vonDarius Hamidzadeh Hamudi 10.12.2023

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

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Im Advent bereitet sich die Christenheit auf die Ankunft des Gottessohnes vor. Anders als auf den zugig-kalten Bahnsteigen der Deutschen Bahn gehört das Warten zum Programm und wird mit Kerzen, Kränzen und Lebkuchen sogar zelebriert. Im Gegensatz zu so manchem ICE kam der historische Jesus jedoch nicht zu spät, sondern wurde im Jahr 4 oder 6 vor Christus geboren. Haben wir unsere Zeitrechnung nicht rechtzeitig gestartet oder ist der Heiland seiner Zeit voraus? Mit Blick auf die Bahn stellt sich die Frage: Sind in Wahrheit alle Züge pünktlich, nur unsere Uhren gehen vor? – Auf jeden Fall könnte die DB-Marketing-Abteilung sich eine Scheibe von der Christenheit abschneiden und die winterliche Warterei an der Bahnsteigkante mit Glühwein und Lichterketten zu einer Zeit der freudigen Erwartung verklären.

Advent bedeutet ja Ankunft. Aber nur, wer sich auf den Weg macht, kann ankommen. Aufbruch gehört meist nicht zu den Stärken von arrivierten Konservativen, die am liebsten voller Zuversicht in die 90er-Jahre zurückblicken. Damals war die Welt für sie in Ordnung und noch nicht »aus den Fugen«, wie der Herr Bundespräsident es auszudrücken pflegt. Aber das ist natürlich alles Ansichtssache. Verbirgt sich hinter der Ablehnung des Tempolimits nicht letztendlich auch der adventliche Wunsch, schnell anzukommen? Der Advent lauert also überall mit seinen Plätzchen und Weihnachtsgänsen. Deswegen sollten Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, zumindest beim Essen Ihr Limit kennen, um nicht auch aus den Fugen zu geraten.

Es gab jedoch mindestens einen arrivierten Konservativen, der sich gerne auf den Weg machte, und das ist Johann Wolfgang von Goethe. Auf dem Höhepunkt seiner Amtskarriere brach er 1780 nach Italien auf. Im selben Jahr kritzelte der Nationaldichter auch sein vielleicht schönstes Gedicht an die Holzwand einer Jagdaufseherhütte im Thüringer Wald: Wanderers Nachtlied, hier aus gegebenem Anlass in der aktualisierten X-mas-Edition: Über allen Kipferln / ist Ruh’. / An allen Tagen / spürest du / Kekse im Bauch. / Die Zimtsterne liegen auf Halde. / Warte nur! Balde / krümelst du auch.

 

Link

Wandrers Nachtlied in der Wikipedia.

Bildnachweis

Herbert2512: »Nussknacker« via pixabay.

 

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