vonDarius Hamidzadeh Hamudi 31.10.2024

Zylinderkopf-Dichtung

Essays, Glossen, Kommentare und Neuigkeiten aus der Menagerie der kleinen Literatur.

Mehr über diesen Blog

Vorweg: Diesmal tippt Allan Lichtman auf einen Sieg von Kamala Harris. – Aber wie kommt er darauf? Und vor allem: Sind Lichtmans Prognosen valider als die Vorhersagen des Kraken Paul, der sich während der Fußball-WM 2010 einen Namen gemacht und fast alle Ergebnisse korrekt prophezeiht hatte? Meinungsumfragen interessieren Lichtman jedenfalls nicht. Die Medien inszenieren ihn als politisches Orakel. Der »Nostradamus der Politik« (Times Radio) bietet einer ganzen Branche die Stirn, indem er die Prognosen der umfragegestützten Wahlforschung in den Wind schlägt.

Die Mechanik hinter Lichtmans Orakelspruch

Obwohl Lichtmans Auftritt ein wenig an den 90er-Jahre-Magier David Copperfield erinnert, sind seine Prognosen durchaus wissenschaftlich fundiert. Zusammen mit dem Geophysiker Vladimir Keilis-Borok analysierte er die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 1860 bis 1980.

abo

Zeiten wie diese brauchen Seiten wie diese. 10 Ausgaben wochentaz für 10 Euro im Probeabo. Jetzt die linke Wochenzeitung testen!

Auf dieser Datengrundlage entwickelten die beiden Wissenschaftler einen Katalog von dreizehn Entscheidungsfragen. Jede einzelne sei ein Schlüssel zum Weißen Haus. Verfüge die Partei des Amtsinhabers über acht dieser magischen Schlüssel, so sei die Wiederwahl gesichert. Würden jedoch mindestens sechs Schlüssel in die Hände der Opposition fallen, so gewinne diese auch die Wahl.

Lichtman bewegt sich mit seinem Fragenkatalog im Großen und Ganzen im Rahmen des Rational-Choice-Ansatzes, da er von einer rationalen Entscheidung der Wählerschaft ausgeht. Die Wahlentscheidung wird maßgeblich von der Leistung der amtierenden Regierung abhängig gemacht:

The study of history shows that a pragmatic American electorate chooses a president according to the performance of the party holding the White House. | Allan Lichtman: »Predicting the Next President« (2020), zitiert nach Gilad Edelmans Essay in »The Atlantic« vom 16.10.2024.

Das Studium der Geschichte zeigt, dass eine pragmatische amerikanische Wählerschaft einen Präsidenten aufgrund der Leistung der Partei wählt, die das Weiße Haus innehat. | Allan Lichtman: »Predicting the Next President« (2020), eigene Übersetzung.

Einzelne weitere Aspekte wie beispielsweise die Strahlkraft der Kandidat:innen, etwaige Skandale und jüngste Wahlergebnisse runden Lichtmans Kriterienkatalog ab. Kamala Harris verfüge gemäß Lichtman über neun der dreizehn Schlüssel, nur vier würden an Donald Trump gehen.

Die 13 Schlösser des Tors zum Weißen Haus

Lichtman persönlich hat vor Kurzem auf Fox 5 Washington erläutert, welche vier Schlüssel für Donald Trump sprechen. Key 1 (»Incumbent-party mandate«): Nach den Midterm-Wahlen 2022 hatten die Demokraten weniger Sitze als nach den Midterms 2018. Key 3 »Incumbency«: Harris geht nicht als amtierende Präsidentin, also ohne Amtsbonus in die Wahl. Key 10 (»Foreign-policy-failure«): Außenpolitisches Versagen, denn im Nahen Osten spiele sich eine Katastrophe ab. Key 12: »Incumbent charisma«: Harris sei »kein Roosewelt«. Alle anderen neun Schlüssel (2–4–5–6–7–8–9–11–13) schlägt Lichtman folglich Harris zu. Doch das ist durchaus zu hinterfragen.

Key 2: »Nomination contest«

Hierbei geht es um die Frage, ob es bei den Demokaten, der Partei des Amtsinhabers, einen ernsthaften parteiinternen Wettbewerb um die Kandidatur gegeben habe. – Tatsächlich fanden keine Vorwahlen im herkömmlichen Sinn statt. Und nach Bidens Rücktritt versammelten sich die Demokraten sehr eindrucksvoll und schnell hinter Kamala Harris. Trotzdem wurde sie nicht unangefochten nominiert. Als  mächtiger Widersacher erwies sich ausgerechnet der Amtsinhaber selbst, da Joe Biden seine Kandidatur erst nach massivem politischen Druck u.a. durch George Clooney zurückzog. Außerdem hätte Biden von seinem Amt zurücktreten und Kamala Harris zu einem kleinen Amtsbonus verhelfen können, doch das hat er nicht getan. – Herzliche Grüße gehen raus an Winfried Kretschmann!

Key 13: »Challenger charisma«

Fragwürdig ist auch, dass Lichtman Donald Trump kein besonderes Charisma zubilligt. Tatsächlich besitzt der mehrfach angeklagte, abgewählte frühere US-Präsident überhaupt keine politische Strahlkraft ins politische Lager der Demokraten. Aber es gelingt ihm auf besondere Weise, seine Anhängerschaft zu euphorisieren und Nichtwähler:innen für seine MAGA-Bewegung zu begeistern. Mit »Eating the Cats« landete Trump dank des Musikers The Kiffness einen viralen Hit, der weltweit über alle Parteigrenzen hinweg die seriöse politische Debatte vernebelte.

Key 8: »Social unrest«

Kam es während der Amtszeit des amtierenden Präsidenten zu anhaltenden sozialen Unruhen? – Seit dem Kapitolsturm am 6. Januar 2021 spaltet Trumps Erzählung der gestohlenen Wahl bis heute die US-amerikanische Gesellschaft. Ein substanzieller Teil der Bevölkerung stellt die Legitimität von Joe Bidens Präsidentschaft infrage. Die juristische Aufarbeitung stockt, gleichzeitig gelingt es Trump, auch die Legitimität der Judikative in Zweifel zu ziehen. Ist das keine signifikante Störung des sozialen Friedens?

Zeitenwende?

Donald Trump greift die Sorgen seiner Wählerschaft auf, macht skurrile Katastrophenszenarien daraus und schürt Hass und Ängste. Der orange geschminkte Rassist hat es in der politische Lüge zur Meisterschaft gebracht. Die Algorithmen der so genannten sozialen Medien werden zu machtvollen Akteuren, die bar jeder gesellschaftlichen Verantwortung agieren. Diese durch und durch kommerzialisierte erste Ausgeburt künstlicher »Intelligenz« schreddert die Gesellschaft in Filterbubbles und lockt die Menschen in ein Kaleidoskop aus Memes, Quotes und sonstigen schwirrenden Schnipseln. Trump, der Entertainer, präsentiert sich seiner Gefolgschaft als steifer Tanzbär mit dem Powermove. – Wird es ihm gelingen, die Wirklichkeit durch seine Lügen umzudeuten?

Zurück zur Rational-Choice-Wahlforschung. Wikipedia notiert dazu: »Als rational gilt eine Wahlentscheidung dann, wenn sich der Wähler von ihr angesichts der von ihm wahrgenommenen gegebenen Umstände und im Lichte seiner eigenen Präferenzen die bestmöglichen erreichbaren Folgen erwartet.« – Die Wahrnehmung der Wählerschaft entscheidet also und Trumps PR-Maschine arbeitet unerbittlich daran, diese Wahrnehmung von der tatsächlichen Wirklichkeit abzukoppeln. Allan Lichtmans Prognose ist jedoch faktenorientiert, sie basiert auf der Annahme, die amerikanische Wählerschaft sei pragmatisch. Diese Voraussetzung ist aus der Zeit gefallen. Lichtmans »13 Keys to the White House« taugen deshalb nicht mehr zur Vorhersage von Wahlergebnissen. Aber sie stellen noch immer einen guten Ausgangspunkt für anregende politische Analysen dar. Vielleicht werden Lichtmans dreizehn Schlüssel dereinst einen wertvollen Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten können: Schlösser können verfallen, aber Schlüssel bleiben als Artefakte zurück und legen ein stummes Zeugnis von vergangenen Epochen ab.

Proud to present: The new, one and only Key to the White House …

Trumps Fans und Follower werden am 5.11. in Scharen zu den Urnen pilgern. Letztendlich läuft somit alles auf die eine, alles entscheidende Frage hinaus: Wird Kamala Harris – so wie Joe Biden vor vier Jahren – eine breite Koalition auf die Beine stellen können, die von Linken und Progressiven bis hin zu moderaten Konservativen reicht? Nur dann kann sie das Lager der postfaktischen Trump-Wählerschaft überstimmen.

Ohne die jüngsten Umfragen gelesen zu haben, wage ich eine Prophezeihung: Es wird knapp.

 

Weitere Zylinderkopf-Essays zur US-Präsidentschaftswahl

Weiterführende Links

Bildnachweis

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/zylinderkopf/wer-gewinnt-die-us-praesidentschaftswahl-das-orakel-der-13-schluessel/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert