vonAlexander Jeuk 26.05.2023

Alexanderplatz

Alexander Jeuk schreibt zu Politik, Ökonomie, Philosophie und Wissenschaft. Immer für die 99%.

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Lesezeit ungefähr 12 Minuten.

Neoliberalismus hält die Welt seit 40 Jahren in seinem eisernen Griff—er verhindert die Bekämpfung des Klimawandels, führt wie der Liberalismus der 1920er und 1930er-Jahre zu ökonomischem und psycho-sozialem Elend, mit der gleichen Konsequenz wie damals: der Aufstieg des Faschismus, dem er teilweise sogar applaudiert. In vielerlei Hinsicht ist er hauptverantwortlich für die katastrophalen Zustände, die auf uns zukommen.

Obwohl linke AkademikerInnen Neoliberalismus gerne als Sammelbegriff für alles Schlechte nutzen, was heute passiert, kommt er im öffentlichen Diskurs kaum vor. Während in der englischsprachigen Welt Neoliberalismus immer mehr als Ursache für unsere zentralen Probleme identifiziert wird, einschließlich Rechtspopulismus, wird er im deutschsprachigen Raum weniger thematisiert. In der Tat, nur wenige wissen, was Neoliberalismus ist.

Und hierin besteht die besondere Gefahr. Um etwas zu überkommen, muss man wissen, was es ist, was es tut und dass es überhaupt da ist. Aus diesem Grund hält sich Neoliberalismus aus dem öffentlichen Auge.

Neoliberalismus wirkt durch Think Tanks, Lobbying, direkte Korruption, Universitäten und corporate Massenmedien, jedoch tritt er selten namentlich zum Vorschein. Er ist keine Ideologie für die Massen, sondern die Herrschaft der Reichen.

Angeblich geht es ihm um selbst-regulierte Märkte und individuelle Freiheit. Aber wirklich kennt Neoliberalismus nur jene „Märkte“, die für Reiche funktionieren—denn freie Zusammenkünfte von Arbeitenden, wie Gewerkschaften, zerschlägt er gerne, ist ein Freund von Monopolen und nutzt Notenbanken, kollabierende Banken, Großaktionäre und Investoren zu finanzieren.

Der Freiheitsbegriff des Neoliberalismus ist der des bürgerlichen Liberalismus: Reiche und jene, die reich werden wollen und können, dürfen mit dem Rest von uns machen, was sie wollen. Es geht nicht um die Freiheit, leben zu können, wie man will, sondern Geschäfte zu machen, wie man will.

Und wie die aktuellen Razzien gegen die Letzte Generation oder das Verfolgen von Tierrechtsaktivisten in den USA als Bioterroristen zeigen, verlangt er nach starker staatlicher Macht, um Meinungs- und Demonstrationsfreiheit zu unterbinden, wenn es der Herrschaft der Reichen zugutekommt. Dahingegen unterminiert er staatliche Macht und verlangt nach einem möglichst kleinen Staat, wenn es darum geht, durch Wirtschafts- und Industriepolitik Wohlstand für die Massen zu generieren und Klimaschutz zu betreiben.

Jenseits aller Ideologie wirkt Neoliberalismus durch eine Mischung aus ökonomischer Expertenherrschaft (Technokratie) und versteckter Propaganda, die uns weismachen will, dass es keine realistische Alternative zu ihm gibt.

Im Folgende gebe ich eine Übersicht über die verschiedenen Dimensionen des Neoliberalismus und zeige auf, warum es so wichtig ist, dass wir ihn überkommen.

Was ist Neoliberalismus? Die Herrschaft der Reichen

Die einfache Antwort hierauf ist, dass die Konsequenz und Funktion von Neoliberalismus darin bestehen, die absoluten Eliten unserer Gesellschaften—die sogenannten 1%—zu bereichern und ihnen Macht zukommen zu lassen. Neoliberalismus ist die Herrschaft der Reichen oder Plutokratie. Wie der bürgerliche Liberalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kennt er nur die Freiheit der Reichen und solcher, die es werden wollen.

Er gibt Eliten Macht, unsere Gesellschaft nach ihrem Antlitz zu gestalten. Macht, ökonomische Aktivität zu diktieren in Bezug darauf, wie wir arbeiten, leben und was produziert wird. Man kann über die intellektuellen Ursprünge von Neoliberalismus streiten, darüber, wie er beeinflusst und herrscht oder über seine konkreten Charakteristika. Aber im Ende läuft alles auf diese Konsequenz hinaus: Neoliberalismus ist die Herrschaft der Reichen.

Um seine Ziele zu realisieren, scheut Neoliberalismus vor kaum etwas zurück. Klimakollaps? Sofern die Bekämpfung des Klimawandels Elitenmacht beschränkt, wird er hingenommen. Besser tot als rot. Und manche Reiche träumen schon von ihren Bunkern oder Marssiedlungen, wohin sie sich im schlimmsten Fall zurückziehen können.

Zusammenbruch gesellschaftlicher Solidarität und Massenentfremdung, die Faschismus begünstigen? Sofern Gegenmaßnahmen die Elitenmacht beschränken, akzeptiert so mancher Neoliberale Faschismus. Denn FaschistInnen lassen meist die Basis ökonomischer Macht—die Karl Marx zurecht als eigentliche Basis aller Formen gesellschaftlicher Macht identifiziert hat—unangetastet. In diesem Sinne dankte bereits der neoliberale Ökonom Ludwig von Mises den Faschisten Europas dafür, dass sie die Ausbreitung des Kommunismus verhindert hatten.

Auch vor faschistischer Militärherrschaft gegen demokratische Regierungen schreckt Neoliberalismus nicht zurück, wie z. B. in Allendes Chile in den 1970ern. Solange es dazu führt, dass Firmen nicht verstaatlicht werden, prima!

Pinochets faschistische Militärdiktatur gilt als vielleicht erster neoliberaler Staat, der den ökonomischen Anweisungen der neoliberalen Galionsfigur Milton Friedman und seinen „Chicago Boys“ folgte. Und Friedman sowie der einflußreiche neoliberale Philosoph und Ökonom Friedrich von Hayek besuchten Chile mehrere Male während der Diktatur, und sprachen persönlich mit Pinochet. In den 1990ern fand Pinochet Asyl in Großbritannien—in dem Land, in dem Julian Assange heute unter unmenschlichen Bedingungen eingekerkert ist.

Nicht nur das, die politische Gründermutter des Neoliberalismus, Margaret Thatcher, besuchte Pinochet während seines Asyls und forderte seine Freilassung. Das heißt, die Mehrzahl der bedeutenden politischen und ideologischen GründerInnen des Neoliberalismus hatten ein freundliches persönliches Verhältnis zu einem faschistischen Militärdiktator, der eine friedfertige, gewählte linke Regierung mit einem der größten Hoffnungsträger Südamerikas überworfen und dann brutal unterdrückt hatte.

Divide et impera: Wie Neoliberalismus die Gesellschaft spaltet, um zu Herrschen

Auch wenn linke KritikerInnen Neoliberalismus gerne mit Konservatismus gleichsetzen, so nützt er nicht einzelnen Staaten oder Gemeinschaften. Im Gegenteil, er interessiert sich weder für partikuläre Nationalstaaten noch eine spezielle Kultur oder Gemeinschaft. Er ist in diesem Sinne nicht konservativ. Er kennt nur die Bereicherung und Machtsteigerung der Eliten. Er ist für die 1 % und gegen die 99 %.

Dennoch gibt es sich gerne ein konservatives Gewand, speziell in den USA und Großbritannien, allen voran in den politischen “Vorzeigefiguren“ Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Obwohl gerade sozialkonservative Menschen mit geringem Einkommen und Wohlstand besonders stark unter Neoliberalismus leiden, wissen Neoliberale, Konservative geschickt auszuspielen, indem sie Migranten oder andere Staaten wie z. B., China, für die ökonomische Misere verantwortlich machen, die sie selbst herbeiführen.

So stachelt Donald Trump seine AnhängerInnen an, indem er China für die Deindustrialisierung und zunehmende Verarmung der Massen verantwortlich macht—eben genau jene Phänomene, für die neoliberale Wirtschaftspolitik verantwortlich ist.

Der Neoliberalismus kann aber auch im linken Gewand daherkommen, wie die Fälle Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder zeigen. So meinte Margaret Thatcher, dass ihr größter politischer Erfolg New Labour sei, womit sie meint, dass sie es geschafft habe, der Labour Party, also Großbritanniens klassisch sozialistisch-sozialdemokratischer Partei, Neoliberalismus aufzuzwingen.

Und die vielleicht neoliberalsten Reformen, die Deutschland seit der Nachkriegszeit sah, bestehen in Schröders Agenda 2010. Diese Reformen wurden von der SPD und den Grünen, nicht der CDU und der FDP getragen und umgesetzt. Und bis heute leidet die SPD daran, dass sie nicht zu ihren alten wirtschaftspolitischen Stärken bzw. einer Neuinterpretation dieser zurückkehrt. Der Neoliberalismus kann aber auch scheinbar überparteilich daherkommen, wie in Macrons Frankreich.

Das heißt, seien es linke oder rechte Parteien, neoliberales Gedankengut hat sich fast überall eingenistet und durchgesetzt. Manche rechte und linke Parteien unterscheiden sich seit Jahrzehnten nicht mehr primär gemäß ökonomischer Trennlinien. Das sehen wir besonders gut in den USA, wo sich Demokraten und Republikaner die heftigsten Gefechte über viele mögliche Themen liefern, mit Ausnahme zentraler Fragen, die ökonomische und damit gesellschaftliche Macht betreffen.

Gerade in den USA sieht man das Zusammenspiel zwischen Neoliberalismus, Rechtspopulismus und Neofaschismus besonders gut. So wusste das neoliberale Establishment um Hillary Clinton, dass Bernie Sanders deutlich bessere Chancen gehabt hätte, Donald Trump zu schlagen. Aber man nimmt eher Rechtspopulismus und die Drohung von Faschismus hin, als dass man auch nur den Hauch von Sozialdemokratie akzeptieren würde. Und so hatte man sich entschieden, mit Hillary Clinton eine wirtschaftsfreundliche Neoliberale aufzustellen.

Trump lässt die neoliberale Wirtschaftsordnung mehrheitlich intakt, die SozialdemokratInnen um Sanders nicht. Und so spielen die Neoliberalen in der demokratischen Partei konstant mit der Drohung des Faschismus. Entweder ihr wählt uns und werdet weiter ausgebeutet, oder ihr bekommt Faschismus. Neoliberale haben scheinbar mit Faschismus weitaus weniger Probleme als mit Sozialismus oder auch nur einer schwachen Form von Sozialdemokratie, die basale Arbeiterrechte und Gesundheitsversorgung einfordert. Das heißt, das Muster, das wir aus Chile kennen, wiederholt sich selbst in den USA, wenn auch auf andere, demokratischere Weise.

So hat es der Neoliberalismus nicht nur geschafft, vielen linken Parteien seine wirtschaftliche Doktrin aufzudrängen, sondern auch die 99 % der Bevölkerung, denen neoliberale Wirtschaftspolitik schwer schadet, gegeneinander auszuspielen: Häufig, indem er starke Trennlinien gemäß sogenannter „Kulturkampf“ Themen schafft.

Anstelle, dass die 99 % sich darum bemühen, zusammen gegen die Herrschaft der Reichen zu agieren, zerfallen sie in mehrere Lager, die Wirtschaftspolitik außer Acht lassen und sich gegenseitig anfeinden, meistens wegen Konsequenzen, die der Neoliberalismus politisch selbst herbeigeführt hat. Das soll nicht heißen, dass „Kulturkampfthemen“ unwichtig sind oder dass es keine relevanten Trennlinien zwischen linker und rechter Politik über Wirtschaftspolitik hinaus gibt.

Aber vielleicht sollte man sich zuerst darum bemühen, die eigentliche Machtbasis der Gesellschaft, nämlich ökonomische Macht, zu demokratisieren. Von dort aus kann man sich anderen Themen zuwenden, mit neuen ökonomischen und politischen Gestaltungsmöglichkeiten. Und so scheint es auch nicht unwahrscheinlich, dass viele Probleme um Kulturkampfthemen herum sich auflösen mögen, sobald die Gesellschaft ökonomisch demokratischer und allgemeinwohlorientierter sein sollte.

Viele Kulturkampfthemen leben von dem Gefühl gerade sozial konservativer Menschen im Stich gelassen worden zu sein, unfair behandelt zu werden oder ihren generellen Zukunftsängsten. Wenn wir eine fürsorglichere, gerechtere Gesellschaft auf ökonomischer Machtbasis kreieren, mögen diese Sorgen und ihr Ausdruck in Kulturkampfthemen abebben.

In diesem Sinne sollten wir uns an Marx Diktum erinnern, dass viele gesellschaftliche Probleme auf ökonomischen Problemen beruhen. Löst man die ökonomischen Probleme, löst man nicht selten die gesellschaftlichen Probleme. Aber Letzteres heißt, sich primär darauf zu fokussieren, Neoliberalismus zu überkommen.

Sozialdemokratischer Konsensus bis in die 1980er

Der Erfolg des Neoliberalismus ist nichts weniger als beeindruckend. Denn seit Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 1980er wurden die meisten westlichen Staaten eigentlich durch eine Art sozialdemokratischen Konsensus regiert. Selbst konservative Parteien wie die CDU / CSU wurden in der Nachkriegszeit durch starke sozialdemokratische Prinzipien geleitet, die vielerorts mit christlicher Soziallehre verbunden wurden.

In den USA und Großbritannien waren es keynesianische Prinzipien, nach denen die dortigen Ökonomien gesteuert wurden. Selbst Richard Nixon, das einstige Feindbild der amerikanischen Linken, bezeichnete sich als Keynesianer. Frankreich und Italien hatten riesige sozialistische und kommunistische Parteien und betrieben intensiv Industriepolitik, kombiniert mit dem Aufbau gewaltiger Sozialstaaten.

Dieser sozialdemokratische Konsensus—den KapitalistInnen oft fälschlicherweise „das Goldene Zeitalter des Kapitalismus“ nennen—hat zu beispiellosem ökonomischen und sozialen Fortschritt für die Massen geführt. Die ökonomische und soziale Mittelschicht entstand, Armut war auf dem Rekordtief, und ärmere Menschen konnten auf einen gut-funktionierenden Sozialstaat zurückgreifen.

Größere Gleichheit entstand auf allen Ebenen—von Einkommen über Vermögen bis Bildung. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte kamen Massen in den Genuss höherer Bildung, dank gewaltiger Ausgaben für Erziehung und den Aufbau des Universitätssystems, das vorher nur der Bildung kleiner Eliten gedient hatte.

Dieser sozialdemokratische Konsens war eine Antwort auf die ökonomische und sozial-psychologische Verwüstung, die der bürgerliche Liberalismus der westlichen Welt in den 1920er und 1930er-Jahren hinterlassen hatte; Massenarmut und Faschismus vielerorts die Konsequenz.

Die neoliberale Gegenrevolution: Ideologie und politische Einflussnahme im Schatten des öffentlichen Auges

Natürlich war den gesellschaftlichen Eliten der sozialdemokratische Konsensus ein Dorn im Auge. Die Umkehrung dieses sozialen Fortschritts begann durch die sogenannte neoliberale Revolution. Wer für diese primär verantwortlich ist und wie sie solches Momentum gewinnen konnte, ist bis heute im Detail unklar.

Zwar werden Friedrich von Hayek, Milton Friedman und andere Mitglieder der sogenannten Mont Pèlerin Gesellschaft als intellektuelle Gründerväter des Neoliberalismus identifiziert, aber aus linker Sicht kann daran gezweifelt werden, dass neoliberales Gedankengut so überzeugend war, dass es zuerst VWL-Institute an Universitäten und dann die Gesellschaft als solche durchdringen konnte.

Denn obwohl Neoliberale gerne behaupten, dass ihre Wirtschaftspolitik Inflation und Arbeitslosigkeit besser in den Griff bekommt als linke Agenden, spricht historisch so ziemlich alles für das Gegenteil dieser Behauptung.

Das heißt, aus linker Perspektive kann man davon ausgehen, dass neoliberales Gedankengut eine Art Pseudo-Rechtfertigungen („Superstruktur“ nach Marx) für etwas darstellt, was wirklich auf politischer und ökonomischer Macht beruht. Demnach ist die Herleitung und Kritik des Neoliberalismus basierend auf Werken neoliberaler Denker eine Überintellektualisierung des Problems.

Neoliberalismus ist essenziell die Herrschaft der Reichen, Plutokratie. Die Herrschaft der Reichen basiert auf der ökonomischen und politischen Macht der Reichen, nicht auf den Gedanken der Mont Pèlerin Gesellschaft. Eher, wie Marx bereits feststellte, sind „die herrschenden Ideen einer Zeit (…) stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“.

Neoliberalismus herrscht aber auch, weil ExpertInnen, die an Eliteuniversitäten arbeiten oder dort ausgebildet wurden, mit dieser Ideologie ausgestattet, Klientelpolitik betreiben. Weil JournalistInnen, die gleichen Phrasen und Ideen seit Jahrzehnten wiederholen: Es gibt keine Alternative zur Herrschaft der Reichen, d. h. zu ökonomischer Globalisierung und ungeregelter Privatwirtschaft. Das heißt, neoliberales Gedankengut wurde in kleinen Schritten über Jahrzehnte hinweg durch Think Tanks, Lobbying und Universitäten in die Gesellschaft getragen.

Wie hat Neoliberalismus unsere Gesellschaften umgestaltet?

Man kann sich darüber streiten, was neu am Neoliberalismus im Vergleich zu seinem „Vorgänger“, dem bürgerlichen Liberalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist. Auch darüber, was seine Kerncharakteristika sind. Jedoch lassen sich die folgenden Punkte klar herausstellen.

  • Der Staat hat nur die Funktion, die Herrschaft der Reichen zu gewährleisten. Er schwächt Gewerkschaften, privatisiert und dereguliert. Er nimmt der Bevölkerung die institutionellen Mittel, wie Arbeitsschutzgesetze oder Rechtsbeihilfe, sich den Mächtigen zur Wehr setzen. Er unterwirft alles der finanziellen Marktmacht der Großkonzerne und Reichen.
  • Neoliberale unterbinden Industriepolitik. Industriepolitik besteht in einer Reihe von Maßnahmen, mit denen Staaten, Volkswirtschaften planen und pestalten. Durch das Fehlen von Industriepolitik sind Gesellschaften vollkommen auf die ökonomischen Handlungen von Privatakteuren, das heißt konkret, Reichen und Großkonzernen angewiesen. Damit wollen Neoliberale Staaten und Gemeinschaften jedes Mittel nehmen, demokratisch Politik und Ökonomie zu gestalten.
  • Sparpolitik („austerity“) und das Streichen von Staatsausgaben: Das beinhaltet Staatsausgaben für Industriepolitik, aber auch für jede Form von staatlicher Leistung vom Gesundheitswesen, Infrastruktur, Rentenversicherung, Arbeitslosenhilfe usw.
  • Neoliberalismus versucht, alle nicht kommerziellen Formen der Gesellschaft und der Staatlichkeit aufzulösen. Gemäß Margaret Thatchers Behauptung, dass es keine Gesellschaft gäbe. Für Neoliberale gibt es nur individuell profitorientiertes Verhalten. So haben Neoliberale die EU dies hingehend ausgehöhlt, in dem man demokratische Prozesse unterbunden und den Fokus der EU auf Freihandels- und Privatisierungsverträge gelegt hat, die Staaten Industriepolitik verbieten.
  • Entpolitisierung und das Gefühl politischer Ohnmacht unter der Bevölkerung: Es ist schwer zu unterscheiden, wie Neoliberalismus ideologisch herrscht und was er erreichen will. Entpolitisierung und das Gefühl von Ohnmacht sind einerseits Herrschaftsmechanismen des Neoliberalismus, anderseits auch eine Konsequenz der letzten 40 Jahre seiner Herrschaft. Entpolitisierung und Ohnmacht führen natürlich dazu, dass die Bevölkerung sich nicht gegen Neoliberalismus aufbäumt.
  • Neoliberalismus kommt mit einer Form von un-nachhaltigem Hyperkapitalismus, dem Shareholder Kapitalismus. Nach Milton Friedmans Idee vom Shareholder Kapitalismus geht es nur um kurzfristige Profite für Großunternehmen zur Bereicherung der Kapitalistenklasse, bei gänzlicher Missachtung sozial positiver Effekte. Diese Idee ist selbst für den Kapitalismus radikal. Es geht nicht darum, langfristig Firmen aufzubauen, sondern nur darum, kurzfristig Profite zu erwirtschaften, auch wenn das vielerorts ein Scheitern von Unternehmen mit sich bringt. Dieses Verhalten mündet regelmäßig in Wirtschaftskrisen, die nur mit staatlicher Politik eingedämmt werden können, normalerweise auf Kosten der Gesamtbevölkerung.

Warum Neoliberalismus so gefährlich ist. Vom Klimakollaps über Pandemien bis zum Faschismus

Solange Neoliberalismus unsere Gesellschaft ideologisch im Griff hat und wir glauben, dass es zu unregulierten Märkten sowie der Herrschaft der Reichen und Großkonzernen keine Alternative gibt, werden wir unfähig sein, die Klimakatastrophe anzugehen.

Die Klimakrise zu stoppen ist nicht individuell profitabel für Großkonzerne und Reiche—schon gar nicht kurzfristig. Eliten werden uns daher vor dem Klimakollaps nicht retten. Selbst wenn effektive Maßnahmen gegen Klimawandel die Gesellschaft als solche nicht viel kosten und ohne Weiteres zu stemmen sind, so können wir nicht einmal marginale Projekte angehen, weil Neoliberalismus alle ökonomische Aktivität aus der Hand der Gemeinschaft genommen hat.

So hat zum Beispiel die UN berechnet, dass nur 300 Mrd. US Dollar nötig sind, um ökologische Klimaprojekte anzugehen, die einen erheblichen Effekt auf den Klimawandel hätten. Dies ist eine sehr überschaubare Summe, wenn man sie mit den Summen vergleicht, die die Notenbanken seit der Weltfinanzkrise 2007-2008 (subprime mortgage crisis) bis heute für die Rettung der Banken und Finanzmärkte investiert haben, also jener Institutionen, in denen Eliten ihren Reichtum angelegen und mit denen sie ihre Macht ausüben: Ungefähr 20 Billionen US Dollar.

Diese Geldsummen konnten ohne Bedenken generiert werden—sie haben nicht zu Inflation geführt. Aber sie nützten der Herrschaft der Reichen. Diese Geldpolitik für Klimarettung zu betreiben, würde aber zeigen, dass Gemeinschaften ohne weiteres Geld für andere Projekte generieren können. Daher darf dies für Neoliberale nicht geschehen, auch wenn es uns alle dem Klimakollaps entgegenbringt.

Ähnlich waren wir schlecht auf Pandemien vorbereitet. Das Kaputtsparen der Gesundheitssysteme gerade in Südeuropa hat vielen Tausenden Menschen unnötigerweise das Leben gekostet. Und da es keine Umkehr von dieser Sparpolitik im Gesundheitswesen gibt, werden wir auf gefährlichere Pandemien noch schlechter vorbereitet seien.

Auch werden wir, wie bereits in den 1930er-Jahren, einen weiteren Ansturm faschistischer oder zumindest extrem rechter Bewegungen sehen. Ein Phänomen, das wir bereits jetzt in zig europäischen Ländern und den USA beobachten können.

Wie der herausragende sozialistische Soziologe und Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi es feststellte, waren es Liberale schon damals, die durch die sozio-psychologische Sprengung der Gesellschaft und den geistigen und ökonomischen Verfall der Massen den Grundstein für Faschismus legten. In dieser Hinsicht wiederholt sich Geschichte gerade erneut. Ökonomischer und sozio-psychologischer Verfall hat damals die Massen in die Hände der Faschisten getrieben, heute tut er es wieder.

Wie die Beispiele Klimakollaps, Pandemien und Faschismus zeigen, ist Neoliberalismus für Gesellschaften und Staaten selbst-zerstörerisch, genauso wie der bürgerliche Liberalismus der vorherigen Jahrhunderte. Hiervor hat uns ebenfalls schon vor Jahrzehnten Karl Polanyi gewarnt, und wir müssen seine Warnung ernst nehmen.

Denn wenn wir den Neoliberalismus nicht überkommen, haben wir kein Gegenmittel zum Klimawandel, gesellschaftlich-psychologischer Verelendung, Massenarmut und Faschismus. Daher hängt unser Wohl und Wehe davon ab, ihn zu beseitigen. Aber das setzt voraus, überhaupt erst mal zu wissen, dass er da ist, was er ist und wie er funktioniert.

Sorgen um Alternativen zum Neoliberalismus müssen wir uns nicht machen. Alternativen gibt es viele. Hier habe ich ein paar zusammengestellt. Wir müssen uns nur klar machen, dass die jetzige Gesellschaftsform, in der wir leben, neoliberal ist, was sie mit uns macht und dass es Alternativen gibt—insbesondere, da ihre primäre propagandistische Leistung ist, dass es angeblich keine Alternativen zu ihr gibt, womit sie uns macht- und hoffnungslos machen möchte, sodass wir resignieren.

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