Nicht wenige Leute fordern derzeit die Normalität des Grundgesetzes wieder ein, sie haben die Einschränkungen der Corona-Administration satt und wollen ihr früheres Leben zurück. Ich meine, klar, das ist sehr verständlich – wem gefällt schon eine Beschneidung der eigenen Freiheiten, eine Reduktion des öffentlichen bzw. kulturellen Lebens, ein Mangel sozialer Kontakte? In dieser Hinsicht ist die Rückkehr zu einer Normalität, die es in einer Gesellschaft vor Corona gegeben hat, durchaus wünschenswert. Allerdings sollte die Rede von Normalität und der Wunsch nach Normalität nicht darüber hinweg täuschen, dass es möglich wäre eine Normalität des Grundgesetzes ohne Umwege anzunehmen. Normalität macht, als Kriterium und positiver Bezugspunkt, zwar beispielsweise Sinn, um eine anthropologische These aufzustellen und ihre politische Geltung einzuklagen – so z.B. die Vernunftfähigkeit des Menschen in Bezug auf die allgemeine Geltung der Menschenwürde. Normalität macht auch Sinn, um im Ausnahmezustand des Krieges eine Unerträglichkeit zu markieren, die es gibt, die es aber nicht gab und die es nicht geben sollte – deren Änderung oder Beseitigung daher gefordert und angebracht ist. In beiden Fällen ist der Bezug auf ein Grundgesetz und seine Normalität gut möglich, um entweder eine erweiterte Inklusivität (also seine erweiterte, allgemeine Anwendung) oder, im Falle des Krieges, generelle Geltung, oder Wiedereinsetzung einzufordern. Allerdings gibt es auch eine seltsame oder problematische Rede von der Normalität des Grundgesetzes, die in den gegenwärtigen Forderungen nach Normalität enthalten ist.
Schwierig wird eine solche Rede vor allem dann, wenn mit einzelnen Grundrechten wie z.B. dem Privateigentum, der Meinungs- bzw. Redefreiheit oder Freizügigkeit etc. ein klarer, unveränderlicher Aussagegehalt verbunden wird, der die gesellschaftlichen Verhältnisse immer und überall nach dem selben Muster ordnet und insofern Normalität, normale Zustände erzeugt. Dabei geht es weniger um das Problem, das Grundgesetz oder die Grundgesetze insgesamt als Unveränderliche festzuschreiben, auf die sich Gesellschaften unendlich lange fortbeziehen können und sollen (wie es in der U.S. Verfassungstradition den Anschein hat). Es geht vielmehr um die Vorstellung und den Anspruch, solche Rechte mit einer Bestimmung auszeichnen zu wollen, die selber Grundrechtsstatus besitzt. Damit gelangt man zu Aussagen wie: >In (unserer) Gesellschaft garantiert das Grundrecht des Privateigentums die Vermögensverhältnisse genau so, wie sie sind.< Oder: >In (unserer) Gesellschaft gilt, nach dem Grundgesetz, die Meinungs- bzw. Redefreiheit – und deshalb können wir auf die Meinungs- bzw. Redefreiheit so zugreifen, wie wir es tun.< Alle diese Rechtsbezüge führen die konkrete (soziale) Rechtspraxis auf den unmittelbaren Ausfluss der Grundrechts selber zurück, womit Rechtspraxen und gesellschaftlichen Verhältnissen eine Notwendigkeit zugesprochen wird, für die das Grundrecht (und seine Strahlkraft) verantwortlich ist.
Die Schwierigkeit dieser Vorstellung zeigt sich schnell, wenn man sich der Frage der Rechtskonflikte zuwendet. Hier muss man klären, wie sich Rechte im Falle ihrer Überschneidung verrechnen (verhalten) – man muss also Begründungen dafür finden, warum ein Grundrecht in einem Fall eingeschränkt wird, in einem anderen Fall aber ein anderes Grundrecht einschränkt usw. Nun könnte man den Eindruck haben, damit sei ein vernachlässigbares und randständiges Problem benannt – jedoch ist das Gegenteil der Fall. Vielmehr kann man die Vorstellung einzelner (neben einander her bestehender) Rechte als theoretische Fiktion betrachten, ihre gesellschaftliche Verortung dagegen als prinzipielle Verschränkung und also Begrenzung verstehen. Gesellschaften sind demnach nicht hier und da konfliktuell, sie sind voller Grundrechtskonflikte – man kann sogar behaupten, Gesellschaften zeichnen sich als die Gesellschaften, die sie sind, dadurch aus, wie sie mit Grundrechtskonflikten umgehen. Um das zu verdeutlichen, kann man den ständigen Konflikt des Privateigentums und der Freizügigkeit erinnern (der natürlich nicht immer als Konflikt ausgetragen wird), Konflikte der Rede- bzw. Meinungsfreiheit mit dem Minderheitenschutz, oder, gerade im Kontext der Corona-Versammlungen relevant, ein Konflikt zwischen der Versammlungsfreiheit und körperlicher Unversehrtheit. Was daran konfliktuell ist, lässt sich durch einiges Fragen zum Vorschein bringen. Sollen beispielsweise Privatpersonen (Unternehmen) in unbegrenztem Ausmaß öffentliche Räume und Ressourcen einkaufen können und sich damit ein exklusives Nutzungsrecht (auf Boden, Infrastruktur, Wasser) sichern? Sollen Menschen gegen Minderheiten hetzen dürfen, wenn die Hetze gesellschaftliche Entwertung, Bedrohung und Verfolgung der Minderheiten zur Folge hat? Wichtig ist zu betonen, dass philosophische Grundrechtsbegründungen in der Regel keine Aussagen über Rechtskonflikte treffen, sondern allgemeine Begründungen dieser Rechte liefern. Gleichzeitig kann man sehen, dass für die Ebene der Rechtskonflikte allgemeine Aussagen nicht einfach getroffen werden könnten, da es hier mitunter um situative oder soziale Konstellationen geht. So kann die Möglichkeit der freien Rede davon abhängen, in welchem gesellschaftlichen Klima (des Wohlwollens, der Spaltung, oder praktischen Bedrohung von Minderheiten) sie eingebettet ist, Regelungen zur Versammlungsfreiheit können mit dem Infektionsgeschehen und der >Versammlungsdisziplin< zusammenhängen und die Rolle des Privateigentums kann durch die Menge öffentlicher Räume und Ressourcen, das Ausmaß sozialer Ungleichheit vermittelt sein. Die Einschätzung oder Beantwortung dieser Punkte jedenfalls spielt sich nicht auf Grundrechtsebene ab, sondern auf der praktischen (auch historischen), wandelbaren Ebene situativer oder sozialer Konstellationen.
Schließlich besteht nicht nur eine Spannung zwischen Rechten, sondern auch innerhalb einzelner Rechte selber. Das Grundrecht auf Privateigentum sagt im Grunde nämlich nichts über die Reichweite (das Ausmaß) möglichen Privateigentums aus – geht es um ein Recht an lebensnotwendigern Gütern, an Produktionsmitteln (an welchen?), an Wohneigentum oder um unbegrenztes Eigentum überhaupt? Antworten finden sich auch hier über eine Argumentation auf zweiter Ebene. Dann wird das Privateigentum beispielsweise entlang des Arbeitsbegriffs gedacht (Eigentum durch Arbeit) – wobei umstritten bleibt, wie viel Eigentum durch wie viel, und vor allem auch durch welche Arbeit angeeignet werden kann. Oder, das Privateigentum lässt sich durch ein gesellschaftlich Notwendiges begrenzen, also z.B. durch Steuern für Polizeikräfte. Auch hier aber kann gefragt werden, was das Notwendige ist und wie weit das Notwendige in Einzelfall geht – wie stark also Polizei- und Verwaltungskräfte besetzt sein müssen, oder welche Institutionen es zusätzlich geben sollte (Kartellämter, Umweltschutzbehörden etc.). Obwohl diese unterschiedlichen Perspektiven intellektuelle Probleme betreffen, hängen sie auch von der sozialen und technische Beschaffenheit von Gesellschaften, ihrer Einbettung in (ökologische) Umwelten und den sich ergebenden (mehr oder weniger bewussten) Nöten, Möglichkeiten und Erfordernissen ab. Es ist erneut der Blick auf die historische Situierung und Selbstverortung von Gesellschaften, mit der die Frage einer Konkretisierung der Grundrechte erst sinnvoll (oder erst überhaupt) beantwortet werden kann.
Dabei geht es allerdings nicht um die mögliche Antwort einer Gesellschaft – diese Fiktion haben moderne Gesellschaften zum Großteil verbannt. Vielmehr stellt Gesellschaft ein Konglomerat diverser Akteure, Dynamiken, Konflikte und Allianzen dar, die unterschiedliche Antworten der historischen Situierung und Selbstverortung von Gesellschaft geben – Antworten freilich, die nicht nur einfach unterschiedlichen Begriffsauslegungen und Bewusstseinen geschuldet sind, sondern immer auch mit der sozialen Position dieser Akteure, mit persönlichen Interessen, Lebenslagen und gesellschaftlichen Macht- und Einflussmöglichkeiten zusammenhängen. Damit aber wird die Rede einer Normalität der Grundrechte bzw. des Grundgesetzesnicht nur auf ein plurales Paradigma vielfältiger Bezüge erweitert, sie bekommt schließlich etwas Verfängliches und Krudes, da besonders einflussreiche, gesellschaftliche Akteure ihre Vorstellung der Grundrechte öffentlichkeitswirksam einbringen und Gesellschaft durch eine Engführung der Rechte in bestimmte Richtungen lenken können – meistens eine Richtung, in der das eigene Interesse als allgemeines Interesse ausgegeben und verdeckt werden kann. Es ist kein Zufall, dass die >allgemeine< Vorstellung einer Unantastbarkeit des Privateigentums als Ergebnis einer historischen, liberalen Kampagne verstanden werden kann, die immer wieder die Stärke ihrer gesellschaftlichen Machtposition ausgespielt hat, um Eingriffe in das Grundrecht – vor allem gegen die betuchten Schichten – mit einer Horrorphantasie des Anfangs vom Ende – der beginnenden Anarchie oder des beginnenden Faschismus gleichzusetzen. Hier findet sich auch der populäre und abwertende Begriff der Neiddebatte wieder, Privatrechtseingriffe, abseits des wirklich Notwendigen, auf Motive kleinbürgerlicher Gier und gesellschaftlichen Scheiterns zurückführen zu wollen.
Geht man nun von einer gesellschaftstheoretischen Lesart der Grundrechte aus, kann man also das, was sie bedeuten sollen, nicht seinerseits auf Grundrechtsebene verorten. Hier ist eine soziale Dynamik, eine soziale Deutungs-, Bezugs- und Durchsetzungspraxis im Spiel, ein vorübergehendes Ergebnis sozialer/ politischer Kräfteverhältnisse (Selbstverständnisse), das durch Praxen und Konstellationen weder abgeschlossen ist, noch das Grundrecht als solches festlegen kann. Wenn man sich hier – unkritisch, in guter Absicht, oder wie auch immer – auf eine Normalität des Grundgesetzes beruft, um einen vergangenen Zustand wieder lebendig zu machen, dann beruft man sich immer auch auf einen Zustand, der eine Entscheidung und Festschreibung sozialer Dynamiken und Verschiebungen zu Gunsten bestimmter, sozialer Akteure, ihrer sozialen Positionen und Weltbilder bedeutet (damit also zu Ungunsten anderer Akteure behauptet wird) – der aber gerade nicht einen schwachen, vielleicht neutralen, von allen geteilten und zwingend gerechtfertigten Grundgehalt besitzt (das Geteilte am Grundgehalt ist sozusagen das unbestimmte und vor-gesellschaftliche dieser Rechte). Dass gesellschaftliche Konstellation mit einer gefühlten Allgemeinheit (allgemeinen Einstimmung) verbunden werden, liegt oft daran, die (unterschwellige) soziale Komplexität dieser Konstellationen (falscher Weise) in solche vereinfachenden Bezüge des Rechts zu fassen, wobei es sogar die Logik der Rechte selber, man kann sagen, das DEMOKRATISCHE der Rechte ist, das auf ihren Deutungsanspruch aus gesellschaftlichen Verhältnissen heraus, auf dessen Wandelbarkeit (oder zumindest veränderbare Feststellbarkeit) verweist.