In diese Kategorie gehört die Hochstapelei, der Hochstapler. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil ist der Titel eines Romans von Thomas Mann, der in den Jahren 1909 bis 1911 entstand. Thomas Mann plante den Roman seit 1905. Angeregt hatten ihn die Memoiren des Hochstaplers und Betrügers Manolescu. Sie wurden 1929 unter dem Titel „Manolescu – der König der Hochstapler“ verfilmt – und waren ein Bestseller. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Angeklagten Manolescu zuvor allerdings den Ehrentitel „Hochstapler“, der in der Verbrecherhierarchie hoch angesehen war, verweigert – und ihn als schnöden Dieb verurteilt. Berliner Gerichtsgutachter hatten ihm „manischen Entartungswahnsinn“ attestiert.
Mich regte nun die „Die New Economy und ihre formbildenden Kräfte“ zu einer
Beschäftigung mit Hochstaplern an. Vor etwa einem Jahr ergab sich die Gelegenheit, darüber für eine Kunstzeitschrift zu schreiben, die die „Hochstapelei“ zu ihrem Schwerpunktthema gewählt hatte. Ich weiß gar nicht, ob mein Text darin jemals erschienen ist…
2001 erschienen zwei Autobiographien von Hochstaplern: „Doktorspiele“ von Gert Postel und „Catch Me if You Can“ von Frank Abagnale. Beide Bücher sollen bzw. wurden bereits verfilmt und sind ihrerseits Hochstapeleien – insofern sie von den Autoren – der eine gab sich immer wieder als Arzt aus, der andere als Pilot – nicht selbst geschrieben wurden.
Ihren Biographien ging bereits ein Ende 1999 von Studenten organisierter „Erster Internationaler Hochstaplerkongreß“ in Berlin voraus. Auf ihm wurde der Hochstapler folgendermaßen definiert: Er ist „1. ein Revolutionär, der durch Affirmation die herrschenden Charaktermasken entlarvt, 2. ein Reaktionär, der das Normen- und Regelwerk überbeherrscht und 3. ein Vorreiter jenes gesellschaftlichen Mainstreams, der die Dominanz des Scheins über das Sein besiegelt – und damit derzeit ein Trendsetter“. Dieser Befund trifft sich mit den Analysen des boomenden Fortbildungs- und Umschulungssektors, die der Filmemacher Harun Farocki seit der Wende gemacht hat. In den vor allem im Osten entstandenen Bildungszentren wird den Arbeitslosen u.a. beigebracht, wie man sich richtig bewirbt, d.h. besser verkauft. Es sind videogestützte Auftritts-Schulungen, in denen das wirkliche (d.h. das neue westliche) Leben geübt werden soll – für eine neue Gesellschaft, die laut Farocki „vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist“. Die letzte Shell-Studie zeigt, dass die deutsche Jugend dieses „Ziel“ bereits mehrheitlich gefressen hat: „In“ sind danach – für 82% der Befragten – die individuelle „Karriere“ sowie – für 88% – das „tolle Aussehen“. Für beides kommt den oben erwähnten Hochstaplern eine Vorbildfunktion zu. (1)
Frank Abagnale schreibt: „Noch vor meinem zwanzigsten Lebensjahr hatte ich es zum zweieinhalbfachen Millionär gebracht. Jeder Pfennig dieser Summe war gestohlen und ich gab ein Großteil davon für exklusive Kleidung, Essen vom Feinsten, luxuriöse Unterkünfte, phantastische Bräute, teure Autos und andere sinnliche Genüsse aus“. Ähnlich klingen auch die „Geständnisse“ von Gert Postel, nur daß er zuletzt als Oberarzt an einer ostdeutschen psychiatrischen Klinik etwas weniger verdiente. Was die beiden außerdem eint, ist die strenge Orientierung nach oben, d.h. ihre vollständige Ausrichtung auf diejenigen, die es geschafft haben. Das geht einher mit einer großen Verachtung aller, die von ihnen abhängig sind, d.h. die „unten“ sind (2) – vor allem Frauen: Bei dem falschen Arzt Postel waren das erst Prostituierte und zuletzt Patientinnen mit schweren psychischen Problemen. Er behandelte sie alles andere als freundlich. Der Gerichtsreporter Gerhard Mauz schrieb über ihn – in dem ebenfalls stets auf die Mächtigen hin orientierten Nachrichtenmagazin Der Spiegel, „daß da ein Artist sein Spiel trieb“. Eher sollte man von einem Charakterschwein reden. Ob die lumpenproletarische Gewissenlosigkeit ihnen die Hochstapelei erleichtert hat, mag jedoch dahingestellt sein (3), Tatsache ist, daß sie damit das Fehlen einer mehr oder weniger soliden (universitären) Ausbildung kompensierten, indem sie diese oberflächlich um so perfekter nachäfften (4).
Mit dieser „Artistik“ sind sie jedoch keine Außenseiter mehr, insofern die Universitäten selbst längst Hochburgen des Auftrittsbetrugs geworden sind: des „großen Bluffs“, wie das eine Rotbuch-Studie in den Siebzigerjahren bereits nannte. Heute veröffentlichen Spiegel und Focus regelmäßig „Ranking“-Listen der besten Universitäten. Und je höher es die Studierenden zieht, desto mehr handelt es sich bei den Hochschulreifen um moralische Kretins. Den Gipfel an Verkommenheit bildet immer noch die Universität Harvard in Massachusetts aus. Harvard ist für die allgemeine Herzensbildung ungefähr das, was Tschernobyl für die Umwelt darstellt: eine schwere Belastung. Dies hängt ebenfalls mit dem Ranking (der US-Universitäten) zusammen, das die Höhe der Studiengebühren bestimmt – und Harvard ist am Teuersten: Mittlerweile gibt es wahrscheinlich keine erfolgreichen Massenmörder, Mafiosi, Gangster, Waffenhändler, Rauschgiftschieber und korrupte Politiker mehr weltweit, die ihre Söhne und Töchter nicht nach Harvard schicken – um sie veredeln und verfeinern zu lassen. Für diese sauberen Sprößlinge gibt es dort dann nur noch ein Verbrechen: das Kooperieren. Die „Competition“ wird in Harvard derart groß geschrieben, daß die Studenten untereinander nicht einmal andeuten mögen, was sie denken oder an welcher These sie gerade arbeiten – aus Angst, man könnte ihnen ihre mickrigen Ideen klauen, die im übrigen alle fast identisch sind. Was an deutschen Unis immer noch gefördert wird, die Gruppenarbeit, kann in Harvard sogar disziplinarische Folgen haben, wenn sie auffliegt. Im Endeffekt hat sich diese vollkommen asoziale Elite zu dem gemausert, was man jetzt auch hier der Unterschicht zumuten möchte: Sie bilden einen wüsten Haufen „Ich-AGs“. In Amerika, wo schon die kleinste gewerkschaftliche Zusammenrottung als kriminelle Verschwörung angesehen wird, ist es gang und gäbe, dass man von der Wiege bis zur Bahre Ich sagt: Ich denke, ich meine, ich will dies und das! In Deutschland und Frankreich ist man sich dagegen mindestens unter den Philosophen schon lange einig, dass es nichts Verabscheuungswürdigeres als das Ich gibt, das einst mit dem Geldverkehr der Griechen aufkam. „Im Grunde verletzt es meine Eitelkeit, dass jeder Name in der Geschichte Ich bin,“ meinte Nietzsche. „Bei manchen ist es schon eine Lüge, wenn sie Ich sagen,“ klagte Adorno. Lévy-Strauss ist sich sicher: „Das Ich ist nicht nur hassenswert, es hat nicht einmal Platz zwischen Uns und dem Nichts“. Und Antonin Artaud behauptete kurz und knapp: „Ich ist eine Sauerei!“ Die „Ich-AG“ – von Harvard bis Hameln – gehört mithin auf den Misthaufen der Geschichte! Und die uns dies immer wieder deutlich vor Augen führen, das sind die Hochstapler. Deswegen lieben wir sie – trotzdem. Und sind mit ihnen solidarisch – wenn sie endlich auffliegen!
Bei einer speziellen Sorte von Hochstaplern kann das Auffliegen auch gleichsam unmerklich geschehen: bei den Doppelgängern, „Look-Alikes“ auf Englisch genannt. Und zwar bei solchen, die ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, dass sie einem Prominenten oder Reichen (einer Celebrity) täuschend ähnlich sehen bzw. sich diesem immer mehr anverwandeln. Im Tier- und Pflanzenreich spricht man in diesem Zusammenhang von Mimesis bzw. Mimikry, ich komme später darauf zurück. Menschliche Doppelgänger fliegen dann auf, wenn ihr „Vorbild“ stirbt – und sie ihm irgendwann nicht einmal mehr mit Schönheitsoperationen ähnlich sehen. Oder, nicht weniger tragisch, wenn sich niemand mehr an den Promi erinnern kann, den sie immer noch nachäffen. Bis sie überhaupt nicht mehr gebucht werden.
Ich kann mich hierbei auf Rosemarie Fieting berufen, eine ehemalige Chefsekretärin bei Borsig, die 1987 im Märkischen Viertel Berlins die erste Künstleragentur für Look-Alikes mit einer Lizenz der Bundesanstalt für Arbeit eröffnete. Sie hat z.B. vier „Marilyn Monroes“ in ihrer Kartei – und die tun alles, um so zu sein wie ihr frühverstorbenes Vorbild, bis hin zur Stimme, aber irgendwann ist trotzdem Schluß: „Eine hat sich deswegen sogar – genauso wie die Monroe – umgebracht.“ Auch ihre rund 35 Elvis-Interpreten, „mit unterschiedlichen Tanz- und Gesangsqualitäten“, müssen früher oder später traurig aufgeben, nicht zuletzt, weil sich immer wieder neue, ähnlicher aussehende einstellen. Rosemarie Fietings „Humphrey Bogart“ hat sich deswegen kürzlich für 10.000 Euro liften lassen, um seinem toten Vorbild ähnlich zu bleiben. Und ihr „Freddie Mercury“ hat sich die Zähne nach seinem Vorbild machen lassen, „außerdem besucht er an jedem Todestag auf dem Londoner Friedhof dessen Grab“. Eher umgekehrt ist es bei einem ihrer 35 „Michael Jackson“, ein Südafrikaner, über den es bereits einen Film gibt „Das gestohlene Gesicht“: „Er sieht ohne Operationen genauso aus wie Michael Jackson nach seinen ganzen kosmetischen Eingriffen.“ Der nicht seltene Fall, wo die Kopie quasi das Original ist. Auch über ihre in Israel lebende „Julia Roberts“, die Gottschalk für eine Sendung haben wollte, weil zur gleichen Zeit auf einem Konkurrenzsender „Pretty Woman“ lief, schrieben die Zeitungen am nächsten Tag: „Es war die echte!“ Während ihre „Pamela Anderson“ Authentizität dadurch erreicht, dass sie zu ihren Auftritten stets mit einer echten Fantruppe erscheint: „Die rennen ihr bei Dreharbeiten bis aufs Mädchenklo nach.“ Außerdem hat sie die selben Hobbys wie die wahre Pamela. Unlängst war sie ganz verzweifelt, weil sich in Hollywood alle Frauen ihre Brüste vergrößern ließen und sie das eigentlich nicht wollte. Rosemarie Fieting bestärkte sie darin. Der älteste Look-Alike ihrer Agentur ist achtzig: „Albert Einstein“, früher war er halb leitender Angestellter: „Er kennt die Relativitätstheorie und alle Formeln und spielt Geige. Mit einem Professor ist er schon mal auf Lesetournee gegangen. Der ist wirklich sehr brauchbar.“ Während einer der „Roger Moore“ in ihrer Kartei, ein gefragter Dressman, von Rosemarie Fieting vorsichtig als „mindestens so schwierig wie der richtige“ bezeichnet wird.
„Das Phänomen der Doppelgänger ist: Sie wissen nicht, wer war das Original und wer bin ich?“ Damit nähern sie sich der Hochstapelei, denn sie wollen nicht nur so aussehen, sondern auch so behandelt werden wie ihr berühmtes Vorbild. Ihr „Prinz Charles z.B.: „Der will genauso behandelt werden wie der richtige – man muß immer einen roten Teppich ausrollen für ihn. Anstrengend! Meine ,Queen‘ ging sogar so weit, daß sie dem Bürgermeister nicht die Hand geben wollte: ,Das steht nicht im Protokoll‘, hat sie gesagt.“ Und ihr „Udo Lindenberg“, im bürgerlichen Beruf Koch, benimmt sich immer öfter so unbürgerlich wie sein Vorbild: „Er trinkt und flucht gerne.“ Jüngst geriet er in eine Schlägerei und mußte mit verbundener Nase auftreten. Aber Rosemarie Fieting hat Verständnis für solche Naturexperimente: Schon als Fünfjährige sah sie Liz Taylor ähnlich und wurde oft Liz genannt, 35jährig gab sie Autogramme – als Liz Taylor. Ihr Vater hatte eine Autoreparaturwerkstatt und fuhr einen Dodge. Ihr Sohn – ein Image-Mix aus Freddie Mercury und Tom Selleck – hat jetzt ebenfalls eine Werkstatt, in der er Oldtimer restauriert.
Mit der Umwandlung der Industriegesellschaft in eine Mediengesellschaft nehmen auch die Doppelgänger zu. In vielen Städten, so auch in Berlin, gibt es mittlerweile regelmäßig „Look-Alike-Contests“ und Rosemarie Fietings Kartei wird immer umfangreicher. Wie wird man Doppelgänger? Aus Dessau kam z.B. ein arbeitsloser Brauingenieur zu Rosemarie Fieting – er meinte: „Ich selber kuck wenig Fernsehn, aber die Kollegen behaupten, ich sehe aus wie Herbert Feuerstein. Wenn ich eine Hornbrille aufsetze, sehe ich ihm noch ähnlicher“. So fängt es an, der Rest ist dann Feinarbeit, nicht zuletzt von der Agenturchefin. Aber das Wesentliche der Anverwandlung läßt sich mit einer Medientheorie erklären, die der englische Botaniker Rupert Sheldrake entwickelte. Er spricht von „morphogenetischen Feldern“: Immaterielle Strukturen, die bei Lebewesen und sogar bei Kristallen qua Resonanz formbildend wirken. Danach würden die Stars und Celebrities über die Medien in deren und ihrem jeweiligen kulturellen Epizentrum die größte „Wirkung auf Distanz“ erzielen – das heißt, die größte Anzahl von Lookalikes. Und dabei wiederum ließen sich – über ihre geographische Verteilung – quasi Zonen medialer Beeinflussung ausmachen, die im „Globalen Dorf“ zwar weit reichen können, aber nicht beliebig sind. Es gibt zum Beispiel vier „Queens“, drei kommen aus London, wo die Königsfamilie anscheinend noch eine starke Vorbildfunktion besitzt. Rosemarie Fieting hat ferner drei mal „Lady Di“ im Angebot: zwei kommen ebenfalls aus England, eine aus dem englischen Sektor Berlins. „Sie sagt immer: ,Ick bin aus Brighton!'“ Ihre „Marlene Dietrich“ kommt aus Berlin und „George Bush“ aus Amerika, „Linda Evans“ stammt aus Frankfurt- Bockenheim, und ihr äußerst gelungenes Otto-Double – natürlich aus Ostfriesland. Er ist dort Kinovorführer. Man muß sich die „morphische Resonanz“ so ähnlich wie das Tunen eines Radios zum Empfang eines bestimmten Senders vorstellen. Die persönliche „Einstellung“ auf eine mediale Größe kann zunächst ganz grob über das Imitieren von Kleidung, Frisur, Körperhaltung, Gang und Gesichtsausdruck geschehen.
Dazu hat der mit den Surrealisten eine zeitlang sympathisierende Soziologe Roger Caillois mit seinen Forschungen über die Mimese und Mimikry zumeist am Beispiel von Insekten Erhellendes beigetragen: So versteht er u.a. die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, ähnlich dem Maskenspiel der sogenannten Primitiven, und die Mimesis überhaupt als tierisches Pendant zur menschlichen Mode. Für Caillois „gibt es nur eine Natur“ – soll heißen: „dass die Formen und Verhaltensweisen der Insekten genauso wie bestimmte ästhetische Vorlieben und Faszinierbarkeiten der Menschen sich auf eine gemeinsame Basis zurückführen lassen: auf den Formenvorrat einer bildnerischen Natur, deren spielerisch zweckfreies Wirken sich im Naturreich ebenso niederschlägt wie in der vom Naturzwang freigesetzten Sphäre menschlicher Imagination“. So schreibt die FAZ in einer Rezension des Caillois-Buches „Méduse & Cie“. Dennoch geschieht die Mimikry bzw. Doppelgängerei nicht ganz freiwillig. Folgt man Caillois, handelt es sich dabei um „eine Störung der räumlichen Wahrnehmung“, die sowohl bestimmte Insekten als auch Schizophrene heimsucht. Beide wissen „im starken Wortsinn – nicht mehr, wohin mit sich“. An anderer Stelle heißt es: „Der Raum erscheint diesen enteigneten Wesen als ein alles verschlingender Wille“. Bei den Look-Alike-Karrieren besteht dieser vornehmlich aus dem Sog des medialen Raumes, der immer stärker wird – wobei ihnen gleichzeitig der Boden des „Realen“ unter den Füßen weggezogen wird. Die Philosophin Alenka Zupancic würde glaube ich sagen, dass dabei die „Illusion“ das Reale wird oder schon geworden ist.
(1) Die Wertschätzung der Hochstapler in der „New Economy“ ist natürlich nicht neu. So berichtete z.B. der amerikanische China-Korrespondent Edgar Snow, daß einige chinesische Bauern 1935 in einem von der Roten Armee „befreiten Gebiet“ einen Steuereintreiber fingen, der vorgab für die Kommunisten zu arbeiten. Die Bauern hatten ihm geglaubt – bis sie erfuhren, „dass die Roten gar keine Steuereintreiber ernannten“. Es kam zu einem öffentlichen Prozeß, auf dem Edgar Snow anwesend war. Er schrieb: „Meine eigene Reaktion auf diese Geschichte war, dass ein Mann, der die Frechheit besaß, in einer solchen Situation als Hochstapler aufzutreten, über Talente verfügt, deren man sich bedienen sollte“. Die mit den Kommunisten sympathisierenden Bauern dachten jedoch anders: Er wurde ohne Gegenstimme zum Tode verurteilt.
Das Hochstapeln ist ein Wesensmerkmal des Projektemachers. Als Hochstapler entlarvt zu werden, kommt deswegen dem Scheitern eines Projekts gleich. Und nur manchmal bekommt man eine zweite Chance. Dies galt z.B. für den Sohn eines chinesischen Konterrevolutionärs, Xiao Yinong, der sich, um studieren zu können, als Sohn eines stellvertretenden Parteisekretärs ausgab, er fälschte sogar seine Kaderakte. Als er dennoch aufflog, wurde er zur Umerziehung aufs Land geschickt. Hier gelang ihm seine Rehabilitation und er wurde schließlich ein in ganz China berühmter Autor.
Der Vollständigkeit halber seien noch einige hiesige Karrieren und Abstürze von Hochstaplern hier erwähnt:
– Der Fall des Flensburger Gelegenheitsarbeiter Jürgen Harksen, der hunderte Millionen Euro von reichen Hanseaten einsammelte, um ihr Vermögen spekulativ zu vermehren, in Wirklichkeit verpulverte er es jedoch ähnlich wie Abagnale für Autos, Yachten, Häuser, Parties etc.. Sein ebenfalls im Knast entstandenes Buch darüber heißt „Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm“, es erschien im Scherz-Verlag und wurde von Ulf Mailänder verfaßt. Zur Zeit will es der Regisseur Dieter Wedel verfilmen – unter dem Arbeitstitel „Mit Glanz und Gloria“. Jürgen Harksen befürchtet jedoch laut „Spiegel“, „dass darin seine Figur falsch gezeichnet wird“.
– Der an den berühmten „Konsul Weyer“ sich in puncto PKW und weiblichem Begleitpersonal orientierende Titelhändler Paul Werner, der selbst noch im Butzbacher Knast zwei Titel verkaufte, einen an den Gefängnispsychologen, dem er einen akademischen Titel der nicht-existierenden University of Ipswich verschaffte.
– Der adlige Treuhandmanager Arndt von Bismarck, der wochenlang in einem Berliner Luxushotel logierte – bis herauskam, dass es sich um einen wohnungslosen Zahnarzthelfer namens Wilfried S. handelte.
– der 28 Mal wegen Heiratsschwindelei und Hochstapelei vorbestrafte österreichische Pilot und Unternehmensberater Ludwig L., der nichts davon war, dem es aber dennoch gelang, einer Frau, die sich in ihn verliebt hatte, 40.000 Euro abzugaunern. Als sie Anzeige erstattete, mietete er sich unter falschem Namen und falscher Adresse in verschiedenen österreichischen Thermenhotels ein, ohne die Rechnungen zu begleichen. Er nimmt seine Hochstapelei längst nicht mehr als eine solche wahr, ist also mit seiner Rolle identisch geworden.
– Der noch nicht abgeschlossene Fall Helg S.: ein Schweizer Hochstapler, Erpresser und „Gigolo“, der zuletzt eine BMW-Erbin um 7,5 Millionen Euro erleichterte.
– Und schließlich ganz summarisch all die Hunderte, oder Tausende, die ihre Doktorarbeiten schreiben lassen bzw. abschreiben – beginnend mit einem Hohenzollernprinzen, der aufflog, aber auch schon die Zigtausende, die ihre Seminar- oder Examensarbeiten teilweise oder zur Gänze abschreiben und die unzähligen Schüler, die ihre Hausarbeiten aus dem Internet runterladen, wo auch ich mir hierfür etliche Informationen geholt habe – ohne Quellenangabe. Man kann solch Tun schon gar nicht mehr als Hochstapelei empfinden.
(2) Das gilt auch für einen weiteren Hochstapler, der immer noch von der Polizei gesucht wird: Ein Penner aus Passau, der sich zuletzt als militärischer Berater bei den Rettern der Elbeflut-Katastrophe einklinkte. Bereits in den Jahren davor war er immer wieder – in Phantasieuniformen – als Sicherheitsdienstleister aufgetreten: zum Entsetzen seiner armen Mutter, wenn man den Medien glauben darf. Mal trat er mit einer Feuerwehruniform angetan in Erscheinung, mal als Rotkreuzhelfer mit einem Notarztkoffer, ein andernmal mit einer Bundeswehruniform. Zu seinem Elbe-Einsatz erschien er als „Leutnant der Militärpolizei“, dort nahm er besonders die freiwilligen Helfer hart ran: „Absitzen – antreten – zack, zack, Sandsäcke füllen,“ so scheuchte er die Jugendlichen herum. Der echte Feuerwehrmann am Steuer des Sandsacklasters dachte sich laut Spiegel dabei: „Na ja ein Leutnant, der darf das ja!“
(3) Zumal es auch anständige Hochstapler gibt. Erwähnt sei der aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Deutschbalte Hary Domela, der 1927 – ähnlich wie der Bremer Briefträger Postel – im Knast seine Autobiographie schrieb: „Der falsche Prinz“, die Wieland Herzfelde dann in seinem Malik-Verlag veröffentlichte. Das Buch wurde mit 120.000 Exemplaren ein gewaltiger Erfolg. Harry Domela wurde im lettischen Dorf Grusche als Deutschbalte geboren und 1919 mit 14 Jahren Kindersoldat in dem während des Ersten Weltkrieges im Baltikum kämpfenden Freikorps „Brandis“. Die Truppe wurde 1920 in Brandenburg aufgelöst. Domela galt in der Heimat als Hochverräter und in Deutschland als Ausländer. Die deutschen Behörden verweigerten ihm einen Pass, den er aber brauchte, um Arbeit zu finden. Er nahm Hilfsarbeiten an, bei denen nicht nach einem Pass gefragt wurde – als Ziegeleiarbeiter, Hausbursche, Bettler, Vertreter, Schnellzeichner und Gärtner. Domela legte sich, um seine Chancen zu verbessern, den Namen „von Liven“ zu. Ein in Darmstadt angesprochener Graf von Hardenberg bot dem vermeintlichen Standesgenossen Unterstützung an. Damit begann Domelas Hochstaplerkarriere. Im Herbst 1926 stellte er sich in Heidelberg im Verbindungslokal des Corps der „Saxo-Borussen“ als „Prinz Liven, Leutnant im 4. Reiterregiment Potsdam“ vor. Er wurde begeistert empfangen. Wenige Wochen später logierte er schon in Erfurt als „Baron Korff“ im Hotel Erfurter Hof. Der Hoteldirektor hielt ihn für den Hohenzollern-Prinzen Wilhelm, den ältesten Sohn des ehemaligen deutschen Kronprinzen. Domela stieg schon bald in der guten Gesellschaft Thüringens in schwindelnde Höhen auf. Als Zweifel aufkamen, setzte er sich mit der Eisenbahn ins Rheinland ab, um in die französische Fremdenlegion einzutreten. Er wurde jedoch im Januar 1927 in Köln festgenommen. Noch im gleichen Monat machte man ihm unter größtem öffentlichen Interesse den Prozess. Dann erschien seine Autobiographie. Die literarische Prominenz, darunter Thomas Mann, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky, feierte ihn, er trat in Theatern und Revuen auf, Zeitschriften veröffentlichten Artikel über ihn. Im Sommer 1929 machte sich der 24-Jährige im Berliner Wedding mit einem kleinen Kino selbständig. Es lief immer der gleiche Film: „Der falsche Prinz. 6 Akte mit Harry Domela.“ Sein Kino ging jedoch bald Pleite. Domela verlor sein letztes Geld und wurde regelmäßig unter obskuren Anschuldigen verhaftet. Zuletzt im Januar 1931 wegen „Verdacht auf Landesverrat“. Er sympathisierte mit der KPD und ging nach der Machtergreifung der Nazis vorsichtshalber mit falschem Pass nach Holland. Er nannte sich dort „Victor Zsajska, geboren am 12. August 1908 in Wien, wohnhaft in Wien. Im Sommer 1936 reiste er mit seinem neuen Freund Jef Last nach Paris. Dieser war Sozialist und Homosexueller wie Harry Domela, Schriftsteller und gut bekannt mit dem angeblichen Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, waren Domela und Last unter den ersten Ausländern, die der Spanischen Republik zu Hilfe eilten. Am 20. September 1936 traten sie in Madrid der regulären spanischen Volksarmee bei. Harry Domela diente in den ersten Kriegstagen Ludwig Renn als Adjutant. Er traf Franz Dahlem als Leiter der Politischen Kommission der Internationalen Brigaden. Als die Volksarmee im Januar 1939 zusammenbrach, floh auch Domela – in Richtung Frankreich. Als wenig später auch spanische Soldaten die Grenze passieren durften, wurde Harry Domela als Offizier eines Divisionsstabes in Saint-Cyprien unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert. Auf Bitten von Jef Last bekam André Gide ihn im Mai frei. Gide vermittelte ihn an Aline Mayrisch-de Saint-Huber, die Witwe des luxemburgischen Stahlindustriellen Emile Mayrisch. Domela gab sich immer noch als Victor Zsajska aus. Die luxemburgische Fremdenpolizei überprüfte im Juli 1939 seine Identität. Domela setzte sich daraufhin sicherheitshalber nach Belgien ab, wurde verhaftet, konnte jedoch noch vor dem deutschen Einmarsch entkommen und tauchte unter. Im Frühling des Jahres 1941 traf er in der Christi Bar in Nizza, in der unbesetzten Zone Frankreichs André Gide wieder. Im Sommer verhaftete man Domela und sperrte ihn ins Lager Vernet. Er entkam der Auslieferung an die deutschen Behörden dank Gide, der ihm ein Visum und eine Schiffsticket nach Mexiko besorgte. Dort kam er jedoch nie an und blieb für viele für immer verschollen. Er war jedoch auf abenteuerlichen Wegen nach Venezuela gelangt und schrieb erst am 15. September 1965 seinem Exfreund Jef Last aus Maracaibo. Er hatte sich dort eine Existenz als Gymnasiallehrer aufgebaut und bat Last, nichts über ihn verlauten zu lassen, da er immer noch mit falscher Identität lebe und auch keine Möglichkeit sehe, je wieder einen regulären Pass zu erhalten. Mitte der 1970er Jahre verlor sich seine Spur in Venezuela.“
(4) So arbeitete der Bremer Briefträger Gerd-Uwe Postel immer wieder als Psychiater, zuletzt in einer psychiatrischen Klinik bei Leipzig, wo er aufflog. Eine Freundin, die Ärztin war, hatte ihn zuvor auf die Idee gebracht, sich als Arzt auszugeben, indem sie ihn auf eine Medizinerparty mitgenommen hatte. Anschließend sagte er sich: „Das kann ich auch!“ Als „Dr.Dr. Clemens von Bartholdy“ bewarb er sich dann in einem staatlichen Lübecker Medizinischen Dienst und wurde sofort eingestellt. Einmal lud ihn sein Vorgesetzter zu einem Gespräch nach Kiel ein, um ihm dort eine Professorenstelle anzubieten. Er fragte ihn, worin er denn seinen Doktor gemacht habe. Postel antwortete, er habe zwei Doktortitel, einen in Psychologie. Dabei habe er über „Kognitive Wahrnehmungsverzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung“ gearbeitet. Arbeit klingt immer gut. Sein Vorgesetzter war mit dieser Antwort sehr zufrieden – dabei war dies bloß eine kluge Definition von Hochstapelei, und dazu noch Form und Inhalt in diesem Moment identisch gewesen. 1984 veröffentlichten Jörg Schröder und ich im „März Mammut“ ein Kapitel aus seiner Doktorarbeit – unter dem nämlichen Titel, wozu wir kurzerhand einen Abschnitt aus dem zuvor im Merve-Verlag erschienenen Spinoza-Buch von Gilles Deleuze verwendeten. Es geht darin um die Fähigkeit der Lebewesen, zu affizieren und affiziert zu werden. In dieser Sicht steht ein Ackergaul einem Ochsen näher als einem Rennpferd, „weil es mit ihm eher gemeinsame Affekte hat,“ wie Gilles Deleuze schrieb – und also dann auch Dr.Dr. Clemens von Bartholdy in seiner Doktorarbeit. Der Merve-Verleger Peter Gente war darüber not amused.
Das sind typische Hochstapler-Poller! Doch, doch, so etwas gibt es. Und zwar in Boizenburg an der Elbe. Zehn mit Eisenstangen verbundene gelbschwarze Betonquader. Diese ehemalige Grenzbefestigung richtete der Betreiber einer Grenzübergangs-Kneipe gleich daneben (im Bild nicht mehr sichtbar) „authentisch“ wieder her, sie markierten jedoch keinen Übergang in den Westen, sondern bloß in das Sperrgebiet an der Grenze. Und nun sind sie eine, wenn nicht die „Attraktion“ seiner Kneipe.
In Boizenburg befand sich zu DDR-Zeiten eine Werft, die Binnenschiffe herstellte sowie eine Fabrik, die die berühmten „Boizenburger 9-Segmenthallen“ in Serie produzierte. Beide VEBs wurden nach der Wende abgewickelt. Diese Hallen hätten es jedoch verdient, weiter produziert zu werden: Man kann sie teleskopartig zusammenschieben und dann leicht auf einem LKW transportieren. Noch im hintersten Sibirien wurden sie gerne von Montagetrupps als Lagerhallen eingesetzt. Heute gibt es sie gelegentlich noch als DDR-Warenmuseum – z.B. auf dem Narva-Gelände der „Oberbaum-City“ in Berlin-Friedrichshain. Statt diese weltweit einzigartige Hallen-Produktion zu erhalten, setzten die Ostpolitiker, vor allem die in Brandenburg, jedoch auf ganz große und ganz moderne Hallen – wie z.B. die zur „Cargo-Lifter“-Produktion. Doch keiner wollte solche „Cargo-Lifter“ (Zeppeline) und deswegen stand die Halle schon bald leer. Heute befindet sich in ihr ein exotisches Spaß- und Erholungsbad für die ganze Familie, das einem indonesischen Abenteuerunternehmer gehört. Die Landesregierung hat überall Schilder aufgestellt, die den das Hallenbad suchenden Familien den Weg weisen.
Nett, dass Sie an meinem Ruhm und meiner Unsterblichkeit arbeiten. Aber schreiben können Sie leider nicht. Vielleicht sind Sie nur ein Hochstapler?
Beste Grüße
Gert Postel