Schon Niccolò Macchiavelli wusste, dass ein erfolgreicher Fürst sich nicht allein auf die eigene Tüchtigkeit verlassen kann, sondern auch die Zeichen der Zeit erkennen muss:
»Credo, ancora, che sia felice quello che riscontra el modo del procedere suo con le qualità de’tempi; e similmente sia infelice quello che con il procedere suo si discordano e’ tempi.« Macchiavelli, Il Principe, Capitolo XXV
»Ich glaube wiederum, dass derjenige Glück hat, dessen Handlungsweise mit den Anforderungen des Zeitalters übereinstimmt; und dass so ähnlich derjenige kein Glück haben wird, der mit seinem Vorgehen nicht mit seiner Zeit im Einklang steht.« Macchiavelli: Der Fürst, 25. Kapitel (eigene Übersetzung)
Fast 700 Jahre später liegen die Dinge etwas komplizierter. Es genügt nicht, wenn ein Fürst die Erfordernisse der Gegenwart durchschaut. In der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2024 müssten alle einflussreichen Politiker:innen der demokratischen Mitte, aber auch die Bevölkerung offen dafür sein, einen Moment innezuhalten und die von der politischen Kultur vorgeprägten Denk- und Handlungsschablonen kurz auf die Seite zu legen.
Der deutsche Akzent liegt auf Sicherheit
Die große Mehrheit der Bürger:innen in westlichen Gesellschaften wünscht sich gleichermaßen Freiheit und Sicherheit. Die Demokratie als Staatsform wird beidem gerecht, wobei von Land zu Land die Akzente unterschiedlich gesetzt werden. Die Deutschen lieben seit jeher Stabilität, Ordnung und geregelte Verfahren. Nach der Wahl wird der Koalitionsvertrag ausgehandelt und unterschrieben, als ob das politische Handeln in einer Legislaturperiode so absehbar wäre wie der Kauf einer Eigentumswohnung. Dann werden die Vereinbarungen akkurat abgearbeitet. Die Ampelregierung hat leidvoll erfahren müssen, dass eine öffentliche Debatte strittiger Fragen innerhalb einer Regierung auf sehr wenig Akzeptanz stößt. Am liebsten ist es den Bürger:innen, wenn geräuschlos durchregiert wird.
Das freie Mandat der Abgeordneten, das aufgrund von §38 Grundgesetz Verfassungsrang genießt, spielt in der politischen Praxis fast keine Rolle. Der parlamentarische Alltag sieht vor, die Fraktionen wie kleine politische Armeen zu führen, als schlagkräftige und berechenbare Stimmblöcke, damit es bei Abstimmungen bloß nicht zu Überraschungen kommt. Wenn alle Jubeljahre doch mal der Fraktionszwang aufgehoben und frei diskutiert wird, ist immer gleich von einer Sternstunde des Parlamentarismus die Rede. Eine ungesteuerte, atomisierte Willensbildung über Parteigrenzen hinweg, wie sie bis vor wenigen Jahren in den freiheitsliebenden USA im Kongress gang und gäbe war, wäre den Deutschen wohl zu chaotisch. In Skandinavien waren Minderheitsregierungen an der Tagesordnung und funktionierten oft reibungslos. Hierzulande ist der Wunsch nach stabilien Verhältnissen sehr groß. Dass der Wegfall einer eindeutigen Mehrheit für die meisten Bürger:innen unerträglich ist, zeigt sich an der vollkommen überhitzten Debatte des Neuwahltermins. Willy Brandt kannte seine Landleute gut, sonst hätte er die Demokratie nicht als Wagnis bezeichnet. – Dabei setzt das Grundgesetz nach den desaströsen Erfahrungen der Weimarer Republik vergleichsweise hohe Hürden für die Auflösung des Bunndestags und sieht in §67 ausdrücklich die Neuwahl eines Regierungschefs aus der Mitte der Parlamentes in Form eines konstruktiven Misstrauensvotums vor.
Neuwahlen sind vielleicht keine Lösung
Der Ruf nach Neuwahlen erfolgt reflexhaft und spiegelt die westdeutsch geprägten politischen Gepflogenheiten bis in die Nullerjahre, als es noch zwei große Volksparteien und maximal fünf Fraktionen im Bundestag gab. Damals war eine Neuwahl tatsächlich ein zuverlässiges Verfahren, um nach einer Phase von Turbulenzen wieder für stabile Verhältnisse zu sorgen. Doch die Zeiten haben sich geändert und ein Blick nach Frankreich genügt, um zu erkennen, dass eine Neuwahl in Zeiten des erstarkenden Populismus und Extremismus nicht automatisch die geliebten »geordneten Verhältnisse« mit sich bringen muss. Der Schuss kann auch nach hinten losgehen.
Mindestens drei weitreichende Fragen sind offen, die teilweise das Institutionengefüge der Bundesrepublik betreffen und nur mit Zweidrittelmehrheit im Konsens gelöst werden können:
(1) Die unzureichende Resilienz des Bundesverfassungsgerichts gegen Sabotage durch populistische und extremistische Kräfte wurde von den politischen Akteur:innen bereits als Problem erkannt und aufgegriffen. (2) Dringenden Handlungsbedarf gibt es auch bei §115 Grundgesetz, der sogenannten »Schuldenbremse«. Das Bundesverfassungsgericht hat durch die Betonung der Prinzipien von Jährigkeit und Jährlichkeit die politisch Verantwortlichen an eine so kurze Leine gelegt, dass der Staat als Akteur in krisenhaften Situationen auszufallen droht. Es wäre auszuloten, ob SPD, Union und Grüne sich eventuell noch in dieser Legislaturperiode auf eine zumindest moderate Anpassung verständigen können, die den Erfordernissen der Zukunft Rechnung trägt. Gerade die Union sollte ein vitales Interesse daran haben, als etwaige künftige Kanzlerpartei in akuten Krisensituation politisch handlungsfähig zu sein. (3) Außenpolitisch steht die Bundesrepublik Deutschland vor großen Herausforderungen. Es ist eine Tragödie, dass Deutschland bei der diesjährigen Weltklimakonferenz nicht als starke Stimme auftreten kann. Wenn Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt, sollte Deutschland in der EU und auf der Weltbühne als Akteur präsent sein.
Angela Merkel oder Bärbel Bas als Interrims-Kanzlerin?
Ein kluger Fürst, erläutert Macchiavelli, wappnet sich in ruhigen Zeiten durch Schutzwehren und Staudämme gegen Hochwasser und trifft Vorkehrungen, damit die Fluten in Kanäle abgeleitet werden können. – Letztendlich wirbt Machivelli für politische Weitsicht, und es ist einigermaßen erstaunlich, wie aktuell das von ihm gewählte Beispiel noch heute ist.
Wäre es nicht ein kluger Schachzug, eine parteiübergreifende Übergangsregierung beispielsweise unter der Leitung Angela Merkels für den Rest der Legislaturperiode ins Amt zu bringen? Auch Bärbel Bas käme infrage. Außenpolitisch bestünde das Mandat darin, den neuen US-Präsidenten im Amt zu begrüßen und ein Hoffnungszeichen der Stabilität in die Welt zu senden. Innenpolitisch würde ihr Mandat darin bestehen, das Grundgesetz gründlich zu durchforsten und die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik möglichst nachhaltig gegen die aufziehende Sturmflut des Extremismus und Populismus zu sichern. Das braucht ein wenig Zeit und Ruhe und kann nicht bis Mitte Februar gelingen.
Weitsicht ist gefragt
Vielleicht verfügen extremistische und populistische Kräfte irgendwann über eine Sperrminorität in Fragen des Grundgesetzes? – CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP sollten das Momentum erkennen, das den derzeitigen unklaren Mehrheitsverhältnissen im Bundestag innewohnt. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, um für diesen Fall Vorkehrungen zu treffen. – Die Gegner:innen unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung haben ihren Macchiavelli gelesen. Schließlich gilt er nicht zu Unrecht als Personifizierung skrupelloser Machtpolitik. Aber Macchiavelli steht auch für entschiedenes zweckrationales Handeln. Die Parteien der demokratischen Mitte sollten seine Mahnung zum Weitblick nicht in den Wind schlagen.
Literatur
- Niccolò Macchiavelli: Il Principe, Cap. 25 (1513).
- Reinhard Wolff: Mehrheiten sind in der Minderheit, taz vom 21.11.2017.
- Warum Friedrich Merz mit der Rest-Ampel kooperieren sollte. Michael Koß im Interview mit Deutschlandradio Kultur (7.11.24).
- Warum ein Express-Wahlkampf nur der AfD nützt. Andreas Püttmann im Interview mit Deutschlandradio Kultur (8.11.24).
- BVG-Urteil zur Schuldenbremse: … Denn sie wissen nicht, was sie tun, Zylinderkopf-Dichtung, tazBlog vom 21.11.2023.
Bildnachweis
- Einladung_zum_Essen: Cheesecake via pixabay.
- Tito via Wikimedia Commons (gemeinfrei).
Wir werden uns gewöhnen müssen. Die angeblich so gute Zeit der klaren Blöcke wird nicht zurück kommen und sollte es auch nicht. Ich wundere mich schon lange, wieso dieser Fraktionszwang nicht längst mal beim Bundesverfassungsgericht angefochten worden ist. Wozu braucht man dann eigentlich so viele Abgeordnete? Nur für das Auffüllen der Ausschüsse?