»I found my thrill …«
Den ersten Takt überlässt der Sänger noch der Band, dann stimmt er ein: »… on Blueberry-Hill«. Seine Stimme tönt warm und weich, die harten Kanten des russischen Akzents klingen putzig. Lässig steckt der Hobby-Musiker eine Hand in die Hosentasche. Ist er aufgeregt und weiß nicht wohin mit seinen Händen? »Higher than the moon we’ll go.« Er besingt Liebesschwüre, die nie wahr geworden sind, und wendet sich direkt an seine entfernte Geliebte: »You are part of me still.« – Nicht nur Gerard Depardieu ist begeistert, zuletzt hält es niemanden mehr auf dem Sitz. Der tosende Applaus ist ihm ein bisschen peinlich, ist Wladimir Putin sogar verlegen? Bevor er die Bühne verlässt, flüstert er dem Saxophonisten noch schnell etwas ins Ohr.
Gut zehn Jahre nach der Veröffentlichung dieser bizarren Bilder hat Putin seinen Thrill gefunden und die Ukraine zu seinem Blaubeerhügel gemacht. In einem Herrengespräch am Telefon hat er Emmanuel Macron intime Details zu seiner neuen Eroberung verraten: »Ob’s dir gefällt oder nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne«. Dieser Liedvers könnte glatt aus der Feder unseres alten Dichterfürsten Goethe stammen, aber das »Heidenröslein« ist ein anderes Thema …
Verstehen bedeutet nicht, Verständnis zu haben
Ich habe die Worte meines Politik-Professors noch im Ohr: In den internationalen Beziehungen seien die Interessen der Nationalstaaten zentral, auch Institutionen, Bündnispflichten und über die Jahre gewachsene Loyalitäten seien relevante Variablen. Die einzelnen Akteure hingegen würden kommen und gehen; man solle den Einfluss einer Regierungschefin oder eines Außenministers nicht überschätzen. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Ian Kershaw analysiert in seinem Buch »Das Ende« einen solchen Sonderfall. »Der Führer« verfügte bis zuletzt über eine so große charismatische Strahlkraft, dass die Eliten aus Militär und Partei ihm gegen jede Vernunft in den totalen Untergang gefolgt sind. Zwar konnte Wladimir Putin im Laufe seiner Regentschaft seine Macht ausbauen und konsolidieren. Die Demonstrationen aus der Zivilgesellschaft gegen die Teilmobilmachung und das regionale Zurückweichen der russischen Truppen deuten jedoch daraufhin, dass weder Bevölkerung noch Militär ihm so blind folgen wie die Deutschen dereinst ihrem Führer. By the way: Hatte in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges jemals eine Gruppe von Deutschen öffentlich gegen Hitler demonstriert? Nichtsdestotrotz ist Putin auf russischer Seite der entscheidende Akteur. Die Analyse seines Mindsets ist politisch hochrelevant. Ihn verstehen zu wollen, darf nicht damit verwechselt werden, Verständnis für ihn zu haben. Vielmehr geht es einzig und allein um den Versuch, sein zukünftiges Verhalten besser einschätzen zu können.
»This is not a bluff«
Die jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine in der Region Charkiw sind offensichtlich. Selbst die versierte strategische Kommunikation des Kremls kann das nur mühsam als »Umgruppierung« verschleiern. Putin reagiert durch kurzfristig angesetzte Beitritts-Referenden in den »befreiten« Gebieten Donezk und Luhanzk sowie mit der Teilmobilmachung. Beide Maßnahmen scheinen sorgfältig aufeinander abgestimmt zu sein. Mit den Referenden verwandeln sich die eroberten Gebiete aus Putins Sicht formal in russisches Territorium. Die Rückeroberung des Donbass durch die Ukraine wäre nach dieser verqueren Auffassung gleichzusetzen mit einem Angriff auf die Russische Föderation. In seiner gestrigen Rede, die vom Kreml auch in englischer Übersetzung zur Verfügung gestellt wurde, wendet sich Putin auch an die westliche Öffentlichkeit und erinnert an das eigene nukleare Waffenarsenal:
»In the event of a threat to the territorial integrity of our country and to defend Russia and our people, we will certainly make use of all weapon systems available to us. This is not a bluff.«
»Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen. Dies ist kein Bluff.«
Wie tickt Putin?
Die Älteren werden sich erinnern, dass die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch Willy Brandt in der alten Bundesrepublik Deutschland keineswegs unumstritten war. Besonders Vertriebenenverbände konnten sich nicht leicht damit abfinden, ein für allemal die territorialen Ansprüche abzutreten. Das Schlesiertreffen 1985 stand unter dem Motto »40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser«. Dr. Herbert Hupka (CDU) konnte sich dabei auch noch Jahrzehnte nach Kriegsende auf die Unterstützung seiner Landsmannschaft verlassen. In gewisser Weise kann ich das nachvollziehen, ohne es gutzuheißen. Schließlich war er in einer Zeit groß geworden, in der Schlesien tatsächlich zum Deutschen Reich gehört hatte.
Verschiedentlich wurden Wladimir Putin »Phantomschmerzen« attestiert, weil er die Schrumpfung der Sowjetunion zur heutigen Russischen Föderation mental genauso wenig verwunden habe wie Herbert Hupka damals den Verlust Schlesiens. Die Referenden in Luhanz und Donezk stellen für Putin lediglich eine Formalität dar, um die Rückkehr zur guten alten Ordnung in trockene Tücher zu bringen.
Im Juli 2020 stimmte die russische Bevölkerung einer neuen Verfassung zu. Diese gestattet es dem russischen Präsidenten, bis 2036 im Amt zu bleiben. Putin hat Jura studiert und begreift Gesetzgebung als Machtinstrument, um seinen Entscheidungen Geltung zu verschaffen. Die von der Duma verabschiedeten Gesetze hält er für geltendes Recht. Sonst hätte er sich das Verfassungs-Referendum sparen können. Durch den offiziellen Anschluss der besetzten Regionen an die Russische Förderation und die Teilmobilmachung schafft Putin die rechtliche Grundlage dafür, den Konflikt nach Belieben weiter zu eskalieren.
Blufft Putin?
Nazi-Juristen haben durch ihre menschenfeindlichen Gesetze Unrecht in »Recht« verwandelt, sodass die Massenmörder in den KZs und anderswo sich auf den Standpunkt zurückziehen konnten, sie würden nur ihre Pflicht tun. Auch wenn die Abstimmungen in Luhanzk und Donezk aus westlicher Sicht keine Legitimität besitzen, erweckt Putin den Eindruck, die daraus erwachsenden vaterländischen Pflichten gewissenhaft erfüllen zu wollen. Seine Rede endet wie folgt:
»It is our historical tradition and the destiny of our nation to stop those who are keen on global domination and threaten to split up and enslave our Motherland. Rest assured that we will do it this time as well.«
»Es liegt in unserer historischen Tradition, in dem Schicksal unseres Volkes, dass wir denjenigen Einhalt gebieten, die nach der Weltherrschaft streben, die damit drohen, unser Vaterland, unser Heimatland zu zerstückeln und zu versklaven. Seien Sie versichert, dass wir es auch dieses Mal tun werden.«
Bereit zur Eskalation
Die Erzählung von der »militärischen Spezialoperation« ist am Ende, sie diente von Anfang an dazu, die eigene Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen. Ab sofort zieht Russland in den Krieg – und Soldaten aus der Mitte der Gesellschaft ein. Diese Maßnahme ist unpopulär. Putin nimmt sehenden Auges in Kauf, in der Bevölkerung an Unterstützung zu verlieren. Das ist auch für einen Autokraten ein Spiel mit dem Feuer. Er demonstriert nicht nur Entschlossenheit. Er ist tatsächlich entschlossen und erhöht den Einsatz. »Higher than the moon we’ll go.« Fortan steht er gegenüber den Russ:innen und der Weltöffentlichkeit im Wort. Putin wird alles tun, damit seine »Geliebte« sich fügt: »You are part of me still«. Er sagt: »Das ist kein Bluff.« Er hätte auch sagen können: »Ich werde es euch schon zeigen!« Würde ein Mann wie Wladimir Putin kneifen? – Er wähnt sich auf der richtigen Seite der Geschichte. Blufft er? Ich fürchte nein. Er ist bereit und entschlossen, den Konflikt zu eskalieren. Koste es, was es wolle.
PS: Wenigstens gibt es Anlass zur Hoffnung, dass Putins Umgebung ihm ab einem gewissen Punkt die Gefolgschaft versagen könnte, zumal die Unterstützung durch China und Indien zu bröckeln beginnt.
Interessante Links:
- Putin singt Blueberry-Hill.
- Rede Putins zur Teilmobilmachung vom 21.9.22 in englischer Sprache.
- J.W. von Goethe: Heidenröslein.
Beitragsbild:
Mylene2401: »Blaubeeren« via pixabay.