vonDarius Hamidzadeh Hamudi 28.03.2024

Zylinderkopf-Dichtung

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Seit 1926, also fast seit hundert Jahren vergibt Michelin Sterne für Restaurants. Böse Zungen behaupten, die Restauranttipps sollten ursprünglich die Autoreisenden zu unnötigen Touren verleiten, damit deren Reifen schneller verschleißen. Das Bewertungssystem erinnert tatsächlich noch heute an die Tourenplanung von Autofahrer:innen im 20. Jahrhundert: Ist ein Restaurant »einen Stopp wert«, erhält es einen Stern. Zwei Sterne bescheinigen einer Küche, »einen Umweg wert« zu sein, und bei drei Sternen sind die Inspektor:innen so aus dem Häuschen, dass der Gastro-Betrieb sogar »eine Reise wert« wäre. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Es sind Michelins »Inspektoren«, die ambitionierte Küchenchefs zu Sterneköchen krönen. Zweifellos verfügen Michelin-Sterne über eine beträchtliche Strahlkraft. Wer den Reifenhersteller zu solchen Urteilen legitimiert, scheint hingegen keine Rolle zu spielen. Festzuhalten bleibt: Wer nach Meinungsführerschaft strebt, sollte sich eine schöne Portion Anmaßung auf den Teller legen.

Das Standortgeheimnis: Exzellenz trifft Kaufkraft

Die Erwartungen der Testesser:innen sind hoch. Der Chefredakteur und Oberschmausebär für die deutsche Ausgabe heißt Ralf Flinkenflügel. Er kennt das Standort-Geheimnis der Spitzengastronomie: Bereits vorhandene Exzellenz müsse auf die hohe Kaufkraft von Gästen treffen, die gute Küche zu würdigen wüssten. Doch wenn es den Herren und Damen von Michelin mal nicht so gut mundet, kann das selbstverständlich nicht ohne Konsequenzen bleiben … Einmal ausgereichte Sterne wollen verteidigt sein. Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt das ehemalige Kölner Zwei-Sterne-Restaunrant »Le Moisonnier«:

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Nach 36 Jahren wurde es geschlossen und als Bistro mit einfacher Karte wieder eröffnet. Durch dieses beherzte Downsizing konnte das »Le Moisonnier Bistro« wenigstens einen Stern für den Gourmet-Standort Köln behaupten. Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, beweist ein ehemaliges Spitzenrestaurant in Leipzig (zwei Sterne), das nach 18 Jahren seine Türen schloss. Offenbar hatten doch nicht genug automobile Feinschmecker:innen einen Umweg in Kauf genommen, um dort zu dinieren. Sogar zwei Michelin-Sterne sichern also nicht notwendigerweise das wirtschaftliche Überleben. Den hohen Erwartungen der Gourmet-Polizei entsprechen zu wollen, kann vielleicht sogar zur Bürde werden, falls die Kundschaft die nötige Kaufkraft vermissen lässt.

Die mit Abstand meisten neuen Sterne gehen nach West- und Süddeutschland

Am 26. März 2024 ließ der Reifenhersteller wie jedes Jahr seine Sterne herabregnen. Da es bei der Kaufkraft nicht nur ein Nord-Süd-, sondern auch ein Ost-West-Gefälle gibt, ist es wenig verwunderlich, dass die mit Abstand meisten neu vergebenen Michelin-Schilder derzeit im Süden und Westen der Republik an die Restauranttüren geschraubt werden. Die Süddeutsche Zeitung widmet den elf neuen bayerischen Sternerestaurants sogar eine eigene SZ Grafik. Ein gewisser »Lokal«-Patriotismus ist nicht zu übersehen.

Dass man auf Michelin-Sterne auch anders als mit Dankbarkeit, Demut und Jubel reagieren kann, stellt der südkoreanische Restaurantbetreiber Eo Yun-gwon unter Beweis. Er machte weltweit Schlagzeilen, weil er den Guide Michelin verklagte: »Die Aufnahme meines Ristorante Eo in das korrupte Buch ist eine Beleidigung.« Gegenüber CNN zog Eo weiter vom Leder: »Der Michelin-Führer ist ein grausames System. Es ist der grausamste Test der Welt. Es zwingt die Köche dazu, etwa ein Jahr lang auf einen Test zu warten, ohne zu wissen, wann er kommt. (…) Es ist demütigend zu sehen, dass mein Restaurant in diesem ungesunden Buch eine Bewertung erhält.« Der Michelin-Führer sei  »vom Geld geblendet und es mangelt ihm an Philosophie.« – Das mag sein. Aber zumindest ist der Guide Michelin auch ein eindrucksvolles, über jeden Verdacht erhabenes Indiz für die hierzulande höchst ungleich verteilten Lebensbedingungen.

 

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