vonDarius Hamidzadeh Hamudi 19.10.2024

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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Bis in die 1970er-Jahre stand im Wiener Wurstelprater eine Jahrmarktsattraktion der besonderen Art: Der Watschenmann war mannsgroß, trug einen adretten Anzug und begrüßte die vorbeiströmenden Menschen stets mit einem freundlichen Lächeln, das auf seinem ballonartigen Kopf aufgemalt war. Gegen einen geringen Obulus durften die Besucher zuschlagen. Der Watschenmann ertrug die Hiebe wehrlos und quittierte sie lediglich mit einem charakteristischen Brummen und Klappern. Auf einer Skala wurde angezeigt, wie fest man hauen konnte. Inzwischen werden im Prater keine Androiden mehr als Kraftmessgeräte eingesetzt. Der Watschenmann ist ins Pratermuseum umgezogen und muss von den kulturbeflissenen Besucher:innen keine weiteren Schläge befürchten. Doch das Prinzip des Watschenmannes scheint noch nicht überwunden zu sein.

Das SPD-Strategiepapier

Zu beobachten war dies Anfang der Woche, als die Sozialdemokraten mit einem Strategiepapier in die Offensive gehen wollten. Die SPD möchte in Bildung und Infrastruktur investieren, was angesichts maroder Schulen, verschlissener Schienen und einstürzender Brücken wohl nicht die schlechteste Idee ist. 15 € Mindestlohn werden aufgerufen. Und bei der Einkommenssteuer soll das bestverdienende Prozent mehr in die Verantwortung genommen werden, wodurch 95 Prozent der Erwerbstätigen entlastet werden können.

In der Steuerklasse I werden bislang ab einem Jahreseinkommen von rund 278.000 Euro 45% Einkommenssteuer fällig. Wir erinnerin uns: Unter Helmut Kohl betrug der Spitzensteuersatz 56%. 2023 lag er in den USA (New York) bei knapp 52%, in Frankreich bei gut 55%. Ist es angesichts dieser Referenzwerte eine so abwegige Idee, das im Steuerrecht ohnehin verankerte Solidarprinzip stärker zu akzentuieren? – Doch es soll in der Folge nicht um eine detailierte Würdigung dieses Strategiepapiers gehen. Bemerkenswert ist das vernichtende Presseecho, das das SPD-Papier gefunden hat.

Ein veritabler Shitstorm

Dass Die Welt ordentlich vom Leder zieht, ist wenig überraschend. Sie schießt sich auf Kaufanreize für E-Autos ein und titelt: »Aktionistischer Unsinn«. Mit den Inhalten des Papiers setzt sich die FAZ in ihrem Kommentar nicht auseinander, sondern zeichnet das Bild einer ausblutenden, orientierungslosen Partei: »Die SPD, inklusive des Kanzlers, irrt kopflos durch die Krisen des Landes.« Halloween wirft seine Schatten voraus. Das Handelsblatt beobachtet eine »Robin-Hood-Pose« bei den Sozialdemokraten, prangert ein »Lohndiktat« an und hält das Papier rundheraus für »missglückt«. Der Spiegel wettert gegen die »Planungshybris« der Sozialdemokraten: »Auch heute traut die SPD Unternehmen und Arbeitnehmern offensichtlich nicht zu, dass sie am besten wissen, wie sie mit ihrem Geld umgehen«.

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Der Tagesspiegel holt gleich zum Rundumschlag gegen SPD und Union aus und unterstellt ihnen schlankerhand eine »paternalistisch, wenig aufgeklärte Attitüde« , die von »mangelndem Respekt gegenüber den Wählerinnen und Wählern« zeuge. Sogar die Süddeutsche Zeitung überschreibt ihre Berichterstattung mit den Worten »Neues von Gestern« und diagnostiziert Eskapismus bei den Sozialdemokraten, anstatt sich mit der Programmatik auseinanderzusetzen: »Zwei Tage hat die SPD in der schönen Wahlkampfwelt geschwelgt. In einer Welt, in der Wünsche beschlossen werden können für eine Zukunft, die man gern hätte.« – Zumindest schiebt die SZ einen Tag später den konstruktiven Vorschlag nach, auch die Erbschafts- und Schenkungsteuer in den Blick zu nehmen, da es nicht ausreiche, »am Einkommensteuertarif herumzudoktern«.

Bedenkliches Meinungsklima

Rechtsextreme Hetze in den sogenannten sozialen Medien hat das politische Klima in besorgniserregender Weise aufgeheizt und den politischen Fokus auf die Bekämpfung »irregulärer Migration« verengt. Wer zu lange der BSW-Friedensrhetorik lauscht, könnte glatt auf die Idee kommen, nicht Putin hätte einen Krieg vom Zaun gebrochen, sondern die Ampelkoalition. Doch solches Gepolter droht andere relevante Themen zu übertönen. – Verteilungsfragen und Klimagerechtigkeit stellen offenkundig große politische Herausforderungen dar. Dennoch werden Parteien niedergebrüllt, die sie zurecht auf die Agenda setzen. Es ist höchste Zeit, die Debatte abzukühlen und die Perspektive zu weiten.

Watschenmänner gehören ins Museum.

 

Links:

Bilder

  • Wiener Wurstelprater: Watschenmann und Österreich-Rundfahrt, Fotograf im Auftrag der United States Information Agency (Pictorial Section der Information Services Branch (ISB))ÖNB, Bildarchiv der US-Informationsdienste in Österreich, Titel: Wien 2., Prater, Inventarnummer: US 25.122, gemeinfrei, Wikimedia Commons (teilweise nachkoloriert).
  • Eine schöne Aufnahme des Watschenmannes im Ruhestand findet sich auf den Seiten seines neuen Domizils, des Wiener Pratermuseums. Ein bisschen nach unten scrollen und bei der Foto-Slideshow das fünfte von sechs Bildern aufrufen.

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