Die zwei Wochen anhaltenden Proteste gegen die lockdown Maßnahmen in China, die nun als „A4Papier-Revolution“ bezeichnet werden, sind – auch wenn sie sich nach dem Einlenken der Regierung wieder gelegt haben – wichtige Erfahrungen für die Zukunft der demokratischen Kämpfe im Land.
Die Protestwellen begannen mit der Tat einer einzigen Person. Am 13. Oktober brachte ein Mann namens Peng Zaizhou an der Pekinger Sitong-Brücke Transparente an, auf denen er ein Ende der Null-Covid-Politik, Freiheit und nicht zuletzt die Ablösung von Xi Jinping forderte.(1) Aber selbst wenn die meisten Menschen, die von diesem Ereignis erfuhren, mit ihm sympathisierten, so ist es sehr wahrscheinlich, dass sich zu dem Zeitpunkt niemand vorstellen konnte, dass auf diese Einzelaktion etwas anderes folgen könnte außer seine Verhaftung.
Die Proteste bei Foxconn in Zhengzhou
Was wir damals nicht wussten, war, dass in dem Foxconn-Unternehmen in Zhengzhou Covid-Infektionen ausgebrochen und neue Einschräkungen verhängt worden waren, die in nur zwei Wochen soweit verschärft wurden, dass sie die Beschäftigten dazu brachten, sich mit dem Werkschutz anzulegen, um aus dem Werksgelände raus zu kommen und nach Hause gehen zu können. In der Folge kam es zu Zusammenstößen der ArbeiterInnen mit der Polizei. Inzwischen gab es auch in vielen anderen Städten ähnlichen offenen Widerstand gegen die lockdowns, wovon allerdings die Medien nicht berichteten. Es war das Feuer in einer Wohnanlage am 14. November in der Stadt Urumqi, durch das 10 Menschen ums Leben kamen, was die Proteste in über 20 Städten und über 200 Universitäten eskalieren ließ. Während der folgenden 14 Tage begannen örtliche Behörden im ganzen Land die Beschränkungen zu lockern.
Es war das erste Mal seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahr 1989, daß landesweite Proteste ausbrachen. Dieses Mal erreichten sie Zugeständnisse vom Parteistaat mit nur wenig Blutvergießen. Der Grund dafür? Sie kamen zu plötzlich und unerwartet. Hinzu kommt, dass die Proteste anscheinend nicht direkt politisch waren. Sie waren vollkommen unorganisiert und ungeplant, sie wurden nicht von erfahrenen Aktivisten geführt, die die Proteste nutzten, um ihre politischen Pläne zu verfolgen – etwas, was von der Parteiführung am meisten gefürchtet wird. Es handelte sich um verzweifelte Menschen, die zu Verzweiflungstaten schritten. Dadurch waren die örtlichen Behörden kalt erwischt worden. Selbst wenn es Leute gab, die ab und an riefen ”Xi Jinping, tritt zurück”, stand für die meisten Protestierenden der Kampf gegen den lockdown oder für Freiheit im Vordergrund. Und mit einem breiten Aufstand konfrontiert, lief der Polizeistaat Gefahr, nicht genügend Polizisten zu haben, um ihn zu unterdrücken. Der Partei blieb keine andere Wahl als zurückzuweichen.
Apologeten der Pekinger Politik versuchen die Proteste gegen den lockdown in China mit denen von Rechtsgerichteten gegen Massenimpfungen und Restriktionen im Westen auf eine Stufe zu stellen. Dies aber ist weit von der Wahrheit entfernt. Um es genauer zu sagen: die meisten der Proteste im November in China richteten sich gegen lockups – also dagegen, dass Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt oder die Hauseingänge verschlossen wurden, um das Null-Covid-Ziel der Behörden durchzusetzen. Ohne Rücksicht darauf, ob die Wohnbereiche mit den Mitteln des täglichen Bedarfs genügend versorgt waren oder dass Erkrankungen verschiedener Art medizinisch und rechtzeitig behandelt werden konnten. Aus diesem Grund waren die Proteste vollkommen legitim und gerechtfertigt. Es handelte sich um Proteste aus der Bevölkerung gegen eine ”Volksregierung”, die auf die Existenzsicherung des Volkes keine Rücksicht nimmt.
Wut auf die Behörden
In diesem Sinn waren die Novemberproteste grundsätzlich politisch. Das Volk kämpfte, um seine grundlegenden Menschenrechte und seine Würde einzufordern. Kein Wunder, dass die Wut auf die Behörden so eindeutig war. Der Parteistaat hatte Jahrzehnte darauf verwandt, die Öffentlichkeit zu entpolitisieren und die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen gegenüber allem, was mit Politik verbunden war und besonders gegenüber jeder Art von Protest. Er wollte das Volk in reine ”Arbeitstiere” verwandeln, bar jeden Rechts. Einzig erlaubt waren nur harte Arbeit und Geld verdienen. Aber in nur kurzer Zeit politisierte die KP Chinas die Öffentlichkeit in einem Masse, dass zwei Wochen lang Tausende ”Freiheit” forderten.
Die ”A4-Blatt-Revolution” war genau genommen überhaupt keine Revolution. Es war, nicht mehr und nicht weniger, massiver ziviler Ungehorsam und es passierte, nachdem die politisch rechten Lokalisten in Hongkong jahrelang ihre Ansichten vom ”chinesischen Nationalcharakter” verbreitet hatten, demzufolge die Festland-Chinesen so angepasst und feige seien, dass sie niemals Widerstand wagen würden und es verdient hätten, Sklaven zu bleiben. Die zwei Wochen langen Proteste beweisen, dass sie falsch lagen.
Die massiven Proteste sind nicht zufällig ausgebrochen. Die letzten 10 Jahre zeugen von einer starken unterschwelligen Strömung des Boykotts der offiziellen Ideologie, verstärkt durch eine Haltung des ”Lass doch laufen”, obwohl niemand wusste, wohin das führen würde. Jetzt ist klar, dass der dreijährige lockup die angestauten Ressentiments gegen die Obrigkeit in Proteste und zivilen Ungehorsam verwandelt hatte.
Korrupte Bürokratie
Es stimmt zwar, dass die Ankündigung von ”20 Maßnahmen” vom 10. November durch die Staatsspitze die Beschränkungen etwas gelockert hatte, aber dies war zu wenig und zu spät. Diese ”20 Maßnahmen” offenbarten allerdings etwas Wichtiges. Man begann damit, die untere Bürokratie zu kritisieren und ihr die Schuld zuzuschieben. Man wandte sich gegen die Tendenz des Céng céng jiāmǎ (层层加码), mit der Bürokraten ihren Enthusiasmus und ihre Loyalität beweisen. Danach schraubt jede Hierarchieebene der Bürokratie ihre Erfolgsziele hoch, ohne Rücksicht auf die Menschen oder die Effizienz ihrer Maßnahmen. So verstiegen sich in vielen Fällen örtliche Behörden dazu, in den eingeschlossenen Gemeinden zwei Covid-Tests pro Tag zu verlangen, was vollkommen sinnlos war. Eine zweite Warnung richtete sich gegen das Yīdāoqiē (一刀切), die Tendenz, Dinge zu tun nach dem Motto ”eine Grösse passt auf alles”, ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung der betroffenen Gemeinschaften. Das durchgängige Einsperren von Menschen beispielsweise betraf Arme, Alte und Kinder besonders hart und führte sogar zu Todesfällen. Die ”20 Massnahmen” waren auch über ein weiteres wichtiges Element hinweggegangen, das die Menschen zur Revolte trieb – die Selbstbereicherung örtlicher Beamter. Es ist kein Geheimnis, dass eine beträchtliche Anzahl von ihnen mit ihren Geschäftspartnern kungelte, um von den Covid-Tests und den lockups zu profitieren. Privatunternehmen, die Testkits lieferten, fuhren riesige Profite ein, weil die Regierung die Tests vorschrieb. Ohne demokratische Kontrolle konnten lokale Behörden bei ihren Vertragsabschlüssen leicht bestochen werden. Die Hongkonger Tageszeitung Ming Pao berichtete von einem Unternehmen namens Nucleus Genes, das dermaßen expandierte, dass es in nur drei Monaten bereits 16 Filialen hatte. Obwohl diese Filialen unter dem Verdacht standen, gefälschte Covid-Testberichte vorgelegt zu haben, erhielten sie weiterhin ihre Aufträge von den örtlichen Behörden. Des weiteren kam heraus, dass gewisse Verbindungen bestanden zwischen diesen neugegründeten Filialen und Covidausbrüchen. Internetnutzer machten sich darüber lustig: ” Wo immer Nucleus Genes eine neue Filiale eröffnet, bricht die Pandemie aus”.(2) Eine weitere Beschwerde aus den Wohnvierteln, die unter lockup standen, bestand darin, dass für Dinge des täglichen Bedarfs das Doppelte und mehr gezahlt werden musste. Oft mauschelten lokale Bamte mit Lieferanten, um auf diese Weise vom lockup zu profitieren. Unter dem Strich: Der Anreiz sowohl für die Bürokraten wie für private Unternehmen, mit der Pandemie Geld zu machen, hatte in vielen Fällen zu unnötigen lockups und Covid-Tests geführt. Die Korruption war durch die Pandemie auf ein neues Niveau geklettert.
Die Feinde des Volkes
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass lokale Beamte nicht allein die Schuldigen waren. Zweifellos hatten sie sich durch korruptes Verhalten schuldig gemacht, aber diese Erscheinung war auch Ergebnis der Top-Down-Vorgehensweise der Partei. Es waren sowohl der „blinde Befehlsgeber“ an der Spitze als auch die Auspressung und Unterdrückung der Menschen durch lokalen Beamten, die zeigten, dass diese die wahren Feinde des Volkes sind. Zum ersten Mal seit 1989 handelten die Protestierenden spontan, aber mit dem gemeinsamen Ziel, den lockup zu beseitigen, und sie waren erfolgreich. Die ganze Geschichte und der Sieg des Volkes hat Xi Jinping und seine Komplizen in Misskredit gebracht, die Position jener Offiziellen verbessert, die mit ihm über Kreuz liegen, aber vor allem das Selbstwertgefühl und das Vertrauen des Volkes als Bürger und nicht als Sklaven gestärkt. Darüber hinaus hat die ”A4-Bewegung” eine neue Generation erweckt. Während die Proteste durch das Einlenken der Staatsmacht derzeit zurückgehen, erleben wir nun das erste Mal seit 1989 eine neue Politisierung unter den chinesischen Studenten und Bürgern, die unbequeme Fragen hinsichtlich der Politik stellen. Vielleicht ist eine neue Seite in der chinesischen Geschichte aufgeschlagen worden.
Übersetzung von Hermann Dierkes
Anmerkungen
1) Siehe auch meinen letzten Blogbeitrag vom 21. Nov. 2022
2) Siehe ausführlichen Bericht Chinese COVID Testing Firm Nucleus Gene in Spotlight Due to Huge Profits and Violations in pandaily vom 5.12.2022 ,