Für die Rekonstruktion des 8. Falls der Crimes of Malta habe ich mit Britta Rabe von Watch the Med – Alarmphone gesprochen. Sie arbeitet ehrenamtlich von Köln aus und ist von Anfang an dabei. Das heißt, sie geht seit 6 Jahren ans Telefon, wenn auf dem Mittelmeer ein Seenotfall passiert. Alarmphone ist ein Netzwerk von Aktivist*innen, die überall in Europa verteilt sind und über eine Hotline erreicht werden können. Sie arbeiten in Schichten, melden die Notfälle an die zuständigen Behörden und dokumentieren deren Vorgehen. Die Aktivist*innen fordern sichere Fluchtrouten und die Bewegungsfreiheit für alle Menschen. Indem sie für die gesamte Dauer des Notfalls versuchen, Kontakt mit den Menschen auf den Booten zu halten, erleben sie die Auswirkungen der Verzögerungstaktiken von Malta und der EU hautnah mit.
Fall 8: “Niemand hilft uns, hier ist nur Meer!”
Am 16.07.2020 ging früh morgens gegen sechs Uhr bei Alarmphone ein Notruf ein: 63 Menschen befanden sich in akuter Seenot in der maltesischen Rettungszone. Sie waren am Tag zuvor in Libyen losgefahren, der Motor ihres Holzbootes war ausgefallen und eine Frau bereits ohnmächtig. Alarmphone meldete den Notfall umgehend per Mail und durch Anrufe an die maltesischen und italienischen Behörden, erhielt jedoch keinerlei Antwort. Um kurz vor acht riefen die Menschen erneut bei Alarmphone an: Wasser trat ein und das Wetter verschlechterte sich drastisch. Sie gerieten in Panik, um sie herum, erhoben sich hohe Wellen. Das Alarmphone versuchte den Kontakt zu halten, obwohl durch das Satellitentelefon des Bootes nur eine schlechte Verbindung herzustellen war. Wieder meldete die Schicht den Notfall an die Behörden und erreichte telefonisch beim Rescue Coordination Center (RCC) Malta immerhin jemanden, so dass sie die Koordinaten durchgeben konnten. Das RCC Italien empfand sich als nicht zuständig und verwies darauf, keine Infos rausgeben zu dürfen.
Alarmphone twitterte parallel dazu über den Notruf durch das Boot mit Menschen, die „der libyschen Hölle und den Folterlagern entkommen sind“, um den Druck auf die Behörden zu verstärken: „Wir sind immer noch in Kontakt mit den Menschen in Not: ‘Wir sterben, wir sterben, wir sterben! Niemand hilft uns, hier ist nur Meer! Bitte helft, helft, helft!’ schrien sie am Telefon, in Panik“.
Die Suche nach einem Holzboot im Mittelmeer
Mit solch einem Satellitentelefon, wie es die Menschen auf dem Boot zur Verfügung hatten, kann man telefonieren, aber auch die eigenen Koordinaten bestimmen. Allerdings nur eins zur selben Zeit. “Die Zahlen werden einzeln durchgegeben und wir müssen dann herausfinden, um welches Format von Koordinaten es sich handelt”, erzählt Britta. “Wir stellten irgendwann fest, dass sich das Boot relativ nah an der tunesischen Rettungszone befand und haben dann natürlich auch dort angerufen.” Aber auch die tunesische Küstenwache fand, dass sie nicht zuständig wäre – außerdem stand eh kein Boot zur Verfügung.
Gegen Mittag gingen mehrere Anrufe von Freunden und Verwandten der Menschen auf dem Boot bei Alarmphone ein. Sie hatten durch Twitter und andere Medien von dem Fall gehört und wollten wissen, was mit ihren Angehörigen war. Inzwischen lief immerhin einer der zwei Motoren des Bootes wieder, allerdings waren nur noch 5 Liter Benzin an Bord und nichts mehr an Essen oder Trinken. Die neue Position verriet den Aktivist*innen des Alarmphone, dass sich das Boot noch langsam fortbewegte.
Kurz darauf entdeckte die Besatzung der Moonbird von Sea-Watch die Menschen zufällig in der maltesischen Rettungszone ohne Rettungswesten und mit einem dürftig laufenden Motor. Die maltesischen Behörden wurden nun zusätzlich vom Air Liaison Officer (ALO) der Moonbird telefonisch alarmiert. Das RCC Malta erklärte gegenüber Sea-Watch, dass sie alle notwendigen Maßnahmen zur Rettung der in Not geratenen Personen ergreifen würden. “Notwendig” ist für Malta bekannterweise ein dehnbarer Begriff, denn es geschah weiterhin nichts.
Ist denn nicht irgendjemand in der Nähe?!
Alarmphone schrieb am Abend nicht nur die 7. Runde E-Mails an die italienischen und maltesischen Behörden, sondern versuchte auch, Frachter in der Nähe des Notfalls auszumachen. Sie fanden zwei und recherchierten die Reederei, zu denen die Schiffe gehörten. Ein Telefonat mit einer der Reedereien schien zunächst erfolgversprechend, denn die Zentrale reagiert verständnisvoll und wollte den Fall intern prüfen. Kurze Zeit später ging eine Mail beim Alarmphone ein: Das Schiff sei schon zu weit weg, sorry.
Gegen 21 Uhr hatte die Alarmphone-Schicht zum letzten Mal für die Nacht Kontakt mit den Menschen auf dem Boot, danach konnte sie sie nicht mehr erreichen und wusste nicht, ob sie noch lebten. Die maltesischen Streitkräfte (AFM) retteten die Menschen am nächsten Tag und brachten sie gegen 14:00 Uhr nach Malta. “Vermutlich war es an dieser Stelle einfach Glück und genauso wie die tunesische hatte auch die sogenannte libysche Küstenwache gerade kein Schiff vor Ort, mit dem sie die Menschen hätte nach Libyen zurückholen können.”, mutmaßt Britta, als ich sie frage, warum die AFM in diesem Fall dann irgendwann doch ihren Job getan haben, “Das war wirklich eine enorm lange Zeit, die diese Menschen ohne Essen oder Trinken und in Todesangst auf dem Meer verbracht haben – stell’ Dir vor: Zwei Nächte in einem langsam aber sicher sinkenden Boot!”
Lieber wütend als traurig
Es ist eine Form von politischem Kalkül, ein Boot solange wie möglich – also: solange die eigene Bevölkerung einem nicht wirklich die Türen einrennt – im Mittelmeer treiben zu lassen. Jede weitere Stunde und insbesondere jede weitere Nacht hat es unwahrscheinlicher gemacht, dass dieses Boot wie so viele andere überhaupt noch gerettet werden konnte. Und damit auch die Möglichkeit, dass in Malta oder Italien weitere 63 Asylanträge eingehen würden. Insbesondere ein Seenotfall erledigt sich irgendwann von selbst, so die maltesische und auch die europäische Perspektive. Obschon im Völkerrecht verankert ist, dass Malta in diesem Fall umgehend eine Rettung hätte koordinieren müssen, ist das RCC Malta das Risiko eingegangen, dass die Menschen die zweite Nacht nicht überleben. Damit hat Malta 63 Menschen in akuter Seenot zunächst dem Tod überlassen. Dass sie überlebt haben und letztendlich dann doch “an Land kommen durften”, um ihr Recht auf Asyl geltend zu machen, spiegelt einmal mehr die Überheblichkeit europäischer Behörden über Leben und Tod entscheiden zu können.
Auch Britta habe ich gefragt, ob sie über die vielen Jahre, in denen sie Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer begleitet, zynisch geworden ist. Sie findet Zynismus an dieser Stelle gar nicht so verkehrt, denn er macht nicht handlungsunfähig, sondern ermöglicht es, die Dinge mit Distanz und Humor zu nehmen. Anders als Trauer, die nur zu Ohnmacht führt. “Wir haben am Anfang gedacht, man stumpft irgendwann ab. Aber das tut man gar nicht, man wird mit jedem Fall wütender und wütender.”
Siehe auch:
#CrimesOfMalta: Menschenrechtsverletzungen in der EU
#CrimesOfMalta I: RCC Malta – zu busy für Seenotrettung
#CrimesOfMalta II: Wie viele Zeichen ist ein Menschenleben wert?
#CrimesOfMalta III: Schwimmwesten statt Asyl
#CrimesOfMalta IV: I will stay with you, no problem.
#CrimesOfMalta V: Zurück zur „Müllhalde“ Europas
#CrimesOfMalta VI: Schleusung von Menschen ist Staatssache
#CrimesOfMalta VII: Menschenrechte oder Heldentum?