vonDarius Hamidzadeh Hamudi 17.10.2025

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

Mehr über diesen Blog

Ein Mann betritt hastig die U-Bahn. Er trägt einen wildwüchsigen Vollbart. Weder Jacke noch Mantel schützen ihn vor dem herbstlichen Wetter. Er hat nur einen Kapuzenpullover an, der einmal blütenweiß gewesen sein muss. Nunmehr ist er übersät mit grauen Schlieren. – Ist es eigentlich ein Zeichen von Dekadenz, dass modebewusste Menschen mit Bezahlapps hohe Beträge für den «Worn Look» überweisen, während andere sich notgedrungen nicht anders kleiden können? Oder ist es die Sehnsucht nach Schmutz und Dauer in einem cleanen Zeitalter, einer Epoche, die den eigenen Fortbestand durch permanente Updates herzustellen glaubt?

Ein Getriebener

Zwischen Daumen und Zeigefinger hält der Mann eine Karte der Kölner Verkehrsbetriebe. «Oh, hat er eine Fahrkarte?» Einmal mehr ertappe ich mich dabei, wie ich dumme Vorurteile reproduziere. Er steckt das Ticket in den Schlitz des Entwerters und der stempelt prompt einen Aufdruck darauf. Ein Glöckchen erklingt und der Fahrschein des bärtigen Herrn ist validiert. Die Türen schließen sich. Der Mann rennt hin und wirft sich zwischen die Türen, schiebt sie auf und springt hinaus. Die U-Bahn fährt los. Durch die Fenster sehe ich, wie er für einen Moment unschlüssig am Bahnsteig verharrt und dann eilig in Richtung Ausgang hastet.

Schuldig?

In Vorabendkrimis dienen abgestempelte Fahrscheine als Alibi: «Nein, ich habe den Liebhaber meiner Frau nicht umgebracht, ich saß in der U-Bahn.» Wahrscheinlich musste der Mann täglich Ausgrenzung und Diskriminierungen ertragen. Der abgestempelte Fahrausweis könnte also ein Schutzschild gegen falsche Verdächtigungen sein: sein Alibi für alle Fälle. Vielleicht wurde er vor vielen Jahren, als er noch keinen Bart trug, mehrfach ohne Fahrschein erwischt und wegen des «Erschleichens von Leistungen» ins Gefängnis gesperrt? Ein chronisches Schuldgefühl, ein Tick oder ein Zwang könnten davon übriggeblieben sein.

Absolution

Ich erinnere mich daran, wie eine Professorin im Seminar Michel Foucaults Theorie der Macht erläuterte: Früher liefen Straßenbahnschaffner durch die Wagons und knipsten mit ihren Zangen Löcher in kleine Fahrscheine aus Pappe. Heutzutage ersetzt Selbststeuerung die Kontrolle von außen. Der Fahrkartenentwerter validiert also nicht nur Tickets, sondern auch die Gültigkeit von Focaults Theorie. – Ob der bärtige Herr in seinem Leben durch alle Netze gefallen ist? Das Jobcenter erwartet Selbststeuerung von ihm. Es funktioniert so ähnlich wie der Entwerter, allerdings ohne Glöckchen und stattdessen mit Wartenummern und Fallmanagern in grauen Bureaus. – Hilft der abgestempelte Fahrschein dem Mann, sich allen Entwertungen zum Trotz wenigstens seiner Existenz zu vergewissern?

 

Bildnachweis

  • Aufnahme eines Fahrscheinentwerters (privat)

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/zylinderkopf/der-entwerter/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert