Gedruckte Tageszeitungen gibt es in Deutschland im Jahr 2021 nur noch in einigen Regionen. Das zeichnete sich schon zwanzig Jahre vorher ab, als die Auflagen der Tageszeitungen von 2001 bis 2011 von 28 auf 21 Millionen Exemplare um 25 Prozent fielen. Dieser Trend hat sich im folgenden Jahrzehnt durch die fortschreitende Digitalisierung der Medien und immer neue digitale Vertriebswege dramatisch beschleunigt. Noch einmal zwei Drittel der Auflage gingen in zehn Jahren verloren, im Jahr 2021 werden noch sieben Millionen Exemplare täglich verkauft. Besonders betroffen wurde das überregionale Vertriebs- und Grossosystem durch die überraschende Einstellung der gedruckten “Bild”-Zeitung im Jahr 2019. Doch auch hier war die Entwicklung vorhersehbar. Dem Springer-Verlag war es in den Folgejahren gelungen, die Marke “Bild” erfolgreich ins Netz zu transformieren und als erfolgreichste deutsche Marketingmaschine zu etablieren. Da war es nur ein konsequenter Schritt, der nachhinkenden Konkurrenz mit der Einstellung des Blattes den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Denn dem Ende der gedruckten “Bild”-Zeitung fielen wichtige vertriebliche Strukturen des Pressewesens zum Opfer, u. a. das sogenannte Nachtgeschäft. Die Dispositionen der Pressevertriebe für die Tageszeitungen konnten wegen des Wegfalls des Brotauftrages in den Nachtzeiten nicht mehr wirtschaftlich ausgelastet werden, was ein dramatisches Sterben im Pressegroß- und -einzelhandel zur Folge hatte.
Dieses Szenario stammt aus einem Strategiepapier eines Workshops “Die taz in zehn Jahren”, der im Juni 2011 stattfand. Von den damals erarbeiteten Projekten für die Zukunft der taz wurden in diesem Jahr die ersten umgesetzt, die neue taz.am wochenende und der neue taz.de-Auftritt mit seinen erweiterten Funktionen der Unternehmenskommunikation. Zwei Jahre von den Ideen bis zur Realisierung ist für ein diskussions-, trotzdem entscheidungsfreudiges Unternehmen wie die taz ein guter Zeitrahmen.
Die Realität hält sich an unser Szenario, mehr oder weniger. Während Frankfurter Rundschau und Financial Times Deutschland in die Pleite gingen, geht Bild mit Riesenschritten ins Netz, bei anderen beschleunigt sich der Niedergang. Die Umsätze aus Auflagen und Anzeigen fallen ins Haltlose, digitale Geschäfte können die Löcher, die im Printbereich gerissen werden, nicht füllen.
Interessant ist die Entwicklung der Funke-Gruppe. Ausgehend von der These, dass Regionalzeitungen, zumal wenn sie Monopole sind, jeden Tag den kaufkräftigen Teil der Bevölkerung einer Region erreichen, setzt man hier weiter auf das Printgeschäft als Rückgrat der Expansion zu einem nationalen Regionalzeitungskonzern. Selbstverständlich wird man sich der Vorteile der Digitalisierung bedienen – zur Rationalisierung, um Kosten zu senken, sowie fürs Marketing, um neue Erlösquellen zu erschließen. Im Jahr 2021, so unser Szenario, gibt es noch eine Tageszeitungsauflage von sieben Millionen – überwiegend durch starke Regionalzeitungsketten, die immer noch gutes Geld verdienen.
Der Mut, mit dem der Springer-Verlag das Risiko auf sich nimmt, voll auf digitale Geschäfte zu setzen, beeindruckt so sehr, dass man denkt: So sieht er aus, der Mut der Verzweiflung. Für Springer ist die Transformation der Marke Bild ins Internet eine Überlebensfrage. In unserem Szenario aus dem Workshop vor zwei Jahren gelingt das. In der Realität wird das viel schwieriger und ein aufwändiger Prozess, der große finanzielle Mittel erfordert. Davon hat Springer durch den Verkauf seiner Regionalzeitungen und TV- und Frauenzeitschriften an die Funke Gruppe nun etwas mehr zur Verfügung.
Der Springer-Funke-Deal trifft nun nicht die ohnehin Lahmenden, wie sie Frankfurter Rundschau und Financial Times Deutschland waren. Mehr noch der Verkauf der renommierten Washington Post, deren Verleger resignierten, weil sie keine Antworten mehr gefunden haben auf die Fragen, die das Zeitungsgeschäft in dieser Zeit aufwirft. Das sind Weckrufe in die Redaktionen. Der Spiegel führt eine Zeitungsdebatte und stellt die Frage: “Brauchen wir noch Tageszeitungen und wenn ja, welche?” Denken sie an der Hamburger Ericusspitze wirklich, dass diese Revolution bei den Tageszeitungen haltmacht? Alle meinungsbildenden Überregionalen, egal ob sie täglich oder wöchentlich erscheinen, stehen unter Handlungsdruck. Ihre Erträge hängen viel zu sehr am Gedruckten mit rasant einbrechenden Werbeeinnahmen.
Man wundert sich, warum von FAZ bis Spiegel so wenig Zukunftsstrategien bei der überregionalen Qualitätspresse erkennbar sind. Gut, die B-Chefs aus den Online-Beibooten treffen sich auf Podien und sprechen sich Mut zu. Es fehlt jedoch an Ideen. Doch gäbe es sie, müsste man fragen: Wird es nicht schon am Geld fehlen, um diese Ideen noch umzusetzen? Springer hat seine Traditionsmedien verkauft, um sich für diesen Weg zu stärken. Was wird der Spiegel für seine Zukunft verkaufen? Gerade bei FAZ und Spiegel kann die Kapitalfrage zum entscheidenden Manko werden, ihrer besonderen Eigentumsverhältnisse wegen. Der Spiegel gehört zur Hälfte den Mitarbeitern und zur anderen den Spiegel-Erben und Gruner + Jahr. Wer gibt frisches Geld, wenn’s gebraucht wird? Die FAZ ist im Eigentum einer Stiftung. Die Idee dabei ist, dass die Stiftung aus den Gewinnen des Verlages ihre gemeinnützigen Zwecke verfolgt und nicht umgekehrt die Stiftung den Verlag finanziert. Jahrzehnte hat das prima geklappt.
Aber wenn die Gewinne ausbleiben und neues Kapital im Verlag gebraucht wird? Diese Situation gab es 2003, in der ersten Zeitungskrise, bei der Frankfurter Rundschau, die sich damals auch im Eigentum einer Stiftung befand. Ihr Weg ist bekannt: Zuerst musste das Land Hessen mit einer Bürgschaft rettend einspringen, dann die SPD. Geholfen hat es am Ende nicht.
Mit dem Ende der gedruckten Presse wird in dieser Debatte gern das Ende des Journalismus als unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Demokratie herbeigeschrieben. Dabei ist die Zeitungskrise allein eine Krise von Verlagen, bei denen die traditionellen Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren. Zeitungen mögen sterben, der Journalismus wird es nicht – schon gar nicht, weil sich nun das Internet durchsetzt. Viel mehr Menschen können heute journalistische Beiträge aus ganz unterschiedlichen Quellen lesen, Standpunkte vergleichen, sich selbst an Debatten beteiligen und schließlich besser urteilen.
Die taz, die schon 1995 ihren gesamten Inhalt ins Netz stellte, profitiert davon. Als es noch kein Internet gab, Zeitungen nur auf Papier erschienen und nicht digital, konnte sich trotz taz-Solidarpakt nicht jeder ein taz-Abo leisten. Die taz musste im Vergleich zu anderen Zeitungen immer teurer sein, weil sie ja nicht über Werbung finanziert wurde. Heute kostet ein digitales E-Paper-Abo wegen der gesparten Druck- und Vertriebskosten so wenig, dass es in jedes Studentenbudget passt. Die taz zu lesen, ist keine Frage mehr, es sich nicht leisten zu können, sondern eine, es sich leisten zu wollen.
Auch die Mär von der Gratismentalität im Netz ist bodenlos. Die Internetwirtschaft boomt für Unternehmen, die die richtigen Konzepte haben. Die alten Verlage hatten die bisher nicht, weil sie allein darauf setzten, mit hohen Reichweiten im Netz klingende Werbemünzen umzusetzen. Das wird so nicht bleiben.
Die taz hat es durch ihre Gründung 1979 geschafft, sich unkonventionell zu einem festgefügten Markt Zugang zu verschaffen. Mit dem Internet sind die Märkte nicht mehr festgefügt.
Der Versandhandel in Deutschland wurde einst von Unternehmen wie Neckermann und Quelle dominiert. Beide konnten – und wollten? – sich an die neuen Verhältnisse im Internet nicht schnell genug anpassen, heutzutage prägen Namen wie Amazon und Zalando den Markt der Warenversender.
In der Verlagsbranche kann das ähnlich passieren. Unbewegliche Unternehmen gehen, neue flexible kommen. Man muss das nicht gut finden – aber gegen die Realität hilft kein moralisches Argument.
Karl-Heinz Ruch, 59, ist seit 1979 taz-Geschäftsführer
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