vonMesut Bayraktar 18.04.2019

Stil-Bruch

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In Oberösterreich, an einem abgelegenen Ort östlich von Linz, liegt am Fuß des Frankenbergs ein Dorf namens Gusen im Gemeindegebiet Langenstein. Das Dorf umfasst gut 260 Gebäude mit etwa 850 Einwohnern. Es ist ein kleines Dorf, das einen großen Schatten wirft, bis heute. Dort steht die Gedenkstätte Memorial Gusen. Denn nach dem »Anschluss« Österreichs an das deutsche Reich wurde dort ab 1938 ein Konzentrationslager mit einem Tunnelsystem durch die Nazis errichtet, wo bis zu 45.000 Menschen ermordet wurden. Der Roman „Siehst du mich?“ von Barbara Stengl entfaltet hier seinen Inhalt, nicht im Damals, sondern im Heute. Dabei verbindet Stengl Vergangenheit mit Gegenwart und zeigt, dass der große Schatten Gusens sich auf drei Generationen erstreckt – Großmutter, Mutter und Nina.
Stengls Debütroman ist klug, weil er tief gräbt. Wenn sich sozialer Raum mit Zeit Schicht auf Schicht türmt, folgt darauf Ge-schichte. Je tiefer man gräbt, desto härter wird der Grund, in den man eine Schaufel rammt. Zuweilen stößt man auf eine dicke Wurzel, zuweilen auf Granit. Diese Erfahrung macht man bei der Lektüre von „Siehst du mich?“. Sie wühlt auf, fegt den Staub auf unangenehmen Erinnerungen weg, umstülpt verbrannte Erde, beleuchtet finstere Tunnel und sucht die Konfrontation, der schließlich nicht auszuweichen ist.

Die Gegenwart ist das Tableau der Geschichte

So spielt der Roman von Stengl in einer Aufbahrungskapelle. Nina und ihre Großtante Resl stehen sich gegenüber. Sie halten bis zur Morgendämmerung Totenwache. Zwischen ihnen liegt Ninas Mutter in einem offenen Sarg. Die Mutter, eine Kettenraucherin, die zwischenzeitlich als Wahnsinnige abgetan wurde, ist an Krebs gestorben, ohne ein Wort über ihre Krankheit an die Tochter verloren zu haben. Dieses Wort sucht die Tochter, der Jahre hinweg vorenthalten wurde, warum sie als Kind bei ihren Großeltern aufwachsen musste und was ihre Mutter zur Abtrünnigen gemacht hatte. Früh wird klar, dass dieses Wort, geschrieben in der Sprache der Schuld, hinter verschlossenen Riegeln der Großtante Resl verwahrt wird. Das zweite Kapitel besteht aus 5 Zeilen. Dort ist das gesuchte Wort. „Von weit weg kam dieses Wort, aus einer anderen Schicht kam es. Es war ein einfaches Wort, das da auftauchte: deshalb.“ In der Kapelle wird sich dieses Adverb, das Ninas Großmutter und Mutter als Geheimnis mit ins Grab genommen haben, zwischen ihr und der Großtante unter Einbeziehung raffinierter Rückblenden zu einer Odyssee der Selbsterkenntnis entfalten. Dabei sind die Verwandten umringt von den Mauern einer Kapelle, dessen Steine, wie die Großtante bemerkt, von der Lagermauer des Konzentrationslagers stammen – die Geschichte ummauert sie, ummauert Giesen, Österreich, die Welt. Das Mauerwerk wirft das klanglose Echo der Stimmen zurück, auch der eigenen, und versetzt Nina einen Schrecken. Damit nähert sich Stengl in ihrem Roman einem organischen Begriff der Geschichte an und tritt postmodernen Mythenbildnern in der Literatur entgegen.

Stengls Sprache zeichnet sich mit Sätzen von intimer Kürze aus. Sie macht die Ferne nah und die Nähe fern. Sie zeigt, wie das Gewebe des Nationalsozialismus sich bis in die kleinsten Winkel menschlicher Beziehungen in der Gegenwart fortwebt, besonders im Umgang mit der massigen und starrköpfigen Bäuerin Resl, die im österreichischen Dialekt spricht. Durch die Rückblenden überlappt Stengl mehrere Zeitebenen und entwickelt eine multipolare Gegenwart, in der die Vergangenheit wirkt und Furchen in die Gesichter der Lebenden schlägt. Die Gegenwart ist das Tableau der Geschichte. Mit Hegel ließe sich auch sagen, dass die Barbarei der Nazis in der kleinen Kapelle in Gusen aufgehoben ist, d.h.: aufbewahrt, verneint und hochgehoben.

Sehen ist Wissen

Der Titel des Romans ist auf einen arabischen Gelehrten zurückzuführen, der ebenfalls von Stengl erwähnt wird, nämlich Abu Al al-Hasan Ibn al-Haitham (965 n.u.Z. im Irak geboren und 1040 in Ägypten gestorben). Bekannt ist Alhazen für seine Sehtheorie, mit der er die Überlegungen von Platon und Aristoteles hinter sich ließ. Nach Alhazen findet das Sehen weniger in den Augen als vielmehr im Gehirn statt. Was man sehe, werde von persönlichen Erfahrungen beeinflusst. Dem fügt Barbara Stengl hinzu, dass die Augen das Tor zur Seele seien, mithin mehr als bloß ein optischer Vorgang. „Sehen ist Wissen“ – ruft die Erzählerin in einem Kapitel. Vor diesem Hintergrund stellt die Dokumentarfilmemacherin Nina, die Hand ihrer Großtante haltend, die Frage: „Siehst du mich?“ Dieses visuelle Wissensbedürfnis macht den Leser zum Komplizen von Nina, die schließlich Antworten dafür findet, warum die Frauen in ihrer Familie Zielscheibe faschistischer Männergewalt waren.

Barbara Stengls Debütroman ist mutig, ernst, authentisch und gerade deshalb realistisch. Man darf hoffen, dass weitere Romane in dieser Perspektive folgen werden.


Barbara Stengl: „Siehst du mich?“ Europa verlag, 264 S., geb. 18 €.

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