vonmanuelschubert 23.02.2020

Filmanzeiger

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In der neuen kompetitiven Berlinale-Sektion „Encounters“, setzt die Filmemacherin Melanie Waelde ein erstes Ausrufezeichen. Ihr beeindruckendes und faszinierend kratzbürstiges Langfilmdebüt NACKTE TIERE, erzählt uns von fünf jungen Charakteren im Nirgendwo zwischen Teenager-Tagen und Erwachsenwerden.


„Hast Du Angst vor mir?“ – „Klar. Wir haben alle Angst vor dir.“

Katja. Katja steht kurz vor dem Abi. Danach dann Bundeswehr, das steht für sie fest. Sie lebt in einem namenlosen Irgendwo in Deutschland, keine Stadt, kein Dorf, was Anderes. Landschaft, Gebäude, Straßenlaternen, Autokennzeichen lassen vermuten, dass wir uns im Südwesten Brandenburgs befinden, die große Stadt ist hier weit weg.

Was anderes. Die örtliche Indifferenz spiegelt sich in den Persönlichkeiten Katjas und ihrer Freunde und Mitschüler. Sie sind keine Teenager mehr, aber auch noch einen letzten Meter vom Erwachsensein entfernt. Dazwischen halt. Dazu verdonnert, plötzlich haufenweise Entscheidungen für sich und ihr Leben zu treffen und doch noch nicht ganz die Kontrolle zu haben. Zaungäste und Hauptdarsteller zugleich.

Dazwischen. Im Ungefähren ist auch Benni. Fast geschwisterlich ist seine Verbindung mit Katja und doch wirkt Benni wie eine Art Gegenentwurf zu ihr. Eigentlich gefährlich schlingernd, auf jeden Fall driftend. Ist er schwul? „Weiß man das nicht“, fragt ihn Katja. Weiß er nicht, hat er noch nicht bestimmt. Ist für ihn vielleicht auch nicht mehr relevant. Denn ebenfalls unklar scheint, ob er überhaupt noch irgendeine Zukunft haben möchte? Abi will er keines mehr machen, soviel steht fest. Katja hasst das.

Schwul. Hetero. Wer liebt hier wen, wer ist mit wem zusammen und wer hat eigentlich schon Sex? Irgendwie scheinen alle Figuren im Zentrum von NACKTE TIERE, Katja, Benni, Sascha, Laila und Schöller, aneinander interessiert zu sein, doch wirklich nahe sind sie sich nicht. Ein vorsichtiges Abtasten allenfalls. Schauen, wie das gegenüber reagiert. Beziehungen als Versuchslabor. Nur zwischen Katja und Sascha ist wirklich was. Naturgewalten gleich. Gewalttätig mitunter. Dass sie beide im Judo-Verein sind macht die Sache nicht einfacher. Am Ende muss dann die Notaufnahme den Schaden reparieren. Voneinander los kommen sie trotzdem nicht.

Unbehaustsein

Gewalt. Obwohl sie noch so jung sind, haben sie bereits auf vielen Ebenen Beschädigungen erlitten. Eltern sind hier ein Problem. Prügelnde Mütter, schwache Mütter, dominante Stiefväter, abwesende Eltern. „Vermisst Du deine Eltern nicht“, fragt Benni Katja eines Abends in ihrem gemeinsamen Refugium, einer fast leeren 1-Zimmer-Wohnung in einem alten Plattenbau. Nö. Man glaubt es ihr sofort. Und ahnt längst, wie sehr sie dieses innere Unbehaustsein schmerzt.

Schmerzen. Schmerzen auszuhalten, sich davon freizukämpfen und sie gezielt einzusetzen, hat Katja im Judo gelernt. Einstecken und Austeilen. Sie kann beides und besser als alle anderen. Sagt selbst Sascha, der sonst keine Frauen schlagen würde, außer eben Katja. Das ist ein Problem, denn es verhindert die friedliche Austragung notwendiger Konflikte – bis irgendwann einfach Dinge explodieren. „Wir haben alle Angst vor dir.“

Irgendwann. Irgendwann in dieser unbestimmten Ferne ist die Zumutung namens Adoleszenz vorbei – wissen die Erwachsenen. Aber sie wissen auch, dass dies keinerlei Erlösung darstellt. Erlösung von der stetigen Unruhe des eigenen Seins bietet nur ein einziger Weg. Und um den weiß Benni sehr genau. Katja und Sascha versuchen beständig, ihn davon abzuhalten, diesen Weg zu beschreiten. Sie holen ihn zurück ins Jetzt, dorthin, wo ihn nichts mehr halten kann. Höchstens er selbst, wenn er es denn will.

Vorwärts kommen

Wille. Erwachsen zu werden bedeutet auch, die Fähigkeit zur Eroberung des eigenen freien Willens zu lernen. Und zugleich zu erkennen, dass zumindest eine materielle Zukunft nur um den Preis der Einhegung eben jenes eigenen freien Willens zu haben ist. Soweit die Theorie. Doch das Leben dieser Jugendlichen ist keine Theorie, es ist harter, sumpfiger Alltag. Viel zu schnell ist man versackt, sitzt fest, hat Zoff oder gar die Polizei am Hals. Filmemacherin Melanie Waelde lässt uns für 83 Minuten daran teilhaben, wie Katja, Benni, Sascha, Laila und Schöller sich durch diesen Morast schlagen und versuchen, vorwärts zu kommen. Oder zumindest nicht abzusaufen.

Benni (Michelangelo Fortuzzi) | © Czar Film/IFB 2020

NACKTE TIERE. In diesem Film wird sich nicht mit langatmigen Herleitungen und umständlichen Auserzählungen aufgehalten. Die Figuren sind mit wenigen Strichen gezeichnet und doch faszinierend tiefgründig. Die sind einfach da. An diesem Ort, in dieser Zeit. Punkt. Ihre Probleme könnten genausogut auch unsere Probleme in jenem Alter gewesen sein. Wir müssen nicht viel wissen, um zu verstehen was los ist. Bauchgefühl und Empathie sind die besten Begleiter für diese fantastisch humanistische Art von Kino.

Probleme. Coming-of-Age Filme neigen zur Romantisierung von Problembewältigung. Die junge Hauptfigur kämpft und wächst an ihren Herausforderungen, am Ende steht der Erfolg, Happy End … bla bla. Melanie Waelde romantisiert nicht. Roh und ungemütlich geht es hier zu, Zumutungen sind dazu da sie auszuhalten. Ob es danach besser ist, steht auf einem anderen Blatt. Und doch ist in NACKTE TIERE eine scheue, tastende Zärtlichkeit jederzeit spürbar. Melanie Waelde liebt ihre Figuren und diese Liebe überträgt sich auf uns Zuschauende.

Happy End. Gewinnt am Ende der Frieden in der Beziehung von Katja und Sascha? Macht Benni dann doch sein Abi zuende, wie Katja es sich wünscht? Das wäre ein Happy End und damit eine dramaturgische Setzung, die zwar in deutschen Fernsehanstalten und von einem deutschen Publikum gern gesehen wird. Die jedoch nichts mehr mit diesem Film zu tun hätte, der übrigens keinerlei Fernsehförderung verzeichnet. Diese nackten Tiere folgen ihren eigenen Fährten. Sie verschwinden so schnell wieder in die Dunkelheit, wie sie gekommen sind. Und lassen uns zurück mit einer tiefen Sehnsucht danach, ihnen wenigstens noch für einen weiteren Monent auf ihren Fährten folgen zu dürfen.

NACKTE TIERE | D 2020 | 83′ | Melanie Waelde | Encounters


Erstveröffentlichung dieses Textes auf filmanzeiger.de am 22.02.2020


 

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