Eigentlich war Viktor ein kühler Rechner. Er ließ sich kein X für ein U vormachen und schlug nur zu Schnäppchenpreisen zu … Doch in der Mitte seines Lebens verlor er den Überblick. Warum Viktor nicht schon früher eine Pilgerfahrt ins große Kaufhaus unternommen hatte? – Vielleicht ahnte er, dass er nie mehr zurückkehren würde.
«Die Geschäftsidee war bestechend einfach.»
Ein Architekt aus Babylon hatte den Auftrag erhalten, ein besonderes Kaufhaus zu entwerfen. Alles sollte an diesem wundersamen Ort zur Ware werden. Bei Ausgrabungen in der Heimat des Baumeisters waren uralte Pläne aufgetaucht, die vorsahen, das Bauwerk grenzenlos in den Himmel zu treiben. Alles, was die Menschheit je hervorbringen würde, sollte in diesem Monument vereinigt werden. Die hängenden Gärten von Semiramis wanden sich in weiten Bögen um eine eine Projektion des Koloss von Rhodos, und auch die chinesische Mauer würde in Kürze virtuell in die Warenwelt implementiert sein, als Highlight zum Black Friday. Die Geschäftsidee war bestechend einfach: Wenn im großen Kaufhaus alles billig zu haben war, gab es für den mündigen Verbraucher keinen Grund mehr, anderswo hinzugehen.
«Alles sollte an diesem wundersamen Ort zur Ware werden.»
Ein Anflug von Andacht umwehte Viktor, als er die Schwelle des Konsumtempels überschritt. Die Eingangshalle hatte den Grundriss eines Mandalas. Die hohen Decken und die spitz zulaufenden Fensterbogen erinnerten an eine Kathedrale gigantischen Ausmaßes. Im Foyer strömten Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Viktor geriet in einen eigenartigen Taumel. Er konnte nicht anders, als sich in eine der Schlangen einzureihen, die sich spiralförmig um dreihundertdreiunddreißig Paternoster gebildet hatten. Das Design der Himmelsleitern war an Tornados angelehnt. Die Kabinen fuhren nach oben und drehten sich gleichzeitig auch um die eigene Achse. So schraubten sie sich allmählich der bunten Warenwelt entgegen. Auch Viktor wurde emporgetragen.
Das große Kaufhaus musste stetig wachsen, um nicht in sich zusammenzufallen.
In den unteren Etagen gab es Donuts, Kaffee und das tägliche Brot, dann folgten Kurz- und Kolonialwaren. Je weiter es nach oben ging, desto mehr leuchtete und glitzerte es. Avatare boten ihre Waren feil und versprachen Ruhe, Gelassenheit and more. Da selbst die verlockendsten Preise sofort unterboten wurden, war es schwierig für Viktor, den richtigen Moment zum Ausstieg aus dem Fahrstuhl abzupassen. Der Rundgang hätte ihn auch aus schwindelerregenden Höhen wieder zurück auf den Boden der Tatsachen geführt. Doch leider konnte Viktor sich nicht losreißen und begab sich ohne Not in Gefahr. Im Dachgeschoss wähnte Viktor das Paradies. Tatsächlich musste das große Kaufhaus jedoch stetig wachsen, um nicht in sich selbst zusammenzufallen. Das waren nun einmal die Gesetze des Marktes. Je weiter Viktor nach oben stieg, desto unübersichtlicher wurde das Terrain. Virtuelle Geschäfte leuchteten auf, verloschen und wurden instantly durch andere ersetzt. Zum Klang der Kaufhausharfe verwandelte sich die Warenwelt nach und nach in ein Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gab. Armer Viktor!
Viktor hatte für seine Schnäppchen einen viel zu hohen Preis bezahlt.
Als Viktor schließlich ein unwiderstehliches Angebot entdeckte, gab es kein Halten mehr. Die Ereignisse begannen sich zu überschlagen. Anhand seiner Kreditkartenabrechnungen wäre es möglich, die Einkäufe im Nachhinein weitgehend zu rekonstruieren, was aber eigentlich nichts zur Sache tut. Gefangen in einem Konsumrausch und beladen mit vielen Plastiktüten, trotzte Viktor verzweifelt dem Strom der abfließenden Kundschaft. Mit letzter Kraft rettete er sich und seine Einkäufe auf die große Rolltreppe. Am Ende des Tunnels leuchtete ein gleißendes Licht. Während der Fahrt sah er auf großen Bildschirmen Szenen aus seinem Leben an sich vorüberziehen. Wie viele günstige Gelegenheiten er ausgelassen hatte! Außerdem erkannte er, für seine Schnäppchen einen viel zu hohen Preis bezahlt zu haben. Dann erschauderte er und starb.
Im Jenseits wird bar bezahlt.
Die Rolltreppe, auf der Viktor in den Himmel aufgefahren war, flachte zu einem Fahrsteig ab. Viktor saß inmitten seiner Einkäufe auf dem Laufband und staunte nicht schlecht: In den himmlischen Höhen des Warenhauses musste bar bezahlt werden. Die italienische Lira war das einzig akzeptierte Zahlungsmittel und der Markt fest in der Hand der Heiligen Römisch-Katholischen Kirche. Alle anderen Währungen wurden zu miserablen Kursen zwangsumgetauscht. Hinter den Scheiben der Wechselstuben lauerten untote Kardinäle mit scharlachroten Hüten auf gute Geschäfte. Sie ließen Viktor passieren, er war pleite.
«Je tiefer Viktor hinab fuhr, desto zuversichtlicher sah er seiner neuen Herausforderung entgegen.»
Am dritten Tage musste Viktor bezahlen. Adam Smith, der Begründer der klassischen Liberalismus, saß hinter der Registrierkasse. Er trug eine weiße Perücke und einen offenen Kittel mit der Aufschrift: Einkaufsgenossenschaft schottischer Kolonialwarenhändler. Viktor trat auf eine Metallplatte und wurde gewogen. Smith taxierte Viktor von Kopf bis Fuß und fragte, was ihn von anderen Bewerbern unterscheide und wie er mit Stress umgehe. Viktors Antworten schienen ihn nicht zu überzeugen. Smith wies ihm streng den Weg zu einer weiteren Rolltreppe, die steil in die Tiefe führte.
Bereit für die ewige Verdammnis
Der Tunnel war umgeben von Bildschirmen. Ausgefuchste Marketing-Profis gaben alles, um Viktor auf die Ewigkeit vorzubereiten. Das «Dead-of-a-Salesman»-Traineeprogramm bestand aus einem Assessment-Center, Role-Play und Coaching-Elementen. Je tiefer Viktor hinab fuhr, desto zuversichtlicher sah er der neuen Herausforderung entgegen. Irgendwann tauchte am Ende des Tunnels eine Leuchtreklame in Form eines Schokoladen-Donuts auf.
«Für das leibliche Wohl war gesorgt.»
Die Rolltreppe spuckte ihn aus einer Höhe von knapp zwei Metern in den würfelförmigen Verkaufsraum eines Donut-Stores im Basement des großen Warenhauses. Die Backwaren wurden an drei Fenstern verkauft: Viktor arbeitete mit zwei Hologrammen zusammen, die hinter die Schalter projeziert wurden. In die feuerrote Rückwand war ein Speisenaufzug eingelassen, wodurch ständig Nachschub angeliefert wurde. Es gehörte zu Viktors Aufgaben, regelmäßig frische Ware aufzulegen. Für das leibliche Wohl war gesorgt: Viktor konnte sich von den Kaffeespezialitäten bedienen und durfte jederzeit auf die Taste Eigenbedarf drücken, um ein süßes Teilchen aus der Auslage zu vernaschen. Neben dem Speisenaufzug befand sich ein Bilderrahmen mit einer Aufnahme, die Viktor in einer Livree mit polierten goldenen Knöpfen zeigte. Darunter stand in goldenen Lettern: «Mitarbeiter des Monats».
Bildnachweis
Eigene Bildcollage:
- Erstes Wiener Warenmuster und Kollektiv-Kaufhaus – Mariahilfer Zentralpalast (im Jahr nach der Eröffnung, 1912), gemeinfrei in der Wikipedia.
- Sandro Botticelli: Bildnis des Dante Alighieri (1495), gemeinfrei in der Wikipedia.