Dieser Weihnachtsabend ist mehr als vierzig Jahre her. Es muss in meiner Grundschulzeit gewesen sein, ich war vielleicht sieben oder acht. Meine Erinnerung aus dieser Zeit erschöpft sich in einzelnen Situationen, die ich allerdings noch sehr lebhaft vor Augen habe. Es ist erstaunlich, welche Eindrücke aus jenen Tagen sich mir bis heute eingeprägt haben. Merkwürdigerweise erinnere ich mich zum Beispiel daran, wie Helmut Schmidt seinem Nachfolger Kohl direkt nach dem Machtverlust zur Kanzlerschaft gratulierte.
Und dann ist da noch dieser kaputte Kaugummiautomat, bei dem ich die Kurbel immer weiter drehen konnte, ohne einen Groschen nachzuwerfen. Ich ließ eine Weile die bunten Kugeln aus dem Schacht kullern und stopfte meine Taschen voll, bis ich entschied, mir einen Teil des Vergnügens für den nächsten Tag aufzusparen. Doch dann war es zu spät! Jemand anderes hatte mein Geheimnis entdeckt, und der rote Kasten war leer. Meine erbeuteten Kaugummis landeten letzten Endes im Mülleimer, denn eigentlich schmeckten sie nicht und waren nur frisch aus dem Automaten halbwegs genießbar. Trotzdem hatte ich mich noch lange darüber geärgert, damals die Gunst der Stunde verpasst zu haben.
Kein X für ein U
Doch zurück zu dem Heiligen Abend, von dem ich eigentlich erzählen wollte. Meine Erinnerung hat einige Bruchstücke über all die Jahrzehnte aufbewahrt. Ich werde nicht der Versuchung nachgeben, sie durch mein Fabulieren zu einer abgeschlossenen Geschichte zu verfugen. Stattdessen schiebe ich die Brocken einfach rein und fertig. Es fängt mit meiner verunglückten Zaubervorstellung an. Das Publikum bestand aus vier Personen. Mein Vater, mein kleiner Bruder und meine große Schwester kannten die Darbietung in- und auswendig und quittierten meine Tricks wie immer mit erstaunten »Oh«- und »Ah«-Rufen an den richtigen Stellen. Neu im Publikum war allerdings Onkel Georg. Und der ließ sich kein X für ein U vormachen, sondern enttarnte trocken ein Kunststück nach dem anderen.
»Simsalabim, dreimal gold’ner Hamster«
Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich »Diabelli« von Hermann Burger gelesen. Darin schildert die Titelfigur, wie viel Übung nötig ist, bis er endlich die erforderliche Fingerfertigkeit ausgebildet hat. Heute würde ich diese Novelle als Parabel auf die Kunst schlechthin lesen; denn hinter Virtuosität und scheinbarer Mühelosigkeit stecken immer viele Jahre harter Arbeit. Ich hingegen investierte damals maximal eine Viertelstunde in jeden meiner Tricks. Die Utensilien aus meinem Zauberkasten bestanden aus gezinkten Spielkarten und Würfeln, präparierten Ringen, Hütchen mit doppeltem Boden und einem Seil. Damals hielt ich meinen Onkel für außergewöhnlich scharfsichtig. Heute bin ich davon überzeugt, dass mein Vater und meine große Schwester meine Magie ebenfalls durchschauten. Dass sie mir dennoch amüsiert zusahen, könnte an dem großen Brimborium gelegen haben, das ich veranstaltete. Es fing bei meinem Kostüm an: Ich zauberte nur im schwarzen Jacket meines Vaters, welches mir natürlich viele Nummern zu groß war, und stülpte mir mangels eines Zylinders den breitkrempigen schwarzen Damenhut meiner Mutter über. Außerdem hatte ich eine Vorliebe für lange und geheimnisvolle Zaubersprüche, die ich durch die Nennung von allerlei bunten Tieren ergänzte. Ich schloss theatralisch die Augen, atmete tief ein und fuchtelte wild mit meinem Plastik-Zauberstab herum, wie ich es bei Herbert von Karajan beobachtet hatte.
»Und jetzt: …«
Ich ließ mich nicht davon verunsichern, dass Onkel Georg den Mumpitz enttarnte, den ich veranstaltete, sondern kündigte unverdrossen das nächste Kunststück an. Dazu nannte ich einfach die jeweilige Überschrift aus meiner Zauberfibel: »Und jetzt: … Kartenmagie!« Doch irgendwann bekamen sich mein Vater und Onkel Georg in die Wolle. Ein Wort gab das andere, sie schrieen sich an und meine Mutter kam aus der Küche dazu und stimmte ein. An dieser Stelle bricht meine Erinnerung ab. Als nächstes sitzen wir beim Weihnachtsessen. Es gab Würstchen und Kartoffelsalat. Die Stimmung war gedrückt. Onkel Georgs Teller stand noch da, aber sein Platz blieb leer. Meine Mutter erklärte mir, dass seine überstürzte Abreise wirklich nichts mit meiner Zauberei zu tun hatte. Ich fand das schade. Onkel Georg gehörte an Weihnachten einfach dazu.
Mit und ohne Glanz und Gloria
Der Abend musste seinen gewohnten Verlauf genommen haben. Auf das Singen der Weihnachtslieder folgte die Bescherung. Dann spazierten wir alle zur Christmette. Damals fand ich das Stillsitzen in der Kirche immer anstrengend. Hinterher lobte mich meine Mutter, dass ich so brav zugehört hatte. Tatsächlich verstand ich die Gebete und Gesänge nicht und konzentrierte mich darauf, in den Gesangbüchern schnell die richtige Seite für meine Eltern aufzuschlagen, sobald die Liednummer eingeblendet wurde. Auch das rechtzeitige Aufstehen, Hinsetzen und Niederknien machte mir Spaß. Außerdem war ich dafür zuständig, den Klingelbeutel zu bestücken und weiterzugeben. Dazu steckte mir meine Mutter ein paar Münzen zu. Auch als ich später die Predigten zu verstehen begann, fand ich sie meistens nichtssagend. Von all den vielen Christmetten, die ich über die Jahre pflichtschuldig über mich ergehen ließ, ist mir nur ein Gedanke im Kopf geblieben: Jesus, nach christlichem Glauben kein Geringerer als Gottes Sohn, kommt in einem ärmlichen Stall zur Welt. Er kann heilen und predigt Nächstenliebe, Vergebung und Versöhnung, bis man ihn bestialisch ans Kreuz nagelt. Ich habe nie verstanden, warum die katholische Kirche so viel Glanz und Gloria auffährt, um an diesen bescheidenen und demütigen Jesus zu erinnern. Aber der Gedanke, dass Gott bewusst auf auf alle Attribute seiner Macht verzichtete, beschäftigt mich immer wieder.
Nach der Christmette
In meiner nächsten Erinnerung sind wir alle am Bahnhof. Von weitem näherten sich die Scheinwerfer einer Lokomotive. Ich habe mir sagen lassen, dass ich nach der Christmette auf dem Spaziergang nach Hause noch unbedingt dort hinwollte. Ich mochte die Züge, neben dem Eingang war mein Kaugummiautomat und in der Halle stand eine große, alte Waage. Wenn ich fünf Pfennig einwarf, spuckte sie ein kleines Pappkärtchen aus, das mit meinem Gewicht bestempelt war. Ich wollte gerade auf den Bahnsteig laufen, da kamen mir die anderen entgegen, auch Onkel Georg. – In seiner Wut war er in den falschen D-Zug nach Kassel gestiegen. Dort angekommen, dauerte es eine Weile, bis er wieder eine Verbindung zurück nach Frankfurt bekam. Und dann war er natürlich auch wieder bei uns vorbeigekommen und hatte uns am Bahnhof entdeckt. – In meiner Familie wurde das immer so erzählt. Ich erinnere mich selbst nicht daran, aber halte es für glaubwürdig.
Kartoffelsalat, aber ohne Würstchen
Das war dann auch schon fast die ganze Geschichte. In meiner letzten Erinnerung sitzen Onkel Georg und ich bei uns am Küchentisch. Er verputzte einen großen Berg Kartoffelsalat, die Würstchen waren schon alle. Dann bat er mich um eine Privatvorstellung, also zauberte ich für ihn: Kartenmagie, Münzmagie, Schwebemagie … das volle Programm. Er reagierte mit „Oh“- und „Ah“-Rufen an den richtigen Stellen und ich war sehr zufrieden mit meiner Darbietung. – Diabelli behauptet, wer als Detektiv der Zauberei auf die Schliche kommen wolle, arbeite am zuverlässigsten an der eigenen Täuschung. Das habe ich nie verstanden. Aber vielleicht verhält es sich so ähnlich mit Weihnachten.
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Hier geht es zum kleinen Hörbuch: