vonDarius Hamidzadeh Hamudi 23.09.2025

Zylinderkopf-Dichtung

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Die französische Komödie »Die fabelhafte Welt der Amélie« aus dem Jahr 2001 erzählt von Amélie Poulain, einer fantasiebegabten jungen Frau, die anderen gerne eine Freude macht, ihnen hilft und sie überrascht. Amélies Vater kommt nicht über den Tod seiner Frau hinweg und errichtet mithilfe eines Gartenzwergs ein Mausoleum für sie. Amélie entwendet den Gartenzwerg und schickt ihn zusammen mit einer befreundeten Stewardess auf Weltreise. In der Folge erhält ihr Vater immer wieder Ansichtskarten, die den Gartenzwerg vor den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der großen weiten Welt zeigen. Amélies Vater versteht die Welt nicht mehr, vergisst darüber seine Trauer und geht selbst auf Reisen.

Amelie – ohne Akzent – ist der Name einer angeborenen Fehlbildung. Man spricht von Amelie, wenn Menschen ohne Gliedmaßen auf die Welt kommen. Beispielsweise wurde Antonia Matt 1878 ohne Beine geboren. Inklusion war im Österreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch kein Thema. Darum wurde sie nicht zur Erstkommunion zugelassen, durfte keine weiterführende Schule besuchen und erlebte von klein auf  in ihrem Dorf eine Vielzahl von Demütigungen. Ihr erstes Geld verdiente sie als lebendige Schaufensterpuppe in Innsbruck, indem sie auf einem Drehteller posierte.

Die Formulierung »Dame ohne Unterleib« ist ein sprachliches Fossil aus den finstersten Zeiten des Patriarchats. Trotzdem bemühte der bayerische Ministerpräsident dieses aus der Zeit gefallene Bild, um die Bedeutung von Maschinenbau, Chemie- und Automobilindustie für Deutschland zu unterstreichen. Zurecht kritisierten nicht nur die Grünen den unverhohlenen Sexismus, den die abgedroschene Metapher transportiert.

Antonia Matt war eine hervorragende Schülerin und glänzte in der Volksschule mit sehr guten Leistungen. Nach ihrem Einsatz im Schaufenster musste sie schmachvoll in ihr Heimatdorf zurückkehren und erneut ableistische Diskriminierungen ertragen. Doch sie ließ sich von diesen Rückschlägen nicht entmutigen und setzte alles daran, der Enge ihres Heimatdorfes zu entkommen.

Mal abgesehen von der berechtigten Kritik an Söders Rhetorik, ist zu überlegen, ob die deutsche Volkswirtschaft ohne die bereits genannten Industriezweige tatsächlich die Bodenhaftung und sich selbst zu verlieren droht. Geht von Söders Bekenntnis zu Maschinenbau, Auto- und Chemieindustrie ein positiver Impuls aus, der die Resilienz der deutschen Volkswirtschaft stärkt und ihre strukturelle Wachstumsschwäche zu überwinden hilft?

Antonia Matt wird das Zitat zugeschrieben: »Frauen benötigen keine Beine. Ich habe sie nie vermisst. Ich kann das Leben ohne sie genießen und alles ohne sie machen.« Um die Jahrhundertwende tourte sie durch die Varietétheater der Metropolen Prag, London, Berlin und New York und verdiente ein Vermögen. Amélie Poulains Welt ist fabelhaft, weil sie sich nicht mit der Tristesse der Gegebenheiten abfindet, sondern kraft ihrer Fantasie das Tor zu neuen Vorstellungen aufstößt. Auch Antonia Matts Mut und Unternehmerinnengeist sind zukunftsweisend. – Söder hingegen hat den Rückspiegel fest im Visier.

 

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