vonDonata Künßberg 20.10.2022

Buchmesseblog

taz-Autor*innen bloggten live von den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt. Ein Schmöckerladen für Buchliebhaber*innen.

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Ich hatte etwas Ruhe bei Frittenmanufaktur am Frankfurter Hauptbahnhof gesucht, als mich eine SMS erreicht: „Ich kann dich zu Suhrkamp mitnehmen.“ Oh yes, zu Suhrkamp, ins Siegfried-Unseld-Haus! Es steht ganz in der Nähe der Nationalbibliothek, deren Erscheinungsbild so was von Anti-Walhalla ist, dass ich theatralisch davor innehalte und denke: Zu dir gehen sie alle hin. Von jedem Buch wandert ein Pflichtexemplar in deine Bestände, egal wie kostbar oder fürchterlich das Werk auch sein mag.

Beim Suhrkamp-Kritikerempfang erklärt mir taz-Kollege Dirk Knipphals, wer die anderen Besuchenden sind. Dringender möchte ich aber wissen, wie Unseld eingerichtet war. In fremden Wohnungen schaue ich immer zuerst auf die Sitzmöbel und dann auf die Bücher. Beides ist von Menschen verdeckt.

Aber die Kunst! Ganz nonchalant hängt ein Unseld-Portrait von Warhol im Durchgangszimmerchen zwischen Flur und Küche, wo ein Tisch unter mindestens 25 Sorten Käse verborgen ist, einer davon schön blaulila. Wenn mich nicht alles täuscht, ist es das Portrait, für das Warhol 1980 nach Deutschland gereist war. Unseld soll Warhol auch zu Goethe-Portraits angestiftet haben, die hier zu sehen sind.

Serhij Zhadan liest aus „Himmel über Charkiw“ vor

Nebenan hängt noch ein Portrait, und nein, ich meine keinen der anderen Siebdrucke, es ist eher in Öl gemacht, kleinformatig, un-warholig, aber unseldig, Siegfried im Profil, ich liebe es, bitte sagt mir jemand, worum es sich handelt.
Ganz meiner Natur entsprechend mache ich mir sofort jede Menge Sorgen. Solche Kunst und das im Hochparterre! Vorsichtshalber schaue ich mir die Alarmanlage an, was mich gut beschäftigt, während sich alle anderen wiederbegegnen. 

Aber dann liest Serhij Zhadan aus „Himmel über Charkiw“ vor. Er ist aus der Ukraine angereist, am Sonntag erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. „Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten.“, schreibt die  Jury in ihrer Begründung. 

Als Serhij Zhadan auf Ukrainisch vorträgt, klingt energisch und geladen – Sasha Marianna Salzmann folgt im Wechsel mit der deutschen Übersetzung, sie hingegen liest sanft und klar. Beide Intonationen passen zu den Worten, die ich bei Salzmann verstehe. Aber der Kontrast macht mich unruhig. Nachdem die Lesung endet, wird nur geflüstert. Vielleicht will noch niemand den neuen Klang aus den Ohren vertreiben. Warum Sasha Marianna Salzmann so mild gelesen hat, verfolgt mich bis in den nächsten Tag.

Zum Abschluss ein kleines Echo des Messemurmelns (und etwas von außen) zur Klangveränderung:

„Die Wirklichkeit braucht neue Wörter.“
Serhij Zhadan am Mittwochabend beim Suhrkamp-Kritikerempfang

„Viele Worte, die man vorher verwendet hat, bekommen plötzlich einen anderen Klang.“
sagte er vor wenigen Tagen der taz

„Wir müssen Wörter neu definieren. Was ist russisch?“
Michail Schischkin heute beim Podiumsgespräch „Zur Situation der russischen Opposition“ auf der Buchmesse

„Spätestens seit der Erfindung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert und der durch sie ermöglichten politischen Massenagitation werden auch ideologische Grenzen mit Wörtern markiert.“
Matthias Heine im Vorwort zu „Kaputte Wörter“ (Dudenverlag) 

„Es fängt immer mit als Sorge getarntem Hass sowie Tatworten wie „Asyl-Tourismus“, „Flüchtlingswelle“ und „Sozialtourismus“ an – und es endet immer mit brennenden Asylunterkünften und rechtem Terror.“
Michael Kraske auf Twitter zum angezündeten Geflüchtetenwohnheim in Groß-Strömkendorf

Wenn Menschen uns schreiben oder Petitionen starten, damit wir Wörter in Wörterbücher aufnehmen oder aus ihnen streichen, sagen wir ihnen, dass diese Wörter sich etablieren müssen, dass sie gebraucht werden müssen und in Zeitungen stehen müssen, dann nehmen wir sie auf.
Dr. Laura Neuhaus, stellvertretende Leiterin der Dudenredaktion und Lektorin von „Kaputte Wörter“
(Gedächtnisprotokoll unseres Gesprächs)

Die taz auf der Buchmesse: Seien auch Sie dabei, direkt vor Ort in Halle 3.1 Stand D72 oder digital. Mit 12 taz Talks präsentieren wir live on stage einen Querschnitt der Literaturneuheiten des Herbstes. Sie können die Talks unbegrenzt im Nachhinein auf dem taz Youtube-Kanal nachschauen. Alle Informationen und das Programm finden sie unter taz.de/buchmesse

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https://blogs.taz.de/buchmesse/2022/10/20/zwischen-serhij-zhadan-und-andy-warhol/

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