„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ hat Helmut Schmidt angeblich mal gesagt. Das gilt zum Glück schon länger nicht mehr. Heute sollte er*sie vielleicht lieber nach São Paulo gehen. Denn während man hierzulande gebannt auf die Farbenspiele der Sondierer*innen blickte, wurde am sechsten Oktober dieses Jahres, knapp zehntausend Kilometer entfernt, ein vielleicht wegweisender Appell verabschiedet und im medizinischen Fachjournal Lancet publiziert: die São Paulo Erklärung zur planetaren Gesundheit. In ihr werden weitreichende gesellschaftliche Umwälzungen gefordert, die verhindern sollen, dass Erde und Mensch aneinander krank werden.
„Wenn wir so weiter machen wie bisher, kann die Gesundheit der Menschheit nicht mehr länger sichergestellt werden“, schreiben die Autor*innen. Wir müssten, „entlang aller Dimensionen menschlichen Handelns“ unser Leben ändern und dabei „unsere Beziehung zur Natur und zu anderen Menschen heilen.“ Ihr Ziel: Die Große Wende.
Hip, Hip, Hurra: Die Große Wende
„Dann, dann kam die Wende – unser Leid war zuende“ sang Farin Urlaub 1995 auf dem Ärzte-Album „Planet Punk“. Liebe und Frieden und so. Die Realität sah etwas anders aus. Sechsundzwanzig Jahre später musste die Band ihre Tour zum Album „Dunkel“ aufgrund der Covid19-Pandemie ausfallen lassen; der jüngsten globalen Gesundheitsfolge des menschengemachten Klimawandels. Dunkle Zeiten das, wenn selbst BelaFarinRod nicht helfen können.
Der Begriff „Great Transition“ wurde 1964 erstmals durch den ökologisch interessierten Ökonomen Kenneth Boulding geprägt und 2002 in einer Studie der Global Scenario Group aufgegriffen. Die GSG beschrieb unterschiedliche Szenarien der globalen Entwicklung, ähnlich der heutigen Konzepte von verschiedenen „Gradpfaden“. Die zur Erreichung der wünschenswerten Szenarien notwendigen Maßnahmen, nannten auch die Autor*innen der damaligen Studie schon „Great Transition“. Ist die São Paulo-Erklärung also nur alter Wein in neuen Schläuchen?
Planetare Gesundheit ist nicht gleich Klimawandel
Samuel Myers, Mitgründer der die Studie tragenden Planetary Health Alliance und Public Health Professor in Harvard, würde diese Frage wohl verneinen. Seiner Meinung nach haben wir die zentrale Frage der „planetaren Gesundheit“ bei unseren bisherigen Bemühungen um Klimaschutz noch garnicht richtig in den Blick bekommen. „Die meisten Leute werfen die Begriffe Planetare Gesundheit und Klimawandel einfach zusammen“ erklärte er gegenüber dem Harvard Crimson, der Zeitung seiner Universität. „Wenn wir aber die Diagnose schon falsch stellen, kann die Behandlung nicht gelingen.“
Das wahre Problem sei, „dass der ökologische Fußabdruck der Menschheit die Kapazität der Erde, die Ressourcen, die wir Menschen brauchen, nachhaltig produzieren und absorbieren zu können, übersteigt.“ Die planetare Gesundheitswissenschaft (Planetary Health) untersuche, wie „Störungen in unseren natürlichen Systemen die menschliche Gesundheit beeinflussen.“ Klimaschutz ist also kein Selbstzweck für Myers, es geht ihm darum, Menschenleben zu retten. Damit die große Wende nicht zum Holzweg werde, müsse außerdem berücksichtigt werden, wer „unfairerweise“ die „Hauptlast der gesundheitlichen Folgen abgebauter Ökosysteme“ überproportional trage: „People of Color, arme Menschen und die zukünftigen Generationen“. Die Aufgabe ist riesig: „Es wird jede*n Einzelne*n, aus jedem Teil der Gesellschaft brauchen, um diese große Wende umzusetzen.“ Frei nach John F. Kennedy: frage nicht nur, was Du für Deine Gesundheit tun kannst, frage was Du für die Gesundheit der Erde tun könntest.
Jede*r kann helfen
Die Autor*innen wenden sich direkt an die Verantwortlichen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sektoren und machen konkrete Vorschläge, welche Maßnahmen sie in ihrem jeweiligen Bereich ergreifen könnten. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und laden dazu ein, die Erklärung weiterzuentwickeln. Eine Auswahl der Forderungen lautet:
– Unternehmen sollten ambitionierte Reduktionsziele definieren, die die gesamte Lieferkette berücksichtigen (net zero) und die Resilienzsteigerung von Ökosystemen zum Ziel haben (nature positive). Es sollten „keine Investments in Projekte und Unternehmen“ mehr erfolgen, „die vom Abbau der Natur profitieren und damit der Menschheit schaden“.
– Planetare Gesundheit solle ins „Zentrum von Staatshaushalten und Aufbauplänen, insbesondere von post-Covid-Plänen“ rücken. Es müssten „Maßnahmen zur gerechten Dekarbonisierung der Wirtschaft und Energiewende ergriffen werden.“
– Städte müssten „ihre ökologischen Fußabdrücke dramatisch reduzieren und dabei die körperliche und mentale Gesundheit maximal fördern“. „Aktive Mobilität“, „Ausweisung von freien Flächen“ und ein „leicht zugänglicher ÖPNV“ sollten gefördert, „die Automobilnutzung reduziert“ werden.
– Künstler*innen/Schriftsteller*innen und Musiker*innen sollten helfen, neue Erzählungen über die Beziehung zwischen Mensch und Natur und der Menschen untereinander zu entwickeln, die den „Mythos des menschlichen Exzeptionalismus“ ablehnen und unsere „Interdependenz“ betonen.
– „Krankheitsprävention, Gesundheitsförderung und gesundheitliche Chancengleichheit“ müssten im Zentrum einer globalen Gesundheitswende stehen. Dabei sollten „Gesundheitskonzepte und gesundheitsförderliches Verhalten jenseits westlicher Methoden, inklusive der traditionellen Wissenschätze indigener Völker“ einbezogen werden.
– Gesetzgeber*innen und Rechtssysteme sollten „sicherstellen, dass zukünftige Generationen mindestens dieselbe Lebensqualität genießen, wie die gegenwärtige“. Ein „Recht der Natur durch das Gewähren eines juristischen Personenstatus an Naturräume“ sei dringlich zu implementieren. Zudem solle die „Anerkennung des Ökozids als Verbrechen“ im internationalen Recht verankert werden.
Wie es weitergeht: die UN-Klimakonferenz in Glasgow
Die Veröffentlichung der São Paulo-Erklärung erfolgte pünktlich vor der anstehenden UN Klimakonferenz COP26 in Glasgow, bei der das Thema Planetary Health eine größere Rolle spielen soll, als in den vergangenen Jahren. Mehr als 250 NGOs und Universitäten aus 47 Ländern gehörten zu den Erstunterzeichnern. Ein „Schwergewicht“ wie das Paris-Abkommen, auf das sich 2015 die Vertreter von 195 Staaten einigten, ist es damit nicht. Ein grober Kompass, wie eine nachhaltige und weltweite Gesundheitspolitik aussehen könnte, liegt aber nun vor. Wenn die große Wende wirklich gelingen soll, müssten in den jeweiligen Sektoren freilich noch wesentlich konkretere Maßnahmen vereinbart und, analog zum Paris-Abkommen, auch auf staatlicher Ebene global beschlossen werden.
Allen COP26 Teilnehmer*innen sollte man dazu vielleicht folgenden Ärzte-Ohrwurm von 2004 in die Gehörgänge wünschen: „Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wär nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt.“