vonfini 20.10.2020

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Julie Bourdin ist seit einem Jahr bei Sea-Watch und flog ihre erste Mission an ihrem 23. Geburtstag. Das ist inzwischen ein ganzes Jahr her. Sie ist ausgebildete Journalistin und unterstützt die Moonbird-Crew als Field Media Coordinator (FMC). Ein Fall wie der 6. dieser Reihe kommt in der Sea-Watch Dokumentation zwar häufiger vor (vlg. Fall 3 dieser Reihe), war für Julie an diesem Tag jedoch der erste, den sie miterlebte:

Fall 6: Anwesend, aber zu nichts zu gebrauchen

Am 29.08.2020 wurde die Initiative Watch The Med – Alarmphone durch einen Anruf von einem Schlauchboot alarmiert: 64 Menschen befanden sich in der maltesischen Rettungszone in Seenot. Alarmphone informierte das Rescue Coordination Center (RCC) Malta und hielt Kontakt zu den Menschen an Bord. Die Moonbird-Crew entdeckte das Schlauchboot zur Mittagszeit und versuchte ebenfalls (insgesamt 4 Mal) das RCC Malta zu erreichen – ohne Erfolg. Ein Patrouillenboot der maltesischen Streitkräfte (AFM) befand sich in der Nähe, reagierte aber über Funk nicht auf die Aufforderung der Moonbird, die Menschen zu retten. Trotzdem schien das Patroullienboot mit dem Seenotfall beschäftigt zu sein.

Da die Moonbird im Tiefflug kreisend zu viel von ihrem Tank verbraucht und außerdem die Menschen in den Booten teilweise panisch reagieren, verweilt die Crew nie länger als 5-10 Minuten bei einem Seenotfall: “Diese Boote fahren meist nicht schneller als 2-3 Knoten. Wir bestimmen bei einem Boot dann wie viele Menschen an Bord sind, den Zustand des Bootes selbst, des Motors und ob es Kurs hält oder orientierungslos umher treibt. Zusätzlich monitoren wir den Wind, um den Drift mit einzurechnen.”, so Felix Weiss von Sea-Watch. Anhand all dieser Daten kann grob eine neue Position ermittelt und in das Flugmuster integriert werden. Auf diese Weise behält ein einzelnes Flugzeug wie die Moonbird möglichst viele Seenotfälle im Auge und dokumentiert, was mit ihnen geschieht.

Egal wohin, hauptsache weg hier

Am Nachmittag kehrte die Moonbird deswegen zurück zu einer Position, an der sie das Schlauchboot mit den 64 Menschen vermutete. Und zurecht: Das Schlauchboot befand sich immer noch auf offener See und das Patroullienboot der maltesischen Streitkräfte war nicht mehr zu sehen. Allerdings waren die Menschen an Bord in der Zwischenzeit mit Schwimmwesten ausgestattet worden – und hatten ihren Kurs Richtung Italien geändert. Der Air Liaison Officer (ALO) der Moonbird versuchte erneut erfolglos, die maltesische Rettungsleitstelle zu erreichen. Statt aber ihrer Aufgabe als Rettungsleitstelle nachzukommen und Menschen in Seenot in ihrer eigenen Rettungszone zu retten, war minutenlang Warteschleifenmusik zu hören.

Sea-Watch fand letztendlich durch eine Newsmeldung heraus, dass die Menschen am 30.08. in Pachino auf der Insel Sizilien (Italien) angekommen sind.

Bild: siracusaoggi.it

Schleusung statt Rettung aus Seenot

Das heißt, erneut haben 64 Menschen eine Nacht und einen halben Tag länger als notwendig in einem seeuntüchtigen Schlauchboot auf offener See verbracht, obwohl die maltesischen Streitkräfte sie in ihrer eigenen Rettungszone gefunden hatten. Ihre gesetzliche Pflicht wäre es insofern gewesen, die Menschen aus ihrer Seenot zu retten, anstatt sie einer weiteren Nacht Lebensgefahr auszusetzen und damit gegen internationales Völkerrecht zu verstoßen. “Es ist schon ziemlich ironisch, dass wir und andere NGOs immer wieder kriminalisiert werden, weil wir angeblich bei der illegalen Einreise helfen würden – und Malta stattet Menschen mit Schwimmwesten aus, um ihnen in einem maroden Schlauchboot die Weiterfahrt nach Italien zu ermöglichen.”, bemerkt Julie. Damit wird das Verhalten der maltesischen Streitkräfte sozusagen doppelt illegal: Anstatt ihrer Verantwortung und gesetzlichen Zuständigkeit in der maltesischen Rettungszone nachzukommen, “helfen” sie bei der illegalen Einreise nach Italien. Wobei sie die Gefährdung von 64 Leben in akuter Seenot bewusst in Kauf genommen und die Pflicht zur Hilfeleistung an Italien delegiert haben.

“It’s a shame”

Ich frage die meisten der Sea-Watch Mitarbeitenden, mit denen ich Interviews zu den Fällen führe, mit welcher Intention sie zu Sea-Watch gekommen sind. Obwohl es nichts mit den Fällen an sich zu tun hat, frage ich mich jedes Mal mehr, wie diese Fülle menschlichen und zivilisatorischen Versagens ausgehalten werden kann, ohne dabei in Zynismus zu verfallen. Insbesondere bei Fällen wie diesen, wo staatliche Instanzen genau das tun, wofür sie zivile kriminalisieren. Julie sagte mir, dass man zwar hunderte von Fällen und Gesichtern sieht, aber jede*r in der Crew erinnert sich an jeden einzelnen Fall. Jeder Fall bleibt emotional, weil es dabei um einzelne Menschen geht und berührt diejenigen, die damit zu tun haben. Julie ist zu Sea-Watch gekommen, weil sie die Entscheidungen der europäischen Politik als Schande empfunden hat. Da ihre Fotos nicht nur für flüchtige Social Media Posts verwendet werden, sondern zur dauerhaften und historischen Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen dienen, kann sie so die Schande wenigstens archivieren: “Ich tue, was ich kann und was ich gelernt habe. Das ist das mindeste.”

Siehe auch:

#CrimesOfMalta: Menschenrechtsverletzungen in der EU

#CrimesOfMalta I: RCC Malta – zu busy für Seenotrettung

#CrimesOfMalta II: Wie viele Zeichen ist ein Menschenleben wert?

#CrimesOfMalta III: Schwimmwesten statt Asyl

#CrimesOfMalta IV: I will stay with you, no problem.

#CrimesOfMalta V: Zurück zur „Müllhalde“ Europas

#CrimesOfMalta VII: Menschenrechte oder Heldentum?

#CrimesOfMalta VIII: Seid Ihr endlich tot?

#CrimesOfMalta IX: Glück auf Leben

#CrimesOfMalta X: Wofür es zivile Seenotrettung braucht

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