vonAlexander Jeuk 02.06.2023

Alexanderplatz

Alexander Jeuk schreibt zu Politik, Ökonomie, Philosophie und Wissenschaft. Immer für die 99%.

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Klimaschutz ist populär. Der überwältigende Teil der Weltbevölkerung unterstützt ökonomische Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung, auch wenn wir das nicht immer so sehen mögen. Unter den Menschen, die in Deutschland leben, ist die Klimakrise eine der drei größten Sorgen. Das heißt, die Menschen in Deutschland nehmen den Klimawandel durchaus sehr ernst.

Vor diesem Hintergrund mag es paradox erscheinen, dass so wenig hinsichtlich Klimawandel von staatlicher Seite geschieht als auch dass die Aktionen von KlimaaktivistInnen, wie die der Letzten Generation, von der Bevölkerung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt werden. Denn wenn man Klimawandel ernst nimmt, scheint es nur rational zu sein, auch möglichst viel zu tun, um diesen aufzuhalten.

Schaut man aber ein wenig genauer hin, findet man, dass das Verhalten unserer Mitmenschen nicht nur nicht paradox ist, sondern dass die Gründe für das konstante Fehlen der Klimapolitik als auch der Missmut über Klimaproteste anders zu verorten sind.

Im Folgenden zeige ich, dass politische und wirtschaftliche Macht, die über Klimapolitik entscheidet, unter jetzigen, neoliberalen Bedingungen nicht in den Händen von uns liegt. Daher kann man, bei jetzigem Systemstand, nur sehr bedingt unseren Mitmenschen für Klimapolitik Verantwortung und damit auch paradoxes Verhalten zuschreiben.

Ebenfalls zeige ich, dass sobald die Richtigen für Klimawandel und Klimapolitik identifiziert und verantwortlich gemacht werden, nämlich Superreiche, Investoren und Großkonzerne, breite Unterstützung in der Bevölkerung für gute Klimapolitik zu erwarten ist.

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Wo liegt die Macht?

Die Idee vom Klimaparadox kommt unter anderem dann auf, wenn man folgendes denkt.

1) Kauf- und Konsumverhalten bestimmen, was produziert wird. Würden wir anders kaufen und konsumieren, dann wäre unsere Gesellschaft klimafreundlicher. Würden unsere Mitmenschen mehr an den Klimawandel denken, dann würden sie anders konsumieren und wir hätten eine klimafreundlichere Wirtschaft, vom Energie- bis zum Transportsektor. Von klimafreundlichen Fabriken bis Lieferketten.

2) Wir leben in einer Demokratie. Wahlen bestimmen, wer an der Macht ist. Würden wir für klimafreundliche Politik wählen, hätten wir klimafreundliche Politik. Jedoch haben wir diese nicht. Das reflektiert scheinbar einen Widerspruch zwischen den Sorgen der Menschen und ihrem Wahlverhalten.

Beide Annahmen sind erst mal nachvollziehbar und scheinen plausibel. Dennoch möchte ich gerne dazu einladen, aus klassisch linker Perspektive diese Annahmen infrage zu stellen.

Mechanismen der Marktmacht jenseits von Konsumvorlieben

EinzelkonsumentInnen haben im Kapitalismus, zumal im neoliberalen Finanzkapitalismus, der sich zunehmend von lokaler Produktion unabhängig gemacht hat, wenig Kaufkraft und Marktmacht. Marktmacht haben primär MarktteilnehmerInnen, die Vermögen oder Kapital besitzen, die über Information verfügen und die koordiniert agieren können, basierend auf den zuvor genannten Faktoren.

Marktmacht gegenüber anderen Firmen wird bestimmt durch Dinge wie Skaleneffekte in der Produktion, Monopol- oder Oligopolpositionen, sogenannte first mover advantages und viele andere Faktoren. Also Faktoren, die nichts mit der Güte des Produkts zu tun haben, sondern mit firmeninternen Prozessen oder Einflußnahme auf Konsumverhalten, wie Marketing und Werbung.

Ein nicht unwesentlicher Teil der Business-Strategie von Großunternehmen dreht sich darum, eben jene Marktmachtvorteile gegenüber anderen zu erreichen, sodass man Konsumenten und anderen Firmen die Spielregeln aufzwängen kann, sodass man anderen Preise und Löhne diktieren kann.

Um diesen Punkt klarzumachen: All die oben genannten Faktoren haben massiven Einfluß auf Marktmacht. Wer Verkäufern, wie Supermärkten, aufzwingen kann, was in die Läden kommt, z.B. aufgrund von Preisvorteilen bei der Produktion von Gütern durch Skaleneffekte, bestimmt mehr, was verkauft wird, als wir durch unsere Kaufinteressen. Zumal diese sowieso davon abhängig sind, was in einem Laden ausgestellt wird, da wir nicht direkt auf einzelne oder kollektive Weise genaue Produktionswünsche äußern können.

Einzelkonsumenten haben nur sehr wenig Marktmacht

Wenige klimafreundliche Unternehmen haben Marktmacht in diesem Sinn, EinzelkonsumentInnen, einschließlich BesserverdienerInnen, so gut wie gar nicht.

Alleine schon aus dem Grund, da wir untereinander nur wenig Kapital und Informationen besitzen—man denke an die Informationen über Konsumverhalten, die Unternehmen wie Apple, Alphabet (google) oder Amazon besitzen, die mit ihren Online-Shops und App Stores im eigentlichen Sinne des Wortes ganze Weltmärkte besitzen.

Auch haben wir nur wenig Marktmacht, da es für uns viel schwieriger ist, im Vergleich zu Konzernen, zusammen koordiniert und geplant zu handeln, um so unser ökonomisches Verhalten abzustimmen. Hierin liegt vielleicht die zentralste Macht von Großkonzernen, im Vergleich zu unserer Ohnmacht.

Aus klassisch linker Sicht ist das klar. Nicht ärmere Menschen, DurchschnittsverdienerInnen oder BesserverdienerInnen haben herausragende wirtschaftliche Macht; also die Menschen, die der Arbeiterklasse angehören, in dem Sinn, dass sie für ihr Einkommen Lohnarbeit auf einem Arbeitsmarkt nachgehen müssen. Nicht mal die meisten „Durchschnitts“-Reichen haben viel Marktmacht.

Marktmacht besitzt die Kapitalistenklasse (Superreiche, Großkonzerne, Investoren); eben jene, die wirtschaftliche Macht haben, da sie Unternehmen und Organisationen besitzen, häufig in Form von Aktienbesitz. Damit bestimmen sie, unter welchen Bedingungen wir arbeiten, was produziert wird, wie viel produziert wird, usw.

Auch gehört zu dieser Macht, überschüssig erwirtschaftetes Geld nutzen zu können, um mit Lobbying und anderen Formen der legalen und illegalen Korruption Einfluss auf Politik und Medien zu nehmen.

Marktmacht Propaganda

Wir laufen Gefahr, der kapitalistischen Propaganda zu erliegen, wenn wir annehmen, dass wir als EinzelkonsumentInnen hinreichend Marktmacht haben. Kapitalisten behaupten gerne, dass sie nur produzieren, was wir konsumieren wollen. Hiermit verschleiern sie aber die eigentliche Verteilung von Macht, und die Verantwortung für ihr Handeln wälzen sie auf uns ab.

Das ist perfektionierte Propaganda—eine perfide Mischung aus victim blaming und gaslighting: Nicht nur wird uns schwer gemacht, zu sehen, wer wirklich verantwortlich für die Klimakrise ist, sondern wir gehen uns untereinander an, weil wir uns selbst für verantwortlich halten.

Das birgt das Risiko, unsere Mitmenschen für die Klimakrise verantwortlich zu machen, ihnen gar paradoxes Verhalten zuzuschreiben. Jedoch liegt die eigentliche Verantwortung bei der Kapitalistenklasse, und jenen PolitikerInnen, die Macht an diese abgegeben haben.

Politische Macht in der neoliberalen, parlamentarischen Demokratie

Ähnlich steht es um politische Macht. Sicherlich haben wir Einfluss auf Wahlen, aber dies ist ein sehr minimaler Einfluss. Schauen wir nur über die Grenze in die Schweiz, sehen wir, wie WählerInnen deutlich mehr Einfluss auf das politische Geschehen haben, durch Volksentscheide, also direkte Demokratie.

Natürlich kann Demokratie auch weit hierüber hinausgehen. Demokratie sollte direkt auf alle Gesetze Einfluss haben, auf alle exekutiven Entscheidungen und, wie viele Linke argumentieren, auch in Firmen und Organisationen Einkehr finden.

Mein Punkt hier ist, dass vor dem Hintergrund eines idealen Demokratieverständnisses der Einfluss der Bevölkerung auf Politik in Deutschland minimal ist, und dass dies auch absichtlich so ist.

Dieser ohnehin marginale Einfluss wird noch minimaler, wenn man bedenkt, dass Politik in den letzten 40 Jahren, dank der neoliberalen Revolution, ihre Kontrolle über das wirtschaftliche Leben so gut wie aufgegeben hat. Das heißt, PolitikerInnen haben heute kaum noch Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen, die man Großkonzernen und Superreichen überlässt.

Natürlich ließe sich das jederzeit umkehren, aber solange das nicht geschieht, können wir unsere Mitmenschen auch nicht für einen Mangel an guter Klimapolitik verantwortlich machen. Daher muss aber auch gleichzeitig unser primäres Anliegen sein, wieder politische Macht über ökonomische Prozesse zu gewinnen.

Umkehrschluss

Ich lade hier zu einer Art Umkehrschluss ein. Anstelle Konsum- und Wahlentscheidungen als eigentliche TrägerInnen ökonomischer und politischer Macht zu identifizieren, sollten wir die Ideen ins Auge fassen, dass wir mit unserem Konsumverhalten keine große Wirkung auf Klimapolitik haben. Auch sollten wir überdenken, ob wir in einer besonders demokratischen Gesellschaft leben.

Falls wir zu einem negativen Urteil kommen, müssen wir einsehen, dass wir momentan nur wenig politischen Einfluss auf Klimapolitik haben. Das soll nicht heißen, dass wir keine politische Macht haben. Im Gegenteil. Wir müssen diese aber politisch umsetzen und einfordern.

Wenn wir die Ideen zurückweisen, dass wir viel Konsum- und politische Macht haben, löst sich auch das vermeintliche „Klimaparadox“ auf. Denn der Mangel effektiver Klimamaßnahmen geht nicht auf widersprüchliches Verhalten der Bevölkerung zurück, sondern auf das Agieren der Kapitalistenklasse, die uns weismachen will, dass wir widersprüchlich, irrational handeln.

Wer trägt die Last?

Auf ähnliche Weise löst sich das scheinbare „Klimaparadox“ auf, wenn wir darüber nachdenken, warum viele Mitmenschen nicht gut auf Klimapolitik zu sprechen sind oder Klima-Aktivismus wie den der Letzten Generation ablehnen.

Wie viele Studien gezeigt haben, sind die meisten Menschen durchaus für nachhaltige Klimapolitik, nur beharren sie darauf, dass die Reichen die Last hierfür tragen sollen. Aus linker Sicht kann man hier eigentlich nur zustimmen.

Wer zahlt für Klimapolitik?

Die letzten 40 Jahre Neoliberalismus haben eine massive Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen mit sich gebracht, zugunsten von Superreichen und Großinvestoren. Superreiche verursachen im Schnitt das tausend– bis millionenfache an CO2 Ausstoß im Vergleich zu DurchschnittsverdienerInnen.

Aber vor allem bestimmen sie ökonomische Aktivität: Also, wie und was produziert wird, wie Waren transportiert, verkauft und verteilt werden, welche Energieträger genutzt werden, usw. Eben jene ökonomisch-industrielle Aktivität, die primär für CO2 Ausstoß verantwortlich ist—im Gegensatz zum individuellen Konsum von Arbeiterklassemitgliedern, den die Kapitalistenklasse durch Marktmacht ohnehin mitbestimmt.

Verantwortung und Ursächlichkeit für Klimawandel und gesellschaftliche Prozesse stecken in der direkten Macht und Kontrolle über Produktion („Produktionsmittel“), nicht im Privatkonsum. Das ist einer der klassischsten Lehrsätze linker Wirtschaftspolitik. Und so macht es auch nur Sinn, dass die Kapitalistenklasse für die Konsequenzen dieser Produktionsaktivität aufkommt.

Jedoch, viele der Vorschläge, Klimapolitik ökonomisch zu gestalten, schränken primär die Arbeiterklasse ein. Ich glaube, dass dies dem Umstand geschuldet ist, dass viele BWL- und VWL-Institute, aus denen diese Vorschläge kommen, von neoliberalen Ökonomen übernommen wurden, die als Teil der neoliberalen Revolution Klientelpolitik für Superreiche und Großkonzerne betrieben haben.

Daher sind viele der heutigen Klimapolitikvorschläge durch Neoliberalismus verdorben, in dem Sinne, dass diese Vorschläge Arme, Durchschnitts- aber auch BesserverdienerInnen überproportional belasten, nur nicht die Kapitalistenklasse. Auch sind viele Klimapolitikvorschläge ineffektiv, da sie nicht die Macht der Großkonzerne und Superreichen angehen.

Daher sträuben sich viele Menschen, wieder aus linker Perspektive zu guter recht, gegen Standardvorschläge, wie man ökonomische Klimapolitik zu betreiben habe: Klimapolitik, die vor allem ärmere Menschen und immer ärmer werdende DurchschnittsverdienerInnen ökonomisch einschränkt.

Gegen wen richtet sich Klimaprotest?

Ein ähnliches Problem scheint den Missmut so vieler Menschen über die an sich guten und gerechtfertigten Proteste, z.B. seitens der Letzten Generation zu erklären. Viele Formen des Klimaprotests, einschließlich jene der Letzten Generation, richten sich ungewollt, leider häufig gegen die Arbeiterklasse, z. B. dann, wenn man Straßen blockiert. Eben gegen jene Mitmenschen, die weitaus weniger politische und ökonomische Macht haben, als uns weisgemacht wird.

Eben jene Mitmenschen, die durch die neoliberale Revolution immer schlechtere Leben führen müssen. Das heißt, der Missmut über die Protestformen der Letzten Generation erwächst, da sie sich wieder ungewollt gegen die Leute richtet, die mit am wenigsten Macht haben.

Daher sollte sich der Protest gegen die Richtigen wenden; gegen jene, die tatsächlich Macht haben: Superreiche, Großkonzerne, Investoren, Politiker und ihre Think Tanks und Lobbyagenturen—die Kapitalistenklasse und ihre Machtinfrastruktur.

Genauso wie der Großteil der Bevölkerung ökonomische Maßnahmen unterstützt, wenn sie durch Superreiche und Großkonzerne getragen werden, ist zu vermuten, dass auch der Klimaprotest mitgetragen wird, wenn er sich gegen die eigentlichen Verantwortlichen richtet.

Zurück zu klassisch linker Politik

Linke Politik war immer dann am stärksten, wenn sie die Richtigen beschützt und die Richtigen bekämpft hat. Beschützen muss sie die 99 % der Bevölkerung, also die Arbeiterklasse, bekämpfen die Macht der 1 %, also die Superreichen und Großinvestoren, die ökonomische Aktivität gestalten, da sie Großkonzerne und Firmen besitzen und entsprechend lenken. Am besten werden wir dies tun, in dem wir Großkonzerne regulieren und massiv staatliche Industriepolitik betreiben, z.B. nach dem Vorbild des Green New Deal.

Wie Michael Brooks zu Recht meinte,“be ruthless with systems, be kind to people”, also, gehe gütig mit Menschen um, aber hart und unnachgiebige mit Systemen. Gütig, besorgt und mitfühlend mit unseren Mitmenschen, hart und unnachgiebig mit dem neoliberalen kapitalistischen System, das uns der Klimakatastrophe zuführt.

Hieran müssen wir uns auch im Falle von Klimapolitik und Aktivismus erinnern. Tun wir dies, löst sich auch das vermeintliche „Klimaparadox“ auf.

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