverfügbarkeit, da er durch den Bestand der liberalen Rechte die ungehinderte Umsetzung des eigenen Willens begrenzt sieht.
Gegeben dieser Definition ist es interessant einen Blick auf die Positionierung der Regierung (bzw. des >bürgerlichen< und >linken< Lagers, der CDU/ SPD/ in Teilen Grüne/ in Teilen Linkspartei) gegenüber dem >populistischen< Lager in der Politik der Migrations- und Corona-Krise zu werfen. Hier tut sich nämlich eine seltsame Verschiebung auf: Hat sich – flapsig gesprochen – die Regierung in der Migrationspolitik 2015ff. für das Paradigma der Freiheit anstelle des Paradigmas der Sicherheit bzw. des starken Staates ausgesprochen und hier immer wieder auf liberale Rechte bezogen, hat das populistische Lager auf das Paradigma der Sicherheit gepocht und dabei weniger Rechte, sondern den starken Staat und Bezüge auf das >eigentliche< Volk bemüht. In der Corona-Krise dreht sich das Bild aber gewisser Weise um: Nun ist es das populistische Lager, das sich auf das Paradigma der Freiheit beruft, den Bezug auf Rechte stark macht und der Regierung eine Politik von Oben vorwirft, wohingegen die bürgerlichen und linken Strömungen eine verstärkte Politik der Sicherheit fahren und mehr auf starke Staatlichkeit, auf Regierungs- und Ordnungsaspekte bezogen sind, als auf eine Insistenz einer Politik der Freiheit durch Rechte – die Geltung der Rechte wird von der Sicherheit abhängig gemacht, Rechte gegenseitig sicher genießen zu können.
Auch wenn natürlich die Regierung nicht mit einem starken Volksbegriff operiert, wie es dem Populismus eigen ist, und ihr damit sozusagen das eigentümliche Merkmal des Populismus abgeht, ist hier doch eine Verschiebung erkennbar, in der die nicht-populistische Seite Eigenschaften übernimmt, die mit dem Populismus verbunden wurden und vice versa. Bezüglich des Schwenks der Regierungspolitik könnte man von einem autoritären Revival klassischer Staatstheorie sprechen, einem Wiederaufleben obrigkeitsstaatlicher Politik mit Gemeinwohlemphase. Das gilt für den schematischen Wechsel vom Liberalismus zur Staatlichkeit (von Freiheit zur Sicherheit), es gilt aber auch für die Überhöhung des Willensbegriffes, der vormals dem Recht untergeordnet war und nun eine stärkere, gewaltenteilige Instanzen (Grundrechte, Föderalismus etc.) tendenziell ausschaltende Rolle einnimmt. Schließlich würden Kritiker sagen, dass auch, wenn der Volksbegriff hier keine große Rolle spielt, unter der Hand ein Gemeinschafts- und Gemeinwohlbegriff eingeführt wurde, der eine ähnliche Funktion erfüllt – der also in einigen Zügen den Homogenisierungsanforderungen der Populisten (gleichgemachten und gleichgeforderten Verhaltens) nicht nachsteht und den institutionellen Anker der Rechte, die bei der Migrationskrise noch den Staat in die Schranken gewiesen haben, nun auf Grundlage von Staatlichkeit und überlegenem Führungswissen aushebelt. Man könnte also unter Vorbehalt sagen, dass ein Kontrast zwischen Regierung und populistischem Lager bestehen bleibt, die Inhalte und Politiken aber gewisser Weise ausgetauscht werden (wobei z.B. die FDP in ihrer liberalkonservativen Fasson sowohl in der Migrations- wie auch der Corona-Krise irgendwie zwischen beiden Lagern stand).
Das ist zugegeben eine irgendwie irritierende These, weil die gewohnte Zuordnung des Begriffs Populismus/ Autoritarismus zu bestimmten Akteuren unterlaufen und das normative Unbehagen, das man mit ihnen verbindet, durcheinandergeworfen wird. Die Regierung wird autoritär und Populisten zu Freiheitskämpfern? Natürlich kann man versuchen den Populismus-/Autoritarismusbegriff in seiner gewohnten Zuordnung zu erhalten. Man könnte z.B. sagen, dass hier generelle Positionen zur Migration nicht tangiert sind oder Aspekte der Solidarität und (neo-)liberaler Ansprüche nach wie vor ähnlich verteilt bleiben: So wäre das populistische Lager weiterhin Migrationskritisch, Unternehmerfreundlich bzw. stark am freien Markt und seinen Ungleichheiten orientiert und in vielen Hinsichten unsolidarisch, wohingegen der andere Strang nach wie vor Solidarität einfordern und weiter den Kosmopolitismus favorisieren würde, auch wenn dieser gegenwärtig nicht im Zentrum der politischen Agenda steht. Ähnlich wäre es mit der der Elitenkritik, die man weiterhin beim populistischen Lager findet.
Allerdings ist die Sache nicht ganz so einfach und man muss eine größere Anstrengung unternehmen, um die Kontinuitäten zu halten bzw. weitere Kontinuitäten herzustellen. Auf der einen Seite stellt sich z.B. die Frage, ob das Pandemiemanagement der Regierung schlichtweg mit einem herkömmlich-liberalen Rechtsbegriff operieren kann, der in der Vergangenheit verwendet wurde, oder hier ein neues oder zumindest anderes Rechtsverständnis angebracht ist (da ja nun offenbar Sicherheit, Würde und Recht auf eine andere Weise verbunden werden). Auf der anderen Seite können FDP- und Populismus-Fraktionen bereits beim Aspekt der Solidarität einwenden, wo diese denn im Hinblick auf Kleinunternehmern etc. bleibe – aber auch beim Pluralismus bzw. den Freiheitsansprüchen stellt sich die Sache schwieriger dar, denn es wird nun, wie gesagt, nicht ein begrenzendes Moment betont, sondern ein emphatischer Bezug auf erweiterungswürdige Handlungsmöglichkeiten, der nicht einen starken, sondern schwachen Staat fordert und überzogenes Sicherheitsdenken kritisiert.
Ich denke, man muss hier die Begriffe (Freiheit, Solidarität etc.) durch die Brille bestimmter Politiken lesen (also der Migrationspolitik, Coronapolitik, Unternehmenspolitik usw.), um die Forderungen der Handlungsfreiheit, Solidarität etc. als ganz bestimmte Sätze von Forderungen zu verstehen. Das gilt für beide Seiten: blickt man auf die derzeitigen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit – vom häuslichen Lockdown bis zur Schließung von Stadt- und Landesgrenzen – wird die Globalität der Migrationspolitik der letzten Jahre geradezu auf den Kopf gestellt. Trotzdem lässt sich Begrenzung und Öffnung als Folge bestimmter Agenden lesen und nicht als pauschales Urteil und eine pauschale Position für oder gegen Schließung, für oder gegen Freiheit bzw. Sicherheit. Das bürgerlich-linke Lager ist dann weiterhin nicht eigentlich obrigkeitsstaatlich, weil es auch in der Pandemie seine kosmopolitische Haltung im Prinzip nicht verliert und das populistische Lager bleibt weiterhin populistisch, weil es Freiheiten und Rechte nur im Rahmen eines ganz bestimmten Bezuges fordert – eben des staatlich-nationalen.
Obwohl sich mit diesem Zug durchaus Kontinuitäten in (und zwischen) beiden Lager feststellen lassen und die Zuordnung vom Populismus bzw. Autoritarismus besser vorgenommen werden kann als zuvor, ist die begriffliche Schwierigkeit nicht vollständig geklärt. Man kann das z.B. mit Blick auf den Rechtsbegriff zeigen. Hier wäre mit guten Gründen zu sagen, dass über Freiheiten und Rechte so zu reden, als wäre die Einschränkung der Handlungsfreiheit im nationalstaatlichen Kontext eine sehr andere als im globalen Bezug, ein Missverständnis ist, denn die Universalität des Rechts und also der Freiheit sei in beiden Fällen gleich eingeschränkt (so, dass auch das >Nationalstaatliche< eine globale Dimension besitzt). Der Umstand also, dass Populisten in der Corona-Krise auf liberale Rechte insistieren, ist dann genau so mit einer Dimension der Universalität verbunden, wie es das Einstehen der Regierung für Migrationspolitik gewesen ist. Im Umkehrschluss muss die Begrenzung der Rechte in beiden Fällen als Begrenzung auch universalistischer Ansprüche gelesen werden. Wie würden wir – so könnte man in einem Gedankenspiel fragen – von den politischen Lagern in einer Welt sprechen, in der Jahrzehnte lang nämliche Politik unter Coronabedingungen fortgesetzt wird? Wie wäre ein Kosmopolitismus zu bewerten, der Politiken häuslicher Quarantäne etabliert? Nimmt man also die >universalistische< Entgegnung an, wird die gewonnene Trennung von Populismus/ Autoritarismus in Teilen wieder eingezogen.
Man kann nun noch einen Schritt weiter gehen und im Rechtsbegriff verschiedene Rechtsformate und Universalitätsdimensionen unterscheiden, um die Zuordnung von populistischen und progressiven Lagern, die man gewohnt ist, weiter anzunähern. Trotzdem scheint es so zu sein, dass man die Zuordnung nicht vollständig wieder herstellen kann und eher darauf hoffen muss, dass sich die Situation bzw. die Krisenszenarien selber ändern, um die einschlägigen politischen Kurse der einzelnen Lager wieder in den Vordergrund der politischen Agenda zu rücken und sie ausdrucksstark werden zu lassen.
Freilich gibt es Wege, die progressiven Lager von der Diagnose und Kritik autoritärer bzw. obrigkeitsstaatlicher Politik zu retten, ohne in das Fahrwasser des Populismus zu geraten – dafür müsste man entweder einen anderen Demokratiebegriff stark machen oder die begrifflichen Ressourcen nutzen, die der liberale Rechtsbegriff bietet. Hier ginge es z.B. darum, stärker die gegenwärtig bevorzugte Konstellation von Recht, Würde und Sicherheit zu betonen und so zu verbinden, dass der alte Leitsatz der Vertragstheoretiker a la Kant – demnach die Freiheit des einen dort aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt – von der bisherigen Gewichtung der eigenen Freiheit bzw. der Freiheit >des einen< auf die Freiheit und Vereinbarkeit mit der Freiheit >des anderen< verschoben wird (https://blogs.taz.de/zwiespalt/zur-spannung-zwischen-leben-und-freiheit-ein-weiterer-versuch-recht-leben-freiheit-politik-konlikt-corona-moral-ethik-beschraenkung-sicherheit-pandemie/). Alternativ könnte man dem liberalen Rechtsbegriff eine gesellschaftstheoretische Lesart verpassen (https://blogs.taz.de/zwiespalt/zurueck-zur-normalitaet-des-grundgesetzes-normalitaet-ethik-moral-recht-grundgesetz-verfassung-deutschland-gesetz-ordnung-staat-staatsordnung-politik-privateigentum-grundrechte-menschenrechte-gesellsc/). Allerdings muss man sagen, dass sich große Teile des progressiven Lagers gerade nicht, oder nur sehr begrenzt, auf ein solches Rechts- und Freiheitsverständnis und die damit verbundenen Möglichkeiten und Ansprüche berufen, so dass ihre Rettung auf diesem Wege durchaus umständlich ist.