vonHelmut Höge 20.09.2010

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Früher wurde die Wetware (Soldaten/Polizisten) sukzessive durch Hardware (Poller) ersetzt. Für den Photographen wurden sie hier noch einmal nebeneinander gestellt.


Oder man gruppierte einfach Hard-, Wet- und Software harmonisch nebeneinander.


Während ganz primitive Völker versuchten, Hard-, Soft- und Wetware in einem einzigen, dafür riesigen Objekt unterzubringen – ein Fetisch als Fakt.


Heute ersetzt man die Hardware nach und nach durch Software: Virtuelle Spead-Breaker, auch virtuelle Horizontal-Poller genannt, z.B. auf 100 Straßenkreuzungen in Philadelphia. Dazu heißt es auf gut Amerikanisch:  „The virtual humps in Philadelphia are part of a city-wide campaign called ‚Drive CarePhilly‘ which includes more resources for police to catch speeding mororists.“ Hier in Schland würde man die damit freigesetzten Bullen jedoch nicht zum „speeding motorist catching“ einsetzen, sondern um die Linke noch mürber zu machen. Näheres dazu unten im Anhang.


Irritierenderweise kommt noch hinzu, dass Stadt- und Verkehrsplaner heute die nicht-virtuellen Spead-Breaker (Horizontal-Poller) ebenfalls als „Software“ bezeichnen, im Gegensatz zu den Vertikal-Pollern, die sie „Hardware“ nennen, weil diese dem Auto Beulen zufügen, wenn man sie überfährt, während bei jenen so gut wie nichts passiert, es rumpelt nur ein bißchen in der Karosserie. Einige Verkehrsplaner unterscheiden darüberhinaus aber auch noch bei den Sped-Breakern selbst „harte“ und „softe“ Varianten, weil sie beim Einbau die Wahl haben zwischen solchen aus Beton oder Metall und sonen aus Hartgummi oder Plastik.


Daneben gibt es (in der Kunst) auch noch die Möglichkeit, ein Stück symbolische Wetware ejnfach auf reale Hardware zu dübeln.


Oder – ebenfalls in der Kunst, aber auch im Straßenverkehr: man verbindet die Hardware (Poller) elegant mit Software (weichem Licht).


Hier hat der Künstler dagegen sehr viel Wetware in seine Hardware „investiert“/integriert.


Was man von dieser Hamburger Dumpfvariante nicht sagen kann: Sie besteht darin, dass man eine Wetware (den Künstler) hinter vier Hardwares (Hutpoller) postiert.


Begriffsklärung: Wetware

Im Spätsommer 1991 fand in Amsterdam – im altehrwürdigen Multimediaclub „Melkweg“ (The Milky Way) – ein zweitägiger Kongreß über „Wetware“ (Naßware) statt. organisiert vom „Dutch media theorist“  Geert Lovink:  „Brain“ des 2004 in Amsterdam gegründeten  „Institute of Network Cultures“. Geert bat mich, auf dem Kongreß eine Diashow zum Thema zu zeigen. Bei der „Wetware“, so klärte er mich vorab auf, handelt es sich um den  „Menschen“, genauer gesagt: um sein Gehirn – als den dritten notwendigen Teil in der neuen Informations- und Medien-Gesellschaft, neben der „Software“ (den Programmen) und der „Hardware“ (den Platinen, Prozessoren, Motherboards etc.).

Ich war 1991 gerade damit beschäftigt, von der Landarbeiter- zur Industriearbeiter-Agitation im Osten zu wechseln. Erstere hatten versucht, sich gegen die von Westen betriebene Auflösung ihrer LPGen zu wehren, letztere waren gerade dabei, sich gegen die Abwicklung ihrer Betriebe durch die Treuhandanstalt zu organisieren, u.a. indem sie eine „ostdeutsche Betriebsräteinitiative“ gründeten (deren Zeitung ich dann herausgab). Am 1.April 1991 war der Treuhandchef Detlev Rohwedder erschossen worden, der im Februar 1991 das Berliner Glühlampenwerk Narva wieder von der Abwicklungsliste genommen hatte, auf die einige Siemensmanager im „Plaschna-Ausschuß“  der Treuhand es gleich nach der Wiedervereinigung gesetzt hatten. Am 5.März, war bereits der Käufer des Berliner Glühlampenwerks Dieter Binninger mit seinem Flugzeug abgestürzt, so dass das Überleben der Fabrik seitdem wieder fraglich geworden war. Und am 12. Juni war der Stadtplaner in der Senatsbauverwaltung Hanno Klein, der u.a. für das riesige Narva-Gelände an der Oberbaum- und Warschauer Brücke „verantwortlich“ zeichnete, mit einer Paketbombe getötet worden. Zwei Jahre später kam auch noch der bei der neuen Treuhandchefin Birgit Breuel zugunsten Narvas intervenierende Siemenskritiker und Elektrokartell-Experte Rudolf Mirow ums Leben: Er wurde auf Bali von einem Auto überfahren. Laut Spiegel hatten die lateinamerikanischen Tochtergesellschaften der im Elektrokartell IEA zusammengeschlossenen Multis den  brasilianischen  Elektrounternehmer bereits 1971 als ihren  „Feind Nummer 1“ ausgemacht. Die Drohungen wurden so massiv, speziell von dem auf ihn „angesetzten“ japanischen Kartellmitglied „Toshiba“, dass er schließlich Leibwächter engagieren mußte. Anfang der Achtzigerjahre gab Mirow seine Firma auf – und zog nach Westdeutschland. Aber das gehört alles nicht hierher. Sein tödlicher  „Autounfall“ geschah wie gesagt erst 1993, einen solchen angedroht hatten ihn einzelne   Elektrokartell-Mitglieder allerdings schon seit 1970 )

Dies könnte gut und gerne ebenfalls eine Hamburger Dumpfvariante sein: scheinbar softgemachte Hardware (von irgendwelchen Designidioten)


Aber auch ohne diesen letzten „Wetjob“ (nassen Auftrag), wie Morde auf Bestellung auch genannt werden,  waren das bereits ein bißchen viele Tote auf einmal – rund  um die Abwicklung/Privatisierung eines einzigen DDR-Betriebs: Narva. Falls es sich dabei nicht um „Unfälle“, sondern um ermordete „Wetware“ handelte, dann wurden die Täter jedenfalls nie ermittelt. Wirtschaftskrimis enden ja meistens so. Das hat damit zu tun, dass die Polizisten und Justizbeamte als Kapitalknechte bestenfalls in der Lage sind, Kapitalverbrechen aufzuklären, aber nicht die Verbrechen des Kapitals, obwohl man schon lange weiß, dass Eigentum Diebstahl ist und also jedes Wirtschaftshandeln genaugenommen ein Delikt darstellt.

Noch im Zug nach Amsterdam konnte ich eigentlich nichts mit dieser Kongreß-„Spielerei“ eines idiotischen US-Fachbegriffs aus der Computerwelt anfangen. Mit dabei hatte ich nichtsdestotrotz 400 Dias von „Frauen am Geländer“ – als wahre „Wetware“. Dazu einen Diaprojektor nebst Fernbedienung – als Hardware (von Kodak), und einige mehr oder weniger sortierte Gedanken zum Thema – als Quasi-Software. Die Dias waren aus den Jahren 1955 bis 1985 und stammten von Westberliner Trödlern. Sie waren dort mitsamt dem Hab und Gut ihres letzten Besitzers gelandet, nachdem dieser ohne Erben  gestorben war. Zumeist handelte es sich um Urlaubsphotos: markante Gebäude, Denkmäler, Panoramen etc., aber diese standen gleichsam im Hintergrund, während eine Frau, meistens die Ehefrau des Photographen, im Mittel- oder sogar Vordergrund posierte – am Liebsten,  indem sie sich dabei mehr oder weniger lässig an irgendein Geländer lehnte. Das war neben „Frauen am Auto“ das häufigste Motiv in meiner Sammlung, die aus etwa 30 Nachlässen bestand, wobei ein Dia-Nachlaß im Durchschnitt 6000 Motive umfaßte, die das Ehepaar in seinem  Leben aufgenommen hatte. Mein lichtbildgestützter Vortrag darüber war nur ein Witz – und wurde von den in Amsterdam versammelten Computerfreaks auch so aufgenommen.

Im Monat darauf, am 11. Juli 1991, besuchte ich im Auftrag einer Zeitung einen weiteren Kongress. „Gefährlich leben“ – lautete sein Titel. Er war vom Merve-Verlag auf dem mit Observatorien bebauten „Telegrafenberg“ in Potsdam organisiert worden.  In meiner Würdigung des dreitägigen Events verwendete ich dann u.a. den Satz: „‚Was nicht geklappt hat, das waren die Gespräche‘, meinte der Philosoph und Mitorganisator Hannes Böhringer hernach. Mag sein, mir schien das partielle Scheitern eher daran zu liegen, daß man zunehmend das Avantgardistische in der Kunst mit der fortgeschrittensten Informationstechnologie und ihrem Jargon identifiziert. Ein Riesenirrtum. Jeder zauselige Schmetterlingssammler mit Botanisiertrommel hat mehr zu erzählen als diese blitzschnelle Wetware, die ‚burned-out‘ ist, bevor sie irgend etwas angeknipst hat. Und dann bedeutet natürlich das Ausrichten auf die Wortströme einer Weltmacht alles andere als ‚Gefährlich leben‘.“

Mir muß da schon wieder  nicht mehr ganz klar gewesen sein, wer oder was die Wetware eigentlich ist. Und sei es nur, weil uns auf dem „Telegrafenberg“ insbesondere der Vortrag des DDR-Astrophysikers Hans-Jürgen Treder, Leiter des Babelsberger „Einstein- Labors“, beeindruckt hatte. Er sprach über   „Wahrheit und Klarheit als komplementäre Gegensätze“.

Diese scheinbare Hardware eines schwedischen Bauern ist eine reale Software, denn der Poller besteht aus Styropor.


Nach diesem  Kongreß hörte ich nie wieder etwas von diesem Wort „Wetware“ – bis es knapp 20 Jahre später dem Biochemiker Craig Venter gelang, auf synthetischem Wege eine bakterielle Zelle – Leben! – synthetisch herzustellen. Damit war die „Wetware“ aber plötzlich nicht mehr nur das „central nervous system“ (CNS) bzw. der Mensch (als Programmierer), der für eine bestimmte Hardware eine Software entwickelt, sondern auch das programmierte Lebendige (Bakterium z.B.). Diese Konstruktion selbst war nun die Wetware. Der Duden hat es bereits erfaßt: Bei der Wetware, so heißt es in dem entsprechenden Artikel 2010, handelt es sich um eine „Zusammenziehung“ aus wet = feucht  und Soft-ware, „die organische Materie mit konventioneller Hardware verbindet“. Diese  Wanderung der Bedeutung des Wortes vom Menschen/Programmierer zu etwas von ihm programmierten Lebendigen nennt „Die Welt“ einen „allmählichen Übergang“ – von der „aktuellen Wetware-Menschheit zu den Infomorphs“.

Ein weiteres neudeutsches Wort. Dazu erklärt Wikipedia – original auf Amerikanisch: „The term Infomorph refers to a consciousness uploaded or downloaded into a computer (mind transfer) from a biological entity. A concept primarily used in science fiction, it has appeared in various guises.“

Die Öko-Variante: Woodware

Die vorerst letzte „Erscheinung“ (guise) findet sich in dem Science Fiction-Roman  „Wetware“ von Rudy Rucker. Der Mathematiker aus Kentucky hat damit seine „Ware-Trilogie“ abgeschlossen. Eine „Amazon“-Rezensentin namens „schokolinda“ schreibt:  „die geschichte von ‚wetware‘ spielt im jahr 2032 – computer haben sich zu einer eigenen lebensform entwickelt und nach ihrer erfolglosen revolution gegen die menschheit auf dem mond verschanzt. dort gelingt es ihnen, eine echte kreuzung aus mensch und computer zu schaffen und auf die erde zu schmuggeln.“

In der Science Fiction Wortentwicklung  ist man also  weiter als „Der Duden“ und „Die Welt“. Während man hier in den Labors der „synthetischen Biologie“ noch Lebendiges programmiert, das man dann „Wetware“ nennt, kreieren dort oben „auf dem mond“ bereits Bio-Computer „echte“ Wetware (perfekte Als-ob-Menschen). Craig Venters Bakterium, dessen „Erbgut vollständig am Computer entworfen und dann im Labor von Maschinen aus vier chemischen Grundbausteinen zusammengesetzt wurde“, wie die Süddeutsche Zeitung erklärt, wäre demnach bloß eine „unechte“ (Pseudo-)Wetware. Dafür spräche, dass die SZ Venters „neue Lebensform“ als einen „Meilenstein“ in dieser noch jungen „Ingenieurskunst“ bezeichnet. Aber immerhin: „Soweit man derzeit weiß, leistet diese Mikrobe nichts Besonderes. Sie vermehrt sich munter, stellt hohe Ansprüche an die Nährflüssigkeit, in der sie wächst, und ist ansonsten nicht weiter auffällig.“ Die „Ingenieurskunst“ hat  demnach doch wirkliches Leben geschaffen. Die öffentliche Diskussion darüber hält noch an. „Venter – ein neuer Frankenstein?“ fragte sich die Financial Times. Es scheint, dass seine Mikrobe sich in einer Art „Unschärfe“ bewegt – und vermehrt bzw. (sich) einen solchen Bedeutungsraum schafft.

Den selben, mindestens einen ähnlichen machten auch schon die italienischen Renaissancekünstler geltend, indem sie ihre Gegenstände so täuschend echt darstellten, dass z.B. Vögel versuchten, sich auf einem von Giotto gemalten Baum nieder zu lassen.  Den brasilianischen Philosophen Vilém Flusser brachten diese Künstler-„Legenden“ bereits 1986 auf die Idee, dass die „wahre Kunst“ erst jetzt beginnt – – mit der Gentechnik, denn erst mit ihr „sind selbstreproduktionsfähige Werke möglich.“

Die Engländer waren die ersten, die ihre Wetware (Spaliersoldaten) durch Hardware (Poller) ersetzten, aber dabei blieb es dann auch, wie man noch heute sehen kann.


Venters Wetware-Konstruktion bestand laut Financial Times darin, dass „sein Team aus DNS-Schnipseln das Erbgut für ein völlig neues Bakterium im Labor zusammenbastelte und in eine Zellhülle schleuste. Die Zelle erwachte daraufhin zum Leben und begann, sich zu teilen.“ Dieses Ergebnis hätte seine „wissenschaftliche und philosophische Sicht auf das Leben und wie es funktioniert grundlegend verändert“, verriet er der Zeitung. Er sagte ihr jedoch nicht, wie seine Sicht vorher war und wie sie jetzt ist. Stattdessen erzählte er, dass der US-Ölkonzern Exxon Mobil ihm 600 Mio Dollar zahle, wenn es ihm gelingt, ein Bakterium zu schaffen, das nicht nur einfach vor sich hinlebt, sondern auch nützlich ist, und wie! Es muß nämlich in der Lage sein, Wasser oder was auch immer in Benzin zu verwandeln. Einen uralten Traum wahr machen.

Die Amis haben sich dagegen für eine andere Variante entschieden: Sie haben ihre Wetware (Cops) peu à peu in Hardware verwandelt. Hier hat man vier dieser Cyborgs neben ihrem bisher noch unerreichten Vorbild platziert: eine Panzersperre.


Annähernd das Gegenteil haben die Stadt- und Verkehrsplaner hier versucht, indem sie ihrer Hardware durch Ründung einen scheinbar soften Charakter verpaßten.


Man spricht unterdes bereits von Wetwares – die alles Mögliche können sollen. Ganze Internet-Foren verstehen darunter Experimente „in postvital living“, d.h. solche, die Unsterblichkeit versprechen. Der Dozent für „Science Studies“ an der Universität von Minnesota, Richard Doyle, veröffentlichte darüber bereits ein Buch mit dem Titel „Wetwares“. Sein Universitätsverlag schreibt: „‚Life‘ becomes more a matter of information than of inner vitality – in short, becomes ‚wetwares‘ for DNA and computer networks. Viewing technologies of immortality – from cryonics to artificial life – as disciplines for welcoming a thoroughly other future, a future of neither capital, god, human, nor organism, the book offers tools for an evolutionary, transhuman mutation in the utterly unpredictable decades to come.“

Das Leben schlechthin wird zu „Wetwares“ (zu pluralisierter Naßware) – durch die Fortschritte in der Biologie, Genetik und Medizin. Und dabei winkt uns am Ende die Unsterblichkeit. Auch dafür gibt es – sogar wirklich revolutionäre – Vordenker:  In der sowjetischen Regierungszeitung Iswestija erklärten diese „Science Anarchists“ 1922 in einem  Manifest: „Wir stellen fest, dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört.“

Weniger auf die Unsterblichkeit als auf die vielen sich anbahnenden neuen Verbindungen zwischen Bio- und Technologie (von der Organtransplantation über die Prothetik und das Klonen bis zum Bio-Chip) hob 1985 das „Cyborg-Manifesto“ der feministischen US-Biologin Donna Haraway ab: „Die Maschine ist kein Es, das belebt, beseelt oder beherrscht werden müsste. Die Maschine sind wir,“ versicherte sie. D.h. die „Cyborgisierung“, die neuen Technologien, ersetzen den Körper nicht und machen ihn nicht zur obsoleten Wetware, wie das von Technodeterministen euphorisch vertreten wird. „Aber sie beeinflussen unseren Körper und dessen Wahrnehmung massiv: Neue Visualisierungstechnologien (be)schreiben den Körper neu, neue Apparaturen wecken nie dagewesene Krankheiten und Lüste. Angst lösen nicht mehr Riesenmaschinen aus, sondern unsichtbare Technopartikel und Computerviren, die alles zu invadieren und umzucodieren drohen. Kam das, was als authentisch und real zu gelten hatte, bereits durch Radio- und Fernsehen auf den Prüfstand, so bringen Simulationstechniken der Computer- und Internetgeneration das Verhältnis von Realität und Fiktion vollends durcheinander.“ (Aus einer Einladung zu einem Schweizer „Cyborg“-Workshop mit dem Titel „Body as Byte LIFE“.) Im Grunde wollte Donna Haraway die Wetware – Uns – mit ihrem Manifest nur beruhigen, indem sie darin „einen ironischen, politischen Mythos entwickelt“, der, mit ihren Worten,  „Feminismus, Sozialismus und Materialismus die Treue hält.“ Dennoch weist sie darin bereits auf eine wesentliche Veränderung hin: All diese Bio-Techno-Experimente und -Entwicklungen haben längst das Labor verlassen. Sie finden im Freiland statt – mit und an uns. Das macht uns alle zu Mitforschern, ob wir wollen oder nicht. Wobei Donna Haraway darauf besteht, dass das auch für die nicht-menschlichen Lebewesen zu gelten habe, die bzw. deren Sprecher damit auch Mitentscheider werden müssen – bei der Bestimmung dessen, was wahr sein soll.

Wenn die Stadt- und Verkehrsplaner Wetware ganz soft in Hardware investieren/integrieren wollen, dann kommt so ein Quatsch dabei raus: Harte Poller, die weiches Wasser versprühen.


P.S.: Kürzlich veröffentlichte das renommierte Wissenschaftsmagazin „Science“ eine Studie, in der Biologen nachwiesen, dass ein Großteil des im Golf von Mexiko ausgeflossenen Öls bereits von Bakterien „verwertet“ worden sei: Viel mehr und weitaus schneller als man erwartet hatte. Wenig später kam jedoch heraus, dass diese Studie von BP in Auftrag gegeben wurde. Aber auch anderswo setzt man seine Hoffnungen zunehmend auf Bakterien, die alle  möglichen Folgeschäden des industriellen Fortschritts beseitigen und einem ganz neuen – biologischen – Fortschrittsbegriff zum Durchbruch verhelfen sollen. Seit ihrer „Entdeckung“ galten sie vor allem als große Gefährder der Zivilisation und unseres biologischen Lebens – als Feinde, denen man jedoch mit allerlei  Hygienemaßnahmen beikommen konnte. Noch immer wirbt z.B. eine US-Staubsaugerfirma mit dem Versprechen: „Beseitigt die Mikroben auch in schwierigsten Ecken!“ Aber gleichzeitig rät die US-Biologin Lynn Margulis in ihrem Buch „Garden of Microbiological Delight“, sich zu Hause mit der Zucht von Mikroorganismen ein neues Hobby zuzulegen. Und das nicht, um sie genetisch zu manipulieren, sondern um sich an ihnen zu erfreuen,  ohne sie gibt es kein Leben auf der Erde.

Das Original: Reale Wetware (Möven) auf echter Hardware (Poller). Alle Photos: Peter Grosse


ANHANG:

Was passiert, wenn man die alte analoge Wetware (Polizisten) durch Hardware (Poller) ersetzt, damit erstere „intelligentere Aufgaben“ wahrnehmen können, zeigt diese „Erklärung“ der Berliner linken Buch- und Infoläden:


Was bisher geschah

Am 13. Juli 2010 erschienen Beamte des Landeskriminalamts Berlin in den Buchläden oh21 und Schwarze Risse, sowie im Infoladen M99. Sie durchsuchten die Räume nach den zuletzt erschienen zwei Ausgaben der Szenezeitschrift Interim (Nr. 713 + 714) und beschlagnahmten die gefundenen Exemplare und die Computer. Einige der eingezogenen Arbeitsgeräte konnten erst nach drei Tagen beim LKA („Abteilung Linksextremismus“) wieder abgeholt werden.

Es war nicht das erste Mal – und nicht das letzten Mal, am 19. September fanden 2010 wiederholt Durchsuchungen in den drei Buch- bzw- Infoläden statt – dass sich Justiz und Polizei Zutritt zu linken Läden und Einrichtungen verschafften und diese nach den Zeitschriften Interim, Prisma, Radikal, nach Plakaten, Flugblättern und elektronischen Daten durchsuchten. Innerhalb des letzten Jahres wurden die Läden von Schwarze Risse fünfmal, der Infoladen M99 viermal und der Buchladen oh21 und der Antifa-Laden Fusion/Red Stuff zweimal durchsucht. Weiterhin kam es im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen der Zeitschrift Prisma zu einer Hausdurchsuchung beim Domaininhaber der Internetseite projektwerkstatt.de und in Folge der staatlichen Repression zur vorübergehenden Abschaltung der Internetseite durch den Provider JPBerlin.1 Desweiteren wurden im Zusammenhang mit der Suche nach Verantwortlichen für die antimilitaristische Webseite bamm.de eine Privatwohnung in Berlin sowie die Serverräume des Berliner Internet-Providers so36.net durchsucht.2 In München wurde im Juli 2010 das Kafe Marat durchsucht, um Exemplare der Interim und Radikal zu beschlagnahmen. Bei den meisten Razzien ging es um inkriminierte Zeitschriften. Begründet wurden sie jedes Mal mit dem § 130a StGB „Anleiten zu Straftaten“ in Verbindung mit § 40 WaffenG (Verbotene Waffen inklusive des Verbots, solche herzustellen oder zur ihrer Herstellung aufzufordern).3

Buchhandlungen verstoßen gegen das Waffengesetz?

Neu an den jüngsten Durchsuchungsbeschlüssen vom 13. Juli ist, dass die Geschäftsführer der jeweiligen Buch- bzw. Infoläden als Beschuldigte aufgeführt werden. Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Beschuldigten hätten die Ausgaben der Interim selbst ausgelegt und seien über den Inhalt informiert gewesen. Die Vorwürfe „Aufforderung zu Straftaten“ und „Verstoß gegen das Waffengesetz“ werden nun nicht nur gegen die Redaktion der Zeitschriften, sondern gegen die Buchhändler erhoben! Buchhändlerinnen und andere Ladenbetreiberinnen sollen verantwortlich gemacht werden für den Inhalt der von ihnen vertriebenen Schriftstücke.

Die Staatsanwaltschaft bekräftigte auf Nachfrage eines Anwalts, dass es ihr Ernst ist mit diesem Vorstoß: Sie strebt ein Gerichtsverfahren an, das die bisherige Rechtsprechung revidieren soll. Diese geht bisher davon aus, dass Buchhändler zu wenig Kontrollmöglichkeiten haben, um die Rechtmäßigkeit der Inhalte der von ihnen angebotenen Bücher und Zeitschriften zu beurteilen; daher könne ihnen keine „Tatherrschaft“ zugesprochen werden.

Wir haben es also mit einer politischen Initiative der Staatsanwaltschaft zu tun, die, so sie Erfolg haben sollte, die Möglichkeiten zur staatlichen Verfolgung von politischen Gedanken und Einstellungen ausweiten wird. So, wie der §130a keine konkrete Tat unter Strafe stellt, sondern die „Anleitung“ zu einer solchen schon zur Straftat macht, wird nun versucht, vom bloßen Vorhandensein bestimmter Schriftstücke auf deren inhaltliche Befürwortung durch die Ladenbetreiber zu schließen und diese zu kriminalisieren.

Angeblich – siehe Artikel 5 Grundgesetz – findet eine Zensur nicht statt, dafür aber aktive Verunsicherung und Einschüchterung, wenn HändlerInnen und LeserInnen nicht wissen können, ob das radikale Blatt, das sie in Händen halten nicht morgen schon kriminalisiert werden wird, und sie gleich mit1.

Oliver Tolmein schrieb 1987 anlässlich der Wiedereinführung des §130a: „Erschwert werden soll dadurch die Selbstverständigung der außerparlamentarischen Opposition. Ein öffentlicher Meinungsaustausch über Aktionen soll weitgehend verhindert und zugleich der Anschein, es werde Zensur geübt, umgangen werden. So verordnet man Selbstzensur.“

Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm eine Ende setzt.“

Karl Kraus

Es geht der Staatsanwaltschaft aber nicht nur um eine gerichtliche Verurteilung. Ob sie mit ihrem Schuldkonstrukt vor Gericht Erfolg haben wird, ist auch ungewiß.

Wie im Fall des §129a – „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ – haben wir es beim §130a mit einem sogenannten Ermittlungsparagraphen zu tun, dessen Zweck nicht zuletzt darin besteht die Szene zu durchleuchten, indem er u.a. die Staatsanwaltschaft dazu ermächtigt, Läden, Computer und Wohnungen durchsuchen zu lassen.

Schon hier ist das Ziel die Abschreckung. Allein die Drohung, radikale Teile der linken Opposition zu kriminalisieren, soll das Umfeld entsolidarisieren und Spaltungsprozesse fördern. Es war nie das Ziel der Durchsuchungen und Beschlagnahmungen, bestimmte Zeitschriftenausgaben möglichst vollständig aus dem Verkehr zu ziehen. Denn an vielen Orten, an denen die inkriminierten Publikationen vermutet werden könnten, ist die Polizei offiziell nicht aufgetaucht. Linke Buchläden aber sind Schnittstellen zwischen der breiten Öffentlichkeit und linken Strömungen und Subkulturen. Dadurch provozieren sie die staatlichen Repressionsorgane. Sie werden angegriffen, um Berührungsängste zu verbreiten.

Für die Buchhandlungen bedeuten Durchsuchungen, beschlagnahmte Computer und gerichtliche Auseinandersetzungen zudem Extrakosten und Extraarbeit. Wir gehen davon aus, dass dieser ökonomische Druck die Bereitschaft der Buchhandlungen fördern soll, als vorgelagerte Zensurbehörde für Szeneveröffentlichungen zu agieren.

Die einschüchternde Wirkung der Durchsuchungen mag sogar um so stärker sein, je dürftiger ihre Anlässe sind – und je häufiger sie achselzuckend und ohne öffentliche Reaktionen hingenommen werden.

„Man darf im sehr späten Kapitalismus fast alles sagen oder denken, aber nichts tun.“ Dietmar Dath

Die politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung linker Gruppen und Publikationen als Gewalttäter bzw. -blätter fällt auf den extremismustheoretisch genährten Boden. Als „extremistische Gefahr“ werden Linke mit Rechten gleichgestellt und auf ein polizeiliches Problem für „die Mitte“ der Gesellschaft reduziert.

In diesen Kontext passt auch die vom Tagesspiegel-Journalisten Hasselmann verfaßte Meldung zu den Durchsuchungen am 13. Juli 2010: „Nachdem Interim die Anleitung für den Bau einer Bombe gebracht hatte, durchsuchten Beamte die Redaktion. Auch gegen einen rechtsextremen Online-Versand in Marzahn ging die Polizei vor.“

In den beschlagnahmten Zeitschriften wurden u.a. Anleitungen zum Bau eines Molotow-Cocktails, eines Brandsatzes und eine Erklärung zu einem Anschlag auf einen Geldautomaten veröffentlicht. Vorgeblich sind es solche Anleitungen zu Gewalttaten, die Polizei und Justiz auf den Plan rufen.

Aber Bauanleitungen für Molotowcocktails und Brandsätze sind in Zeiten des Internets nicht unter Verschluss zu halten, indem ein paar Zeitungen einkassiert werden.

Die Dingfestmachung der gedruckten Exemplare soll vielmehr der Selbstdarstellung der Polizei als Kämpfer gegen „linke Gewalt“ Glaubwürdigkeit und Dramatik verleihen. Die Fokussierung auf „Gewalt“ ist seit jeher das Mittel, um linksradikale Kritik und Praxis als Verbrechen zu diffamieren.

„Gewalt“ wird vom Staat äußerst selektiv verfolgt. Kein Staatsanwalt schreitet ein, wenn die bürgerlichen Medien oder ein bürgerlicher Funktionär wie Thilo Sarrazin die Gesellschaft zur Gewalttätigkeit anleiten, indem sie Chauvinismus, Rassismus und sozialen Hass schüren.

Was ist ein Bekennerschreiben zu einem Anschlag auf einen Bankautomaten gegenüber einem System, das in immer mehr Bereichen, der Arbeit, der Schule, den Behörden und den Medien die Angst regieren lässt, mit Zwang den Status Quo im Inneren aufrecht erhält, mit Krieg Außenpolitik macht und sich auf Kosten von Menschenleben das wachsende Elend der Welt vom Leib hält?

Ob eine Äußerung als „Anleitung zu Straftaten“ oder „Volksverhetzung“ verstanden und verfolgt wird, hängt immer weniger von ihrem Inhalt ab, und immer mehr von dem Kontext, in dem diese Aussage getroffen wird. Die heutige Gesellschaft hat für umstürzlerische Reden und Schriften etwas übrig, solange sich der Radikalismus auf die kulturellen Spielwiesen der Feuilletons, der Theater- und Kongresssäle beschränkt. Radikale Kritik an den Verhältnissen wird dort zugelassen, wo niemand Ernst damit macht, diese Verhältnisse abzuschaffen.

An Orten aber, an denen aus Worten und Stimmen eine organisierte Kraft werden könnte, ist die Repression zur Stelle.

Linke Buchläden vertreiben Bücher, Broschüren und Flugblätter, die die politischen Verhältnisse analysieren, kritisieren und Handlungsoptionen diskutieren – aus unterschiedlichen Perspektiven, aber mit dem Ziel einer radikalen Veränderung der Gesellschaftsordnung.

Dafür sollen sie kriminalisiert werden. Von diesem Kriminalisierungsversuch müssen sich alle betroffen fühlen, „die nicht einverstanden sind, und es auch noch wagen wollten, ihr Mißfallen öffentlich kundzutun.“ (O. Tolmein)

Wir lassen uns nicht einschüchtern und wir werden uns nicht selbst zensieren!

Verteidigen wir unabhängige und unkontrollierte Medien!

Für eine militant demokratische linke Öffentlichkeit!


M99, oh21, Schwarze Risse, September 2010

Anmerkungen:

1 Auf der Seite war eine PDF-Datei mit Ausschnitten der Zeitschrift eingestellt.

2 Auf der Seite bamm.de, die bei SO36.NET gehostet ist, war ein Flyer eingestellt, der zum „Schampussaufen“ beim Tod von Bundeswehrsoldaten aufrief.

3 Im Fall der antimilitaristischen Internetseite sowie einem antimilitaristischen Flyer wurden die Maßnahmen mit „Volksverhetzung“ begründet und eine Durchsuchung im Antifa-Laden Red Stuff wg. des Blockadeaufrufs gegen den Naziaufmarsch in Dresden mit „Aufruf zu Straftaten“.

4 Es gibt noch andere Methoden der Zensur, wenn z.B. linke Publikationen – wie aktuell wieder das Gefangenen Info – mit Anzeigen wegen Verleumdung und ähnlichem überzogen werden und sie zu Geldstrafen verurteilt werden, die ihre Existenz gefährden.


Kreuzberger Wetware (Polizei) legt während eines „Einsatzes“ einer aktivistischen Software (Plüschtier) Hardware (Handschellen) an. Photo: indymedia.org



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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2010/09/20/nassware_-_gesternheutemorgen/

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kommentare

  • Wie lange wird es dauern, bis Ihre selbstgebastelten Lebewesen unser
    Benzin herstellen?

    Nicht nur Benzin. Plastik, Asphalt, Heizöl: Alles, was heute aus Erdöl
    gemacht wird, wird irgendwann von Bakterien oder anderen Zellen
    hergestellt werden. Ob in 5, 10 der 20 Jahren, das ist noch nicht klar.
    Warum haben wir denn bisher außer Alkohol keinen Brennstoff aus Mikroben?
    Weil die Evolution nichts hervorgebracht hat, was in großem Stil Biosprit
    aus CO2 produziert. Deshalb müssen wir es eben bauen.

    Aus einem Interview mit Craig Venter, Spiegel 26/2010.

  • Zum Begriff der „nicht-menschlichen Wesen“ , die Bruno Latour zufolge mit in unsere Verhandlungen einbezogen werden müssen, erzählte dieser folgendes Beispiel:

    Nehmen Sie den roten Thunfisch, ein nicht-menschliches Wesen. Wenn die Nachfrage der Japaner nach rotem Thunfisch nicht massiv zurückgeht, wird es bald keinen roten Thunfisch mehr geben. Es gibt ganze Organisationen, die sich mit dem roten Thunfisch auseinandersetzen, das heißt, sie interessieren sich dezidiert für das Interesse des roten Thunfischs. Folglich ist es eine Selbstverständlichkeit zu sagen: Man nimmt die Interessen der Japaner für ihr Sushi und die Interessen des roten Thunfischs für ihr eigenes Überleben, setzt sie in Relation und handelt die Interessen jeweils aus. Das Gegenargument übrigens lautet dann oft: Ich interessiere mich lediglich aus egoistischen, anthropozentrischen Gründen für den roten Thunfisch, was natürlich Quatsch ist. Ich kann sehr gut in einer Welt ohne roten Thunfisch leben. Weiterhin gibt es die Umweltschützer und Statistiker, die das drohende Aussterben des roten Thunfisches beschwören. Auch das Interesse der Sushi-Produzenten und der Fischer hängt vom Thunfisch ab. Eine ganze Reihe von Akteuren ist offensichtlich mit dem roten Thunfisch vernetzt, und das Interesse des letzteren ist dabei genauso legitim wie das der Menschen, die ja wiederum differenziert werden müssen in Japaner, Mittelmeeranrainer, große und kleine Fischereibetriebe etc.

    Also konstruiert man ein Parlament der Dinge, einen Ort, an dem die Repräsentanten der jeweiligen Dinge, der nicht-menschlichen Wesen, die Interessen mit denen der menschlichen Akteure aushandeln. Und wenn Sie darauf erwidern, dass der Thunfisch in der Diskussion gar nicht auftaucht, sein Interesse also gar keine Rolle spielt, dann stimmt das nicht. Er ist in verschiedener Gestalt anwesend, in Statistiken, in den Diskursen der Fischer etc. Das Parlament der Dinge ist zuallererst ein theoretisches Konzept, um sich diese Dinge klar zu machen…

  • Wer mehr über das Innenleben der Wetware Polizei erfahren will, dem sei die Autobiographie des pensionierten KOB Kurt Borowski empfohlen:

    Der „Westberliner Polizist“ Kurt Borowski, dessen Vater bei der AEG arbeitete, ist Weddinger. Während der kurzhaarigen HJ-Periode gehörte er einer „Langhaarigen-Clique“ vor den Pharus-Sälen an. Mehrmals musste er in seinem Berufsleben auf eine neue Verfassung schwören, so dass er am Ende reif für die Schauspielerei war. Seine Frührentnerkarriere führte ihn u. a. in viele Talkshows, wo er „gegen Bezahlung“ Publikumsmeinungen artikulierte.

    Davor war er eine Zeit lang Begleitschutz für Willy Brandt. Jedes Mal, wenn dieser zu viel trank, ging er zu ihm hin und sagte „Ihr Wagen ist vorgefahren!“ Das war für den Regierenden Bürgermeister von Westberlin das Signal, sich zu verabschieden. Ansonsten interessierte sich der Polizeioberkommissar, der seine Kollegen gerne damit schockte, dass er die taz las, für schnelle Motorboote.

    Besonders ausführlich befasst Kurt Borowski sich mit seiner Kriegsgefangenenschaft, die er praktischerweise in Frankreich, wo er zuvor gekämpft hatte, ableisten musste. Insgesamt resultierte daraus dann jedoch eine große „Liebe zu Frankreich“, obwohl seiner Meinung nach „zu viel Gewese um die viel gerühmte französische Küche“ gemacht wird. In Abendkursen machte er die mittlere Reife nach und wurde befördert: „Neider nannten mich ,Karriere-Kutte‘, dabei bin ich nie ein Kriecher und Ja-Sager gewesen, und so hoch war der Aufstieg schließlich auch nicht“. Auf den Photos aus dieser Es-geht-wieder-aufwärts-Zeit hat er jedoch etwas Feistes, besonders neben seiner schönen Frau.

    1977 ließ er sich in Ostjerusalem mit einem Palästinensertuch knipsen. Diese Reise war „einer der interessantesten meines Lebens von zirka siebzig bis achtzig Reisen in insgesamt dreißig Länder“. Während der Bau der Mauer dienstmäßig „keine Änderungen mit sich brachte“, kam mit der Polizeireform 1974 der „Kontaktbereichsbeamte“ (KOB) auf, „in der DDR hieß ein ähnlicher Posten ,Abschnittsbevollmächtigter'“.

    Zu Borowskis Revier gehörte damals der Flughafen Tegel und damit der Kontakt zu den dort stationierten französischen Gendarmen, mit denen er gerne französisch parlierte. Aber der Autor wollte nicht lebenslänglich im mittleren Dienst – und dazu musste er erst einmal in die Weiterbildung. Anschließend wurde er in Reinickendorf eingesetzt, aber dort war es langweilig: Zwar trug ihm die „Bevölkerung“ allerlei Klatsch zu, aber „bei diesem Getratsche war kaum etwas polizeilich Verwertbares dabei“.

    Dafür wurden alle Reinickendorfer KOBs von der dortigen SPD zum Essen eingeladen, Borowski wird Parteimitglied, bezeichnet seine Ortsgruppe jedoch als „Rentnerclub“. Mit den CDU-Rechten – „Lummer und Landowsky“ – wollte er erst recht nichts zu tun haben. 1986 lässt er sich pensionieren: „Ich denke, ich war ein freundlicher Polizist.“ Mit 60 nimmt er eine Stellung als Hausdetektiv im Hilton-Hotel an. Anschließend stürzt er sich als Statist in das Filmgeschäft. Schon als er 1943 für den Fotografen im vornehmen Anzug auf dem Leopoldplatz posierte, merkte man, dass der Weddinger Harald Juhnke einmal sein Vorbild sein würde. HELMUT HÖGE

    Kurt Borowski: „Linienführung, Lebensweg eines pensionierten Westberliner Polizisten“. Zwei Zwerge Verlag, Berlin 1999, Bestellung unter http://www.zwei-zwerge-verlag.com

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