vonImma Luise Harms 27.07.2010

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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„Setz dich hin, ich mach den Kaffee“. Der Espresso ist schon durchgelaufen. Thomas schäumt die Milch auf. Hoher Metalltopf mit eingepasster Drahtspirale. An einem Stempel, der durch den Deckel fährt und in einem Knauf endet, wird die Spirale kolbenartig auf und nieder bewegt. In der Gebrauchsanleitung, die anscheinend jedem Nonfood-Artikel beiliegen muss, stand, dass man sie in kleinen, schnellen Bewegungen durch die Oberfläche der Milch hindurch stoßen soll und dass die Milch nicht kochen sondern kalt oder höchstens warm sein sollte, um beste Ergebnisse zu erzielen. Kalter Kaffee. Nee.
Die Milch ist erhitzt. Thomas bewegt den Knauf in der ihm eigenen Gelassenheit. Beim Hochziehen hebt sich jedes Mal der Deckel ein bisschen; Milch tritt aus, die den Rand herunter läuft. Ein verbesserungswürdiger Konstruktionsfehler, der möglicherweise durch die Anweisung, schnell zu arbeiten, kaschiert werden sollte.
Hinter der Metallwand sehe ich die Spiralfeder und das von ihr eingerahmte Sieb die Milchoberfläche durchstoßen. Die Milchmoleküle werden gepufft, weichen aus; die Luftpartikel drängen sich dazwischen, werden von den Milchmolekülen, die nicht voneinander lassen wollen, eingeschlossen. Blasen türmen sich auf Blasen, teilen sich, werden immer kleiner, immer feiner, bis die Milch ein Wattebausch geworden ist.
Kaffee mit aufgeschäumter Milch hat Vor- und Nachteile. Wir bereiten ihn nicht wie Latte Macchiato – erst den Espresso, dick und schwarz, dann den Milchschaum vorsichtig drauf, sondern schaumige Milch in die Tasse und den dunklen Kaffeesaft reinlaufen lassen. Er hinterlässt ein kleines Muster im Schaum, das jeden Morgen anders ausfällt. Ein wienerischer Bonvivant hat das mal süffisant mit Pinkelspuren im Schnee verglichen. Wahrscheinlich trinkt er Lakritzsaft, dass er auf den Vergleich kommt.
Vorteilig am Schaumkaffee ist, dass man in ihn hinein beißen kann. Seine Konsistenz erlaubt, Essenslüste am Getränk zu befriedigen. Darin liegt auch ein Nachteil; man kommt schwer an die Reste heran, die letzte dicke Schaumflocke hält sich hartnäckig am Tassenboden. Man müsste einen Löffel zu Hilfe nehmen, den man aber natürlich gerade nicht zur Hand hat. Genau genommen ist der Schaumrest auch nicht besonders lecker, weil sich darin oft Espresso-Krümel verbergen, die auf rätselhafte Weise durch das feine Sieb in den Kaffee geraten sind. Der wesentliche Vorteil des geschäumten Milchkaffees liegt aber darin, dass er unter der Schaumdecke länger warm bleibt, wenn man zum Beispiel im Bett liegend Texte schreibt und dabei gelegentlich und gedankenverloren an der Tasse nippt. Warm rinnt es in mich hinein. Irgendwann kommt nichts mehr. Ich schaue in die Tasse: Aha, der Schaumrest, mit Bröseln drin. Den lass ich mal lieber. Zeit aufzustehen.

Aber jetzt sitzen wir in der Küche. Ein paar Kuchenstücke stehen auf dem Tisch. Thomas hat den Milchschaum in die Tassen gefüllt. Ich sitze nicht mehr, mache mir mit überflüssigen Handgriffen zu schaffen und beobachte den Vorgang unauffällig. Wäscht er den Milchschäumer wieder ab, nachdem er die Milch eingefüllt hat? Angetrocknete Milch in Töpfen und vor allem in Spiralfedern lässt sich so schwer entfernen. Die Versuchung ist groß, beim nächsten Mal die Milch einfach im benutzten Topf zu erwärmen, wodurch die Milchränder mit Sicherheit anbrennen und jetzt einen großen Reinigungsgang notwendig machen. Ich habe mir deshalb angewöhnt, Stempel und Topf sofort nach Ausleeren der Milch kalt abzuwaschen und in den Ablauf zu stellen, fertig zur nächsten Benutzung.
Thomas spürt meine irrlichternden Blicke. Er lässt Wasser in den Topf laufen, drückt den Stempel hinein und wendet sich den Tassen zu. Ich bin unentspannt. „Ist was falsch?“, fragt er mit kampfbereitem Unterton. „Ich weichs doch extra ein, ist das wieder nicht richtig?“ Ich druckse immer noch, will nicht ran an den irgendwie kleinkarierten Konflikt. „Also, ich wasche den Schäumer immer gleich wieder ab“, sage ich schließlich. Thomas ist darauf vorbereitet. „Wenn ich ihn einweiche, kann ich das doch gleich machen. Jetzt wollten wir doch erst mal Kaffee trinken“. Würde er das „gleich“ machen, wenn ich ihn nicht penetranterweise daran erinnere? Ich bin sicher, nein. Aber damit kann ich nicht argumentieren. Eine Statistik über ungespült zurückgelassene Milchtöpfe führe ich nicht. Die nackte Behauptung kann er zurückweisen. Die Prognose kann er spülend widerlegen.

Der Konflikt ist unvermeidlich; die hohe Kunst der Konfliktführung besteht nun darin, die Meinungsverschiedenheit und den Versuch ihrer Aufklärung genau bis in die angemessene Tiefe an Grundsätzlichkeit sinken zu lassen und dabei ausgetretene Vorwurfspfade zu vermeiden.
Wir führen ein vor Wohlwollen und positiven Unterstellungen strotzendes Gespräch über die unterschiedlichen Praktiken, mit schmutzigem Geschirr umzugehen. Dabei ist zu bedenken, dass wir zwei Haushalte haben, aber im jeweils anderen Haushalt als Gastköche tätig werden, wie eben jetzt. Thomas lässt bei sich die benutzten Gegenstände oft stehen, bis er sie wieder braucht. Das ist zwar dann oft mehr Arbeit, aber eben erst dann. Für den Moment kann er diese Perspektive verschieben, und ihm ist das halt angenehmer, als alles immer gleich wieder wegzureinigen. Nennen wir das die vorhaltige Variante.
Ich bin für Nachhaltigkeit. Wenn ich einen Arbeitsgang in der Küche beende, stelle ich mir bereits vor, wie ich den kommenden mit Freude anfangen möchte. Mit dem angetrockneten Milchtopf möchte ich morgens nicht meinen Tag beginnen.
Ist ja auch in Ordnung. Jeder ist frei, es so zu machen, wie er/sie es möchte. Aber nun verschränken sich die Prinzipien und schon ist es vorbei mit der Freiheit. Die Varianten eines beliebten Wandspruchs in gemeinschaftlich genutzten Einrichtungen bilden das Dilemma ab. Mal heißt es: „Hinterlassen Sie alles so, wie Sie es vorzufinden wünschen“, und mal: „Hinterlassen Sie alles so, wie Sie es vorgefunden haben“.
WG-Albtraum: Du musst früh aufstehen, hast einen anstrengenden Arbeitstag vor dir. Der WG-Tisch ist mit den Resten der durchzechten Nacht deiner MitbewohnerInnen bedeckt. Das Geschirr steckt schmutzig in der Spülmaschine, die Milch ist auf dem Tisch stehen geblieben und hat einen Stich. Das Brot ist ausgetrocknet. Kippen und der säuerliche Geruch von Weinresten verderben dir den Appetit. Um alles so zu hinterlassen, wie du es vorzufinden wünschst, hättest du eine Stunde eher aufstehen müssen. Oder richtete sich die Aufforderung bereits an die nächtlichen ZecherInnen? Aber die wünschten möglicherweise gar nicht, den Tisch anders vorzufinden. Resigniert entscheidest du dich für die zweite Variante: du hinterlässt alles so, wie du es vorgefunden hast, und gehst beim Bäcker Kaffee trinken.
Müsste die Aufforderung zu einer dritten Variante umformuliert werden? „Hinterlassen Sie alles so, wie die mit Ihnen verbundenen Menschen es vorzufinden wünschen!“ Wir betreten das Reich der Zwänge. Der vorhaltige Typ halst dem nachhaltigen Arbeiten auf, die er/sie nicht machen möchte. Der nachhaltige Typ verdirbt dem vorhaltigen Leichtigkeit, Freude und Spontaneität. Das Lasso des Schuldvorwurfs kreist über den Debattierenden. Wenn es um die Schuldfrage geht, ist der Streit bereits zu tief ins Grundsätzliche gesunken, Zeit für einen Abbruch.

Nachdem die Erbitterung abgeebbt ist, werden versöhnliche Gesten ausgetauscht. Und hier kommt das Einweichen ins Spiel. Thomas weicht gerne ein. Das eingeweichte Backblech finde ich Tage später im Ausgussbecken. Der eingeweichte und mit einem Deckel bedeckte Bratentopf macht sich auf dem Herd unsichtbar. Und der eingeweichte Milchtopf steht, wenn keine Diskussionen dazwischen kommen, morgen früh im Spülbecken. Auch benutzte Pinsel oder fleckige Wäsche werden eingeweicht.
Was heißt Einweichen? Um das Dilemma zwischen Vorhaltigkeits- und Nachhaltigkeitsprinzip aufschlüsseln zu können, müssen zwei grundverschiedene Einweichungsfälle auseinander gehalten werden. Einweichen, damit etwas nicht antrocknet und später schwer zu reinigen ist. Und einweichen, um etwas Angetrocknetes wieder zu lösen und es dann leichter reinigen zu können. Sagen wir: hinhaltendes Einweichen und lösendes Einweichen.
Das lösende Einweichen ist genau das, was ich durch meine auf Nachhaltigkeit orientierten Sofort-Maßnahmen zu vermeiden versuche. Das geht nicht immer. Zum Beispiel: die Nudeln werden aus dem Topf durch ein Sieb in die Schüssel geschüttet, kommen sofort auf den Tisch und werden verzehrt. Ein paar Restnudeln hängen noch am Boden des Topfes und trocknen an. Nach dem Essen sitzen sie bombig fest. Da hilft Einweichen; die Teigware saugt sich aufs Neue mit Wasser voll und schwimmt nach ein paar Minuten leicht und locker davon.
Das lösende Einweichen ist notwendig, das hinhaltende Einweichen schafft zeitlichen Spielraum, aber nur wenn dem Einweichen das spätere Reinigen durch dieselbe Person folgt. Sonst würde ich es das Abschieben einer unangenehmen Tätigkeit nennen. „Hattest du das Kuchenblech vergessen? Ich habs inzwischen sauber gemacht“ sage ich am nächsten Tag spitz. „Wieso denn, das musste einweichen, ich hätte es heute gespült. Aber du bist ja immer schneller!“ Thomas’ schlechtes Gewissen treibt Empörungsblüten.
Hier sind wir auf der Spur einer dritten Spielart – das Alibi-Einweichen: Immerhin schon mal eingeweicht. Wenn sie den Milchtopf jetzt braucht, kann sie ihn genauso leicht saubermachen, als wenn sie ihn gerade erst benutzt hätte! Stimmt, aber dadurch spüle ich den Milchtopf immer alleine: einmal gezwungen, wenn ich ihn benutzen will, und einmal freiwillig, um mein eigenes Nachhaltigkeitsprinzip zu erfüllen. Und Thomas kann immer über einen sauberen Milchtopf verfügen.
Seinen Charakter, unliebsame Arbeiten jemand anderem aufzuhalsen, verrät das Alibi-Einweichen bei Angebranntem. Festgebrannte Eiweiß-Fett-Gemische lösen sich nicht durch Einweichen, auch wenn der Topf eine Woche im Wasser steht. Da hilft nur mechanische Energie – schrubben und schaben.
Natürlich kann man auch da geltend machen, dass es sich um hinhaltendes Einweichen handelt, weil die Schrubbarbeit gerade nicht zu leisten ist. Aber: Aus den Augen, aus dem Sinn. In den Ganglien des anderen Haushaltes vergessen. Der tri-lemmatischen Entscheidung einer nachhaltigen Haushaltsführung überlassen. 1. ich kratze das angebrannte Backblech sauber und bin beleidigt; 2. ich versuche es zu ignorieren, warte ab und bin unruhig; 3. ich erinnere an die Säuberung und habe ein mieses Gefühl, weil ich Druck ausübe.

Das Einweichen bildet einen sogenannten Schlupf, eine ausgleichende zeitliche Verzögerung zwischen zwei unterschiedlichen Teilen eines Antriebssystems. Da wo verschiedenartige Teile ineinandergreifen, ist der Schlupf unvermeidlich. Das beschäftigt mich schon lange, weil dieses in technischen Vorgängen beobachtete und berechenbare Phänomen in sozialen Zusammenhängen genau so eine Rolle spielt. Hier ist es der Schlupf zwischen vorhaltiger und nachhaltiger Haushaltsführung, der mit Einweichen überbrückt wird.
Das heißt: Einweichen muss geduldet werden, aber die Erinnerung an die End-Reinigung auch!

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