Die brasilianische Regierung liebäugelt derzeit mit einer Lockerung des Waldschutzes. So soll Regenwald zur legalen Rodung freigegeben werden und Unternehmen, die illegal Wald gerodet haben, von einer Amnestie profitieren.
Kommt das neue Gesetz durch, sind 76,5 Millionen Hektar Regenwald bedroht – das ist eine Fläche so gross wie Deutschland, Österreich und Italien zusammen, wie der WWF erklärt.
Die Folgen wären laut WWF für das ganze Weltklima fatal: 28 Milliarden Tonnen CO2 würden freigesetzt – so viel wie Deutschland in drei Jahrzehnten ausstösst – und das Weltklima zusätzlich aufheizen. Das Gesetz würde zudem zu einer beispiellosen Zerstörung der biologischen Vielfalt Brasiliens führen.
Der WWF startete deshalb am Montag eine globale Aktion zum Schutz des Regenwalds: Innerhalb eines Tages schickten laut WWF bereits mehr als 8000 Personen ein Protestmail an Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff. (Eine Meldung des Schweizer „Blick“ – mit der kuriosen Überschrift „Regenwald im Amazonas kann aufatmen. Die Zerstörung des Regenwaldes im Amazonasgebiet ist nach Angaben der brasilianischen Regierung deutlich zurückgegangen“)
Wer gründlicher über die Situation in Amazonien informiert werden will, sollte die Zeitschrift „Bumerang – ‚Naturvölker‘ heute“ lesen, die in Kooperation mit dem Verein „Indianerhilfe und Tropenwaldschutz e.V.“ von Hannelore Gilsenbach in Brodowin herausgegeben wird. Weitere Organisationen sind:
Survival International/England: Link
Survival International/Deutschland: Link
Gesellschaft für bedrohte Völker/Deutschland: Link
Gesellschaft für bedrohte Völker/Schweiz: Link
Gesellschaft für bedrohte Völker/Österreich: Link
Bruno-Manser-Fonds/Schweiz: Link
Arbeitsgemeinschaft Regenwald und Artenschutz e. V.: Link
Indianerhilfe und Tropenwaldschutz Dr. Binder e. V.: Link
Waldportal: Link
Tropenwaldnetzwerk Brasilien: Link
Amazonas.de: Link
Rettet den Regenwald: Link
Pro Regenwald: Link
RobinWood: Link
Klimabündnis/Alianza del Clima: Link
Incomindios/AG Genf/UNO: Link
Institut für Ökologie und Aktions-Ethnologie: Link
West Papua Netzwerk: Link
BrasilienPortal/Schweiz: Link
Zu Hannelore Gilsenbach, Brodowin und die Halbjahreszeitschrift „Bumerang“ sei noch hinzugefügt:
Vor einiger Zeit machte ich mich auf den Weg nach Brodowin, dort in der Nähe zeigte der „Choriner Landsalon e.V.“ im Ökozentrum „Bahnhof Chorin-Kloster“ das Dokudrama „Die Zeit der Unvernunft“. Der sehr computerverspielt daherkommende englische Film handelt von der „Klimaerwärmung“. Zuvor war er bereits im Rahmen der „Ökofilmtour2010“ in 69 brandenburgischen Orten gezeigt worden. Obwohl er laut der Lokalpresse „schockierte und nachdenklich machte“, hatte er keinen der sechs Preise dieses aufklärerischen Filmfestivals bekommen. Sie gingen z.T. an TV-Dokumentationen, die das Bienensterben, die Landschaftsvernichtung von oben, die ökologische Landwirtschaft von unten, die „Wildnis“ für Kinder, die „Klugheit“ von Pflanzen und die „Verlogenheit“ der Atomindustrie thematisierten.
Die nochmalige Aufführung des Films „Die Zeit der Unvernunft“ im 2006 privatisierten und für Kultur ausgebauten Bahnhofs von Chorin, inmitten des Biosphärenreservats Schorfheide, war diesmal mit einem Auftritt des Biologen Michael Succow verbunden, der überall in Osteuropa die Einrichtung von Nationalparks initiiert. Über den (ostdeutschen) „Naturschutzpionier“ und Träger des alternativen Nobelpreises lief auf dem „Ökofilmtour-Festival“ bereits ein eigener Film. Der Abend im Choriner Bahnhof begann mit den die Umweltzerstörung thematisierenden Liedern von Hannelore Gilsenbach. Die Biologin tourte damit bereits in den Achtzigerjahren durch die Kirchen und Umweltbibliotheken der DDR – zusammen mit ihrem Mann Reimar Gilsenbach.
Der Natur- und Menschenrechtler half in der Wende mit, seinen Wohnort Brodowin in ein „Ökodorf“ umzuwandeln. Heute kann man dort im LPG-Laden sogar die ökologisch getesteten Upperclass-Kosmetika von Dr. Hauschka kaufen. Der einst in Anarchistenkreisen groß gewordene Raimar Gilselbach starb 2001 im Alter von 76 Jahren. Die Grüne Liga – Mitorganisatorin des Brandenburger Ökofilmfestivals – benannte wenig später einen Teil ihres „Haus der Natur“ in Potsdam nach ihm. Seine Witwe, Hannelore Gilsenbach, die nach wie vor in Brodowin lebt, aber auch immer wieder an den Amazonas reist, gibt seit einigen Jahren die Zeitschrift für gefährdete Völker, „Bumerang“ – des Naturvölker-Bundes – heraus, u.a. wird darin genau vermeldet, wann sich welche vom Verschwinden bedrohte Kleinstethnie allen Globalisierungstendenzen zum Trotz dennoch vergrößert hat.
So heißt es z.B. in der Ausgabe 1/2009: „Die ‚Negrito‘-Ureinwohner der Andamanen vom Volk der Onge freuen sich über die Geburt eines Mädchens. Es kam am 9.Juli 2008 in Dugong Creek gesund auf die Welt. Damit stieg die Zahl der Onge auf 98 Menschen.“
Darüberhinaus veranstaltete Hannelore Gilsenbach auf ihrem Hof jahrelang die einst von Reimar Gilsenbach initiierten „Brodowiner Gespräche“, wo die unterschiedlichsten Themen diskutiert wurden. So lud sie z.B. die zwei Aktivisten gegen die Abbaggerung des Lausitzdorfes Horno, Werner Domain und Michael Gromm, ein, um über deren (gescheiterten) Widerstand zu diskutieren. Bei der Gelegenheit entdeckte ich zum ersten Mal freilebende Laubfrösche – in der Hecke des Anwesens von Hannelore Gilsenbach, außerdem zeigte die Biologin, die auf Insekten spezialisiert ist, mir im Gras eine mit der Klimaerwärmung zugewanderte italienische Grille.
Die jetzigen „Choriner Debatten“ des „Landsalons e.V.“ im ökologisch umgerüsteten und dazu u.a. mit Elektroautos und Fahrrädern ausgerüsteten Choriner Bahnhofs sind eine Fortsetzung der Brodowiner Hofveranstaltungen von Hannelore Gilsenbach. Die beiden Orte liegen etwa sieben Kilometer auseinander. Wir gingen den Weg hin und zurück – durch den Biosphären-Wald, zwischen Seen hindurch und vorbei an einigen Dorfkneipen, begleitet nur von einigen Blaumeisen und Zitronenfaltern, einem roten Milan und vielen Mücken. Der Himmel war blau. Auf einem Ökohof sahen wir müde bei einem Glas Dickmilch den munteren FÖJlerinnen bei der Arbeit zu. FÖJ ist die Abkürzung für Freiwilliges Ökologisches Jahr und die es ableisten sind meistens Mädchen, sie tun das aus naheliegenden Gründen fast nie in der konventionell industrialisierten und giftsprühenden Landwirtschaft, sondern investieren ihre Kräfte lieber in Projekten, die die Welt verbessern (sollen). Eigentlich wollten wir uns auch noch den berühmten, mit einer russischen Wölfin zusammengesperrten dreibeinigen polnischen Wolf „Piotr“ im Wildgehege Schorfheide ansehen, aber so weit trugen unsere Füße nicht.
In einer Ausgabe der Zeitschrift „Bumerang“ ist von einem Kulturzentrum für die „kleinen Völker“ die Rede – allerdings für die in Nordasien, von wo aus die heutigen „Indianer“ einst über die Behringsee nach Amerika aufbrachen:
Der Semiewenke Michail Grey Wolf Guruev, der in der DDR zur Schule ging und dort als halber Indianer immer wieder gemobbt wurde, weswegen er irgendwann in die USA zu den Navajos ging, bei denen er Kunst studierte, hat am mongolischen Huvsgul-See ein Kulturzentrum gebaut – für die nordasiatischen kleinen Völker: „Ihre Situation hat sich seit dem Ende der Sowjetunion noch mehr verschlechtert – unsere Leute sind fast alle arbeitslos, und es fehlt an Ausbildungsmöglichkeiten“, wie er sagt. Daneben arbeitet Michail Grey Wolf Gurujew nahe der russisch-sibirischen Grenze an einem großen Tierdenkmal: „Das Wichtigste für die indigenen Völker Nordasiens ist ihre Verbindung zur Natur, d. h. zur Flora und Fauna – von und mit denen sie leben. Dies führt zu einem weiteren Punkt: Was kann der Westen von ihnen lernen? Neben ihrem Heilwissen ist es eben dies: ein anderes, unmittelbareres Verhältnis zur Natur – zur Umwelt.“
Tatsache ist, wir sind mehr und mehr über unsere kulturell-industrielle Zurichtung zu Hybriden geworden, die ihr Heil in der letztlich künstlichen Dekonstruktion, d.h. in der absoluten Negation der Natur sehen, indem wir auf ein „Zeitalter der wahren Kunst“ hinarbeiten. Dieses beginnt laut Vilem Flusser „mit der Gentechnik – erst mit ihr sind selbstreproduktive Werke möglich“.
Wenn der russische Mönchpriester und Algenforscher Pawel Florenski recht hat, dann begann dieses Elend mit der Renaissance – und der (künstlerischen) Erfindung der Zentralperspektive, denn sie ist – folgt man Florenski – nichts anderes als „eine Maschine zur Vernichtung der Wirklichkeit“. Ähnliches hat uns seinerzeit auch der marxistische Philosoph Alfred Sohn-Rethel gelehrt, allerdings aus der Perspektive der sich damals in Italien erstmalig auf dem Markt etablierenden Künstler und Wissenschaftler (Mathematiker, Stratiker). Er erzählte deren intellektuell-ökonomische Ich-Setzung derart authentisch, dass man meinte, der sei dabei gewesen – in den oberitalienischen Städten der Renaissance. Auch Albrecht Dürer sah damals – in Nürnberg – diese Entwicklung kommen, nur dass er sie nicht begrüßte: diese schier absolute Trennung der Hand- und Kopfarbeiter. Dürer setzte stattdessen auf das Wir-Werden – indem er sich vom „Großen deutschen Bauernkrieg“ mitreißen ließ. Konkret verfaßte er für seine Handwerks-Lehrlinge zwei Lehrbücher, in denen er das praktische Wissen und die Mathematik zusammenführte. Sie machen sein eigentliches Genie aus – mehr noch als seine Bilder und Stiche.
Aber Dürer scheiterte nach drei Seiten hin: 1. war seinen Lehrlingen der Stoff zu hoch; 2. lobten zwar die italienischen Kollegen von Dürer, Festungsbauer vielfach, seine zwei „Vermessungslehren“ über alle Maßen, mitnichten verrieten sie aber deren Inhalt an die Arbeiter und Handwerker, denn sie wurden fortan für dieses „Wissen“ bezahlt; und 3. gerieten Dürers Lehrbücher über seine „betenden Hände“ und dem „Hasen“ etc. schier in Vergessenheit, ebenso, dass er um ein Haar gehängt wurde – als die adlige Reaktion über die „Bauernhaufen“ siegte und Rache für die Revolution nahm. Deutschland sähe heute anders aus, besser, wenn es umgekehrt gekommen wäre, meinte noch der Freiherr von Stein. Ähnlich urteilte dann auch Friedrich Engels. Gelobt seien beide – und erst recht Albrecht Dürer. Was für ein seltsamer Renaissance-Mensch! So recht nach Walter Benjamins Geschmack: während für Karl Marx die Revolutionen noch „Lokomotiven“ waren „um den langsamen Zug der Geschichte zu beschleunigen“, gab Walter Benjamin zu bedenken: „Vielleicht sind sie der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“.
Dürer hat mit seinen zwei Lehrbüchern die Notbremse gezogen, aber der Zug der Geschichte war nicht mehr aufzuhalten. Inzwischen müssen wir die letzten edlen Wilden schon unter Artenschutz stellen. In seinem Versteck vor dem Wüten der Reaktion hatte Dürer seltsame Träume und malte ein Bauernkriegsdenkmal: Ein von hinten erdolchter Bauer auf einer Säule (ähnlich der Siegessäule), zu Füßen der Säule kauern jedoch Rinder, Kühe und Schafe und trauern um den Bauern, dessen Tod tatsächlich zu der Zeit besiegelt wurde: indem man die von ihm noch verkörperte Einheit zwischen Theorie und Praxis zerriss – zentralperspektivisch. Dürer hat das gemalt: Wie man einem weiblichen Akt damit zu Leibe rückt. Und dann noch einmal mit einem seiner drei Meisterstiche: „Melencolia I“. Da haben wir auch schon den Benjaminschen Engel der Geschichte. (Im „Kommentar“ unten findet sich ein Text von Michail Grey Wolf Guruev!)
Hier noch einige weitere Texte zum „Thema“:
1. Kirche von hinten
Niemand bezweifelt, dass die Kraft des Gebets im Quadrat seiner Entfernung abnimmt, wohl aber die „Kraft des Glaubens“. Diese ist physisch – auf Menschen und an Mitmenschen gerichtet und jene nicht-physikalisch an Gott. Der Philosoph Tzvetan Todorov attestiert Christopher Kolumbus, dass er, der 1492 die Schwelle zur Moderne mit seiner Atlantiküberquerung buchstäblich überschritt, dort in der Neuen Welt nicht anders gehandelt hätte, wenn er statt christlichen mohammedanischen oder jüdischen Glaubens gewesen wäre: „Wichtig ist die Kraft des Glaubens als solche“.
Sie bewirkte u.a., dass Kolumbus unbeirrt alle neuen Phänomene in Amerika durch die Schriften seiner Offenbarungsreligion interpretierte: Er „hat [im Gegensatz zu seinem Nachfolger, dem Aztekenschlächter Cortez] nichts mit einem Empiriker gemein – sein entscheidendes Argument stützt sich auf Autorität, nicht auf Erfahrung“. Und seine „konkrete Erfahrung hat die Funktion, eine Wahrheit zu belegen, die man bereits besitzt“. Darüberhinaus speist die Erfahrung noch sein Wunschdenken: „Auf See weisen für Kolumbus alle Zeichen auf die Nähe des Landes hin, weil das sein Wunsch ist. An Land offenbaren alle Zeichen das Vorhandensein von Gold“. Mit dem im übrigen seine Förderin, Isabella von Kastilien, ein christliches Werk – die Befreiung Jerusalems – finanzieren soll.
Gelegentlich wendet Kolumbus seine „Wahrheiten“ aber auch schon so listig an wie sein Vorfahr Odysseus und sein Nachfahr Cortez: 1504 nutzte er z.B. auf Jamaika sein Wissen um eine baldige Mondfinsternis aus, um die Eingeborenen zu erpressen: Wenn sie nicht weiterhin seine Mannschaft mit Lebensmitteln versorgen, werde er ihnen den Mond stehlen…“Der Erfolg stellte sich umgehend ein“, schreibt Todorov in: „Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen“. Auch der Goldrausch war also noch religiös motiviert: „Die Spanier bringen das Christentum und nehmen dafür das Gold“ – and more: Als der Evangelisator-Kolonisator Kolumbus Kuba betritt, nimmt er als erstes, ohne sich um die verdutzten Eingeborenen zu kümmern, eine „Benennungszeremonie“ vor, indem er im Beisein eines Notars und zwei seiner Kapitäne als „Augenzeugen“ die gesamte Insel in den Besitz des Königs und der Königin überführte.
„Man kann sagen, daß die spanischen Konquistadoren historisch der Übergangsperiode zwischen einem von der Religion beherrschten Mittelalter und der Neuzeit, die materielle Güter an die Spitze der Werteskala setzte, zuzuordnen sind.“ Mit fortschreitender Eroberung reduzieren sie dabei die Bevölkerung Amerikas bis zur Mitte des 16. Jds., also in rund 50 Jahren, von 80 auf 10 Millionen. „In Mexiko beträgt die Bevölkerung am Vorabend der Konquista etwa 25 Millionen, im Jahr 1600 ist es noch eine Million,“ schreibt Zvetan Todorov. Dabei dachten die Spanier die ganze Zeit, sie wären in Asien: Kolumbus bleibt z.B. auf Kuba gegen alle Einwände der Eingeborenen dabei, das er sich bereits auf Festland befindet. Und noch der Schlächter Hernandez de Cordoba bezeichnet die Maya-Tempel als „Moscheen“ und die erste große Stadt, auf die er bei seiner Expedition stößt, als das „große Kairo“. Den Konquistadoren geht es darum, mit dem friedliebenden Christentum den Indianern ihren „barbarischen Brauch des Menschenopfers“ auszutreiben, wobei sie entscheiden, „daß das Menschenopfer Ausdruck der Tyrannei ist und das Massaker nicht.“
Der Historiker und selbst Konquistador Pedrarias Oviedo schreibt: „Wer will leugnen, daß das Pulver, das man gegen die Heiden verwendet, für Unseren Herrn Weihrauch ist?“ Daraus leitet sich das Recht und sogar die Pflicht ab, anderen das Gute aufzuzwingen, d.h. sie alle glücklich zu machen, jedenfalls die, die alle Säuberungen überlebt haben – in diesem „gerechten Krieg“, der – just da man alle Araber, Juden und Mauren aus Spanien vertrieb – ein gewaltiges „Bekehrungswerk“ und kein Genozid organisierte! Der Dominikaner Diego Duran, „ein zum Indianertum bekehrter Christ, der die Indianer zum Christentum bekehrt“, ist 1581 empört darüber, dass es den Überlebenden gelang, „Bruchstücke ihrer alten Religion in das Brauchtum der christlichen Religion einzuschmuggeln“. Der es ihm nachtuende Franziskaner Bernardino de Sahagun verfeinert daraufhin das Instrumentarium: „Man muß die Sitten der Indianer genauso gut kennen, wie man, um eine Krankheit zu heilen, den Kranken kennen muß“. Die Anfänge der Ethnologie befinden sich am Krankenbett. Noch heute gibt es Ethnologen, die den letzten, meist „kleinen Völkern“ helfen, d.h. die sie heilen wollen!
2. Perspektivwechsel
Ab 5 Uhr 45 blicken die Anderen zurück! Die Amazonas-Indianer am Fuße der Anden hängen noch immer dem alten Glauben an, dass die „perversen Weißen eine unstillbare Lust auf das Fett der Eingeborenen“ haben, schreibt Philippe Descola in seinem Buch „Leben und Sterben in Amazonien. Bei den Jivaro-Indianern“. Die Weißen „verschaffen es sich, indem sie die Unglücklichen, derer sie habhaft werden, in großen Kochtöpfen kochen oder sie wie Schläuche entleeren. Manche behaupten, diese makabren Praktiken dienten in Wirklichkeit dazu, die gigantischen Maschinen, dank derer die Weißen die Welt beherrschen, mit Kraft- und Schmierstoffen zu versorgen, einen monströsen Stahlmoloch, der laufend neue Opfer zu seiner Ernährung braucht.“
Diese fettgierigen Weißen, die Indianer jagen, sind jedoch keine wirklichen Weißen, sondern Dämonen, Pishtaco genannt. Nur unterscheiden sie sich kein bißchen von den anderen – wirklichen – Weißen. So daß es laut Descola „für jeden, der eine helle Hautfarbe hat, äußerst gefährlich ist, sich auf Abenteuerfahrt in gewisse Regionen zu begeben, wo sein angenommener Kannibalismus ihm ein übles Schicksal einbringen könnte. Einige naive Forschungsreisende haben in den letzten Jahren diese traurige Erfahrung gemacht.“
Der Ethnologe lebte mehrere Jahre bei Jivaro-Indianern – ein Volk von Sammlern, Anglern und Jägern, die es vor allem auf Pekaris, eine Wildschweinart, abgesehen haben. In ihrer Kosmologie besitzen alle Tiere eine Seele und leben ähnlich wie die Menschen, so dass sie auch wie diese von bösen und guten Geistern heimgesucht werden. Die Pekaris haben sogar eine Urmutter – Jurijri genannt: Sie hat eine bleiche Haut, einen langen Bart, langes Haar, und spricht viele Sprachen. Sie sieht also genauso aus wie der Franzose Descola. Im Unterschied dazu trägt Juriji jedoch „Stiefel, Eisenhelm und Schwert“. Womit sie wie ein „zum Konquistador herausgeputzter Weißer“ aussieht. Man kann vermuten, dass dieser Geist mit der blutigen spanischen Eroberung Gestalt annahm. Juriji frißt Menschen – „solche, die das Wild verhöhnen, solche, die Tiere nur aus Spaß an der Freude töten…“ Deswegen muß man den Pekaris, die man jagt, äußerst respektvoll begegnen.
Der Afrikanist und Antifaschist Julius Lips veröffentlichte 1937 im Exil das Buch: „Der Weiße im Spiegel der Farbigen.Die Wildnis schlägt zurück“ – zu dem Bronislaw Malinowski ein Vorwort beisteuerte. Dieser erwähnt darin ein Gespräch mit einem alten Kannibalen, der von den Missionaren erfahren hatte, dass in Europa ein Krieg ausbrach. „Was ihn daran am meisten verwunderte, wie wir Weißen es schaffen würden, derart enorme Mengen Fleisch zu essen. Als ich ihn darüber aufklärte, dass wir niemals Menschenfleisch essen würden, war er noch mehr erschrocken: Was wir doch für Barbaren wären, das wir ohne Grund töten.“
Um diese gefährlichen Doppelwesen abzuwehren, entstanden in einigen Teilen Afrikas Abwehrzauber mit sogenannten „Colon“-Plastiken: Holzskulpturen, die die weißen Kolonialherren verkörpern: Offiziere, Soldaten, Schlips- und Anzug tragende Beamte, Kaufleute mit ihren Insignien: Tropenhelm, Armbanduhr, spitze Nase, schmale Lippen, Revolver, Hände in den Hosentaschen, usw.
Der französische Dokumentarist Jean Rouch hat in den Fünfzigerjahren einen Film über Besessenheitsrituale bei den Haukas gedreht, dazu erklärte er: „Die koloniale Erfahrung der Begegnung mit den Europäern und ihrer Macht, die die Macht ihrer Technik, Gewehre, Kanonen. Lokomotiven und der starren Hierarchie der Armee ist, wird in den vom Ritual kontrollierten Ausbrüchen der Hauka symbolisch wiederholt und überschritten. Dabei ist der Wahnsinn, die Gewalt und die Brutalität, die die Hauka im Ritual ausspielen, der Wahnsinn, die Gewalt und die Brutalität der kolonialen Gesellschaft. Auch wird dem Europäer der Spiegel vorgehalten, und er sieht sich, wie die Afrikaner ihn sehen.“
In einem anderen Film begleitete Jean Rouch einen afrikanischen Ethnographen nach Paris, wo dieser eine Feldforschung über die dortigen Eingeborenen und ihre Probleme beim Wohnen in Hochhäusern durchführte. Erst vor einigen Jahren drehte eine afrikanische Ethnologin einen Film über protestantische Initiationsrituale am Beispiel einer norddeutschen Konfirmation. Ihren „Informanten“ gelang es jedoch, ihn schnell aus dem Verkehr zu ziehen. Inzwischen gibt es in Hamburg einen Studienbereich „Europäische Ethnologie“, der eine solche Umdrehung der Perspektive sogar noch forciert – als eine Art angewandten Antifaschismus sozusagen.
3. „Jenseits von Natur und Kultur“
So heißt ein weiteres Buch des Pariser Ethnologen Philippe Descola. Der Titel deutet es bereits an: Der Autor will mit diesem Buch über die moderne Dichotomie von Natur und Kultur hinaus gelangen. Im Gegensatz zum Wissenssoziologen Bruno Latour, der vor die Moderne – mit ihren Unterscheidungen Subjekt – Objekt, Natur – Kultur und Fakt – Fetisch – zurück will. In ihrer Begründung sind sich beide einig: Die „Reduktion der Vielfalt alles Existierenden auf Ordnungen heterogener Realitäten“ wird der komplexen Wirklichkeit nicht mehr gerecht. Latours wie Descolas methodische Überlegungen lassen sich auf die Formel „Follow the Actors“ bringen, aber während Latour dabei mikrosoziologisch vorgeht, hat Descola einen diachronischen und synchronischen Zugang gewählt:
Zum Einen geht er auf die abendländische Entwicklung der modernen Trennungsbegriffe Natur und Kultur zurück und zum anderen vergleicht er unser Weltbild mit denen von anderen Völkern rund um den Globus. Ausgangspunkt der dabei von ihm anvisierten „monistischen Anthropologie“ ist seine – dem Begründer der „strukturalen Anthropologie“, Claude Lévi-Strauss, nachfolgende – Feldforschung: „Am Unterlauf des Kapawi, eines Flusses im Amazonasbecken, habe ich angefangen, mich nach der Evidenz der Natur zu fragen“.
Das Studium der Kosmologien anderer Völker – wie die der Eskimos, Inder, Japaner, Aborigines usw. – bestärkte ihn dann in der Vermutung, „dass die Art und Weise, wie das moderne Abendland die Natur darstellt, etwas ist, was in der Welt am Wenigsten geteilt wird.“ In seinem Kapitel „Die große Trennung“ hakt Descola an der Renaissance-„Erfindung“ der „Linearperspektive“ an, die im 15.Jhd. durch die“Mathematisierung des Raumes“ ein „neues Verhältnis einführte zwischen dem Subjekt und der Welt“.
Aber „wie üblich beginnt alles in Griechenland“ – d.h. mit Aristoteles und seiner „Objektivierung der Natur“ – zu der jedoch auch noch der Mensch zählte. Erst mit dem Christentum nimmt ihre Abspaltung von den nichtmenschlichen Wesen Gestalt an. Inzwischen hat uns die Verhaltensforschung/Ethologie aber schon wieder dahin gebracht, dass wir z.B. den Menschenaffen so viel Kultur zugestehen, dass sie ethnologisch erforscht werden können. Auch unser einstiges „Alleinstellungsmerkmal“ – die Sprache – wird inzwischen auf den Gesang einiger Vogelarten ausgedehnt und ist damit keines mehr.
All dies läuft auf das Postulat einer Universalität der Natur hinaus. Angedacht war es bereits beim Soziologen Roger Caillois, für den z.B. die Mimese/Mimikry von Insekten den selben Ursprung wie die Kleider-Mode bei den Menschen hat: „Es gibt nur eine Natur!“
Über kurz oder lang führt dieses Denken zur Ausweitung der Menschenrechte auf die Tiere. In der Schweiz diskutiert man bereits die Rechte von Pflanzen – als Individuen. Ein Kapitel bei Descola heißt: „Das denkende Schilfrohr“. Die sibirischen Tschukschen gehen noch weiter: Für sie bilden „sogar die Schatten an der Wand besondere Stämme und und haben ihr eigenes Land, wo sie in Hütten leben und sich von der Jagd ernähren.“
Für viele Stämme der Amazonas-Indianer sind die Tiere und Pflanzen „Personen“ – mit einer den Menschen analogen „Interiorität“, so dass diese „mit den Pflanzen, den Tieren und den sie schützenden Geistern individuelle Beziehungen unterhalten, die von einem ähnlichen Verhaltenskodex wie dem bei den Indianern geltenden geleitet werden.“
Neben unserer „naturalistischen“ Weltauffassung unterscheidet Descola „animistische“, „totemistische“ und „analogische“ Gesellschaften. Sein kosmologischer Rundumschlag läuft zuletzt auf ein Plädoyer für ein Nebeneinander all dieser Typen „des In-der-Welt-Seins“ hinaus – in einem Verhältnis der „Gegenseitigkeit“, die er für dringend geboten hält.
4. Die zeitlos Glücklichsten
„Es kann sein, dass uns die Zeit ausgeht, bevor alle anderen Ressourcen erschöpft sind.“ (W.S.Burroughs)
Die ganze Welt ist dem Geld und der (Zeit-)Logik unterworfen. Nein, nicht ganz: ein kleines Volk in Amazonien, mit kaum 400 Menschen, ist standhaft geblieben: Es nennt sich „Hiaiti’ihi“ (die Aufrechten), Piraha heißen sie bei den Weißen und Wissenschaftlern. Sie führen ein „Leben ohne Zahl und Zeit“, schreibt der Spiegel. Außerdem kennen sie keinen Gott und keine Götter, haben keine Rituale und keinen Besitz. „Hüter der Glücksformel“ werden sie auch genannt, weil der erste Erforscher ihrer Lebensweise und ihrer komplizierten Sprache, der Linguist Dan Everett, sie als „Das glücklichste Volk“ beschrieb.
Es hütet jedoch kein Geheimnis, sondern eine einfach strukturierte Sprache – mit dem sich die Piraha viel erzählen. Sie siedeln an einem Seitenarm des Amazonas, jagen und angeln und sind mit ihrem Leben überaus zufrieden. so dass sie sich kaum von irgendetwas affizieren lassen. „Die Piraha reden sehr gern. Kaum etwas anderes fällt Besuchern, die ich zu den Piraha bringe, so stark auf wie ihre Neigung, ständig zu reden und gemeinsam zu lachen,“ schreibt der einstige US-Missionar Everett, der während seiner langjährigen Arbeit umgekehrt von ihnen zum Unglauben bekehrt wurde und nun quasi ihr Stammes-Ethnologe ist. Aber ihre „kulturellen Werte“ schränken die „Themen“ ihrer endlosen Unterhaltungen stark ein, meint er. Mit den „Werten“ ist ihr unbedingter Wille zum Sein in „unbegrenzter Gegenwart“ gemeint. Die Piraha kennen weder Vergangenheit noch Zukunft – und akzptieren sie auch nicht. Everett spricht von ihrem „Prinzip des unmittelbaren Erlebens“, dem er viel abgewinnen konnte, nachdem er ihre Sprache gelernt hatte: „Die Piraha sind ganz und gar dem pragmatischen Konzept der praktischen Relevanz verhaftet. Sie glauben nicht an einen Himmel über uns, an eine Hölle unter uns oder irgendeine abstrakte Sache, für die zu sterben sich lohnt. Damit verschaffen sie uns die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie ein Leben ohne absolute Werte, ohne Rechtschaffenheit, Heiligkeit und Sünde aussehen könnte. Das ist eine reizvolle Vision.“
Und weil es bei den Piraha im Prinzip keine höhere Autorität als den Bericht eines Augenzeugen gibt, stoppten einige ältere Männer, die sich mit dem Autor angefreundet hatten, eines Tages auch dessen Missionstätigkeit: „Die Piraha wollen nicht wie Amerikaner leben,“ sagten sie ihm. „Wir trinken gern. Wir lieben nicht nur eine Frau. Wir wollen Jesus nicht – und auch nichts von ihm hören.“
Nach einer Glaubenskrise reifte in dem sich dann bei Noam Chomsky zum Linguisten umschulenden Autor die Erkenntnis: „Ist es möglich, ein Leben ohne die Krücken von Religion und Wahrheit zu führen? Die Piraha machen es uns vor. Sie stellen das Unmittelbare in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit und damit beseitigen sie mit einem Schlag gewaltige Ursachen von Besorgnis, Angst und Verzweiflung, die so viele Menschen in den westlichen Gesellschaften heimsuchen.“
Die stets gegenwärtig bleibenden Piraha sorgen sich nicht. Dabei gäbe es Gründe genug: Sie sterben früh, u.a. an Tropenparasiten und den Krankheiten der Weißen, haben Jagdunfälle und Streitereien mit Nachbarstämmen. Weil die mit Schiffen gelegentlich bei ihnen anlegenden Händler sie bei Tauschgeschäften oft übervorteilen, wollten sie Zählen und Rechnen lernen, aber ihr transzendentaler Präsens verhinderte auch das Denken mit der Abstraktion Zahl. Die Begriffe für „links“ und „rechts“ kennen sie ebenfalls nicht. Und keine Häuptlinge, Rituale, Initiationen, weder Schwüre noch Schmuck, und keine Diskriminierung von Frauen oder Kindern, wenn man den Berichten glauben darf. Ihre Konzentration auf das Wesentliche könnte man mit Friedrich Engels als urkommunistisch bezeichnen, Everett hält die Piraha-Kultur jedoch mitnichten für „primitiv: Vielleicht machen gerade Ängste und Sorgen eine Kultur primitiv und wenn sie fehlen, ist eine Kultur höher entwickelt. Wenn das stimmt, haben die Piraha eine sehr hoch entwickelte Kultur.“ Außerdem kennen sie nicht weniger Begriffe als wir.
Für den Philosophen der Französischen Revolution Kant war die „transzendentale Gegenwart“ allein Gott vorbehalten, dafür war für ihn die „Zeit“ transzendental – d.h. uns allen innerlich mitgegeben. Inzwischen meinen wir schon, dass es sich dabei um eine „substantielle Größe“ handelt, mit der wir immer ökonomischer umgehen können – um z.B. „Quality-Time“ daraus zu machen. Gleichzeitig bestritt die westliche Moderne ihren globalen Siegeszug mit den Zahlen – über Handel, Technik und Ingenieurwissen bis hin zur Kybernetik. Aber bereits jetzt zeichnet sich ab, dass uns dabei die Gegenwart immer mehr abhanden kommt: Wieviele gegenwärtige Gesprächsrunden werden zerstört durch permanente Handyanrufe aus der Zukunft. Wieviele Sehenswürdigkeiten werden statt sie sich genau anzukucken nur schnell photographiert oder gefilmt – für später. Wieviele Anstrengungen unternehmen wir täglich, um uns die Zukunft zu sichern – und sei es nur den Rest der Woche. Zeit ist Geld, heißt es, und Geld ist Zahl. Aber die Entleerung der Gegenwart geht noch weiter.
In seinem Buch „Geistige und körperliche Arbeit“ schreibt der Sozialphilosoph Alfred Sohn-Rethel: „In der Kybernetik verfällt die Funktion der menschlichen Sinnesorgane und operativen Hirntätigkeit selbst der Vergesellschaftung.“ – Während wir zugleich – beginnend mit der Industriearbeiterschaft – atomisiert werden. In der „Wissensgesellschaft“ angekommen haben wir es bald nur noch mit Algorithmen zu tun. Dafür können wir uns dann z.B. abends mit unserem Waschmaschinen-System unterhalten. Horkheimer und Adorno konnten 1944, als die Kybernetik sich gerade aus der Lenkwaffenforschung „befreite“, noch gnädig sein – in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ schrieben sie: Die ganze „Wissenschaft rechnet, rechnen ist nicht Denken. Denken entzündet sich am Widerstand. Systembauen ist die Ausräumung des Widerstands im Denken. Bei Mathematikern, Programmierern und Technikern geht das in Ordnung, bei allen anderen ist es eine höhere Form des Schwachsinns.“ Das Ranking z.B. – heute wird sogar das Schwachsinnigste gerankt. Der zur Frankfurter Schule zählende Alfred Sohn-Rethel war in den Siebzigerjahren radikaler: „Wenn es dem Marxismus nicht gelingt, der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen, dann ist die Abdankung des Marxismus als Denkstandpunkt eine bloße Frage der Zeit.“ Jahrzehntelang arbeitete er an seinem o.e. Buch darüber, in dem er nachzuweisen versuchte, dass und wie die naturwissenschaftlichen Begriffe „Realabstraktionen“ sind, die auf dem entwickelten Warentausch basieren.
Die Piraha am Maici-Fluß sind trotz gelegentlichem Handel gegen „Realabstraktionen“ anscheinend resistent. Inzwischen leben sie in einem Reservat und auf jeden Piranha kommen vier Diplomanden, zwei Doktoranden und ein Professor. Auch der Staat Brasilien schickt immer mal wieder Komissionen vorbei. Man hat jeden von ihnen schon x-mal photographiert. Zweidimensionalen Bildern können die Piraha übrigens auch nichts abgewinnen. Schon das Selbe wieder zu erkennen fällt ihnen, die alle paar Jahre ihren eigenen Namen ändern, schwer. Sie sind die ersten und vielleicht letzten großen Verweigerer aller „Realabstraktionen“. Bald werden die Touristen kommen, spätestens dann gilt auch für die Piraha das kapitalistische Wertgesetz. „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert,“ schreiben Adorno/Horkheimer. „Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung. Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten.“
Die Piraha, die überall nur Qualitäten wahrnehmen und statt Götter höchstens dort gelegentlich Erscheinungen sehen – wo wir noch so genau hinkucken können, sind wahrscheinlich als Ewiggegenwärtige dazu verdammt, in Zukunft nur noch eine romantische Idee aus der Vergangenheit zu sein. Eine Ironie des Realen. In seinem Amazonas-Bericht „Traurige Tropen“ hat der Ethnologe Claude Lévy-Strauss das bereits 1955 befürchtet. Als stets Gegenwärtige wird es den Piraha aber wohl in gewisser Weise am Arsch vorbei gehen. Ihre Population hat sich in letzter Zeit sogar vergrößert. Es kann mithin auch anders kommen, dass sie z.B. an einem Institut für Antiamerikanistik zum Nukleus einer widerständigen Linguistik-Gemeinde werden. Bereits jetzt haben sie die „Universalgrammatik“ von Noam Chomsky, die global und genetisch argumentiert, und für uns alle gelten soll, allein durch ihre extravagante Sprache, die laut Everett „in zahlreichen Punkten extrem ungewöhnlich ist und strukturell massiv von anderen, auch ‚exotischen‘, Sprachen abweicht“, quasi listig widerlegt, indem sie die kurzen Sätze ihrer Erlebniserzählungen wie Perlen auf eine Kette reihen.
Aber was immer mit den Piraha passieren wird, sie helfen uns – das zu erfassen, was Rousseau den vielfältigen Ursprung unserer Gesellschaft nennt, „der nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich auch nie existieren wird und von dem wir dennoch richtige Vorstellungen haben müssen, um unseren gegenwärtigen Zustand beurteilen zu können.“
Letzte Meldung: Im brasilianischen Bundesstaat Rondonia wurde vor einiger Zeit noch ein kleines Volk entdeckt, das auf ewig „im Jetzt lebt“, wie die Süddeutsche Zeitung am 21. Mai 2011 schrieb. Die 150 noch lebenden Amundawa zählen sich zu den (Amazonas-) Indianern. Und wenn sie in den dort von der Regierung gegründeten Schulen Portugiesisch lernen, haben sie auch „keinerlei Probleme mehr, Aussagen über Zeitverläufte zu treffen, ebenso lernen sie dann rechnen. In ihrer Sprache können sie nur bis 4 zählen.“
Piraha-Porträts. Photo: rolandwegerer.wordpress.com
Marshall McLuhan schrieb 1967 ein Brief an einen befreundeten Journalisten, eine Stelle daraus findet sich nun im Nachwort seines 1968 erschienenen Buches „Krieg und Frieden im globalen Dorf“:
„Wir befinden uns mitten in unseerem Dritten Weltkrieg, unserem ersten Fernsehkrieg. Wie Bonanza und der Western im allgemeinen hilft uns das Fernsehen dabei, unser Bild von der Grenze (frontier) wieder aufzurichten, als der Indianer die Gefahr darstellte…“
Anläßlich der von Schah ausgerichteten 3000-Jahresfeier Persiens inszenierte Robert Wilson mit einer ganzen Kompanie iranischer Soldaten diese „Frontier-Situation“ samt Fernseher und Indianer im Iran noch einmal nach.