vonchina-watch 25.10.2022

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Heute streben die meisten Menschen in Taiwan nicht danach, per Referendum für das Recht auf Unabhängigkeit (de jure) zu kämpfen. Sie sind für die Beibehaltung des Status quo, von einigen als De-facto-Unabhängigkeit interpretiert, wie eine Meinungsumfrage vom Juni 2022 (1) zur Zukunft Taiwans zeigte:

                                                                                                1994            2022
Für die Vereinigung mit Festlandchina:         20,0%            6,4%
Für die Unabhängigkeit:                                        11,1%         30,3%
Für die Beibehaltung des Status quo:             48,3%         56,9%
Keine Antwort:                                                             20,5%           5,2%

Der Hauptgrund für das Anwachsen der Befürworter der Unabhängigkeit auf Kosten der Wiedervereinigung und des „No Response“ ist die zunehmend reaktionäre Politik Pekings. Ihr Weißbuch zu Taiwan (2) ist das jüngste Beispiel dafür. Es behauptet, dass „Taiwan seit der Antike zu China gehöre“, und gibt als Beweis sogar das Jahr 230 v. Chr. an, als die erste chinesische Aufzeichnung über Taiwan erschien. Noch schlimmer ist, dass diese Behauptung die Ureinwohner Taiwans, die seit mehr als 6.000 Jahren dort leben, mit einem Taschenspielertrick abschreibt – ganz zu schweigen davon, dass eine antike chinesische Aufzeichnung über Taiwan nichts beweist! Die Sprache der Ureinwohner Taiwans gehört zu den austronesischen Sprachen, die auf den Inseln im Pazifik und im maritimen Südostasien sowie Taiwan gesprochen werden. Sie sind die frühesten Bewohner der Insel, aber sie sind keine Chinesen. Das Weißbuch vermeidet die Diskussion dieses Themas, indem es die indigene Bevölkerung einfach ignoriert!

Ureinwohner Taiwans Ende des 19. Jahrhundert, Foto wiederhergestellt von ralphrepo CC BY 2.0.

Die Ureinwohner machen nur noch einen sehr geringen Anteil der Bevölkerung aus (2,3 Prozent). Aber Peking ist gleichermaßen respektlos gegenüber der wichtigsten ethnischen Gruppe den benshengren. Sie sind Nachkommen von vor hunderten von Jahren eingewanderten Menschen vom chinesischen Festland, die hauptsächlich zur Ethnie der Hoklo und Hakka gehören. Zusammen machen sie 86 % der in Taiwan lebenden Bevölkerung aus. Sie sind chinesisch sprechende Han, haben aber schon lange die Verbindung zum Festland verloren und viele sehen sich in erster Linie als Taiwanesen – im Gegensatz zu Hongkong, wo viele Menschen noch enge familiäre Verbindungen zum Festland haben. Auch die waishengren, Einwanderer vom Festland China, die erst nach 1949 nach Taiwan gezogen sind, identifizieren sich v.a. in der jüngeren Generation in den letzten Jahren zunehmend mehr als Taiwanesen denn als Chinesen. Erwähnenswert ist, dass die Wahl einer „taiwanesischen“ Identität nicht unbedingt eine „chinesische“ Identität ausschließt. Allerdings begann die Bevölkerung Taiwans im Jahr 1996 nach Pekings Kriegsübung gegen die Insel massenhaft die „ausschließlich taiwanesische“ Identität anzunehmen. Diese Übung sollte die Menschen warnen, auch nur einen Millimeter von der politisch korrekten „Ein-China“-Politik abzuweichen. Eine Meinungsumfrage aus dem Jahr 1992 (3) ergab, dass 46,4 Prozent der Befragten die Identität „sowohl chinesisch als auch taiwanesisch“ wählten, während diejenigen, die „taiwanesisch“ wählten, nur 17,6 Prozent ausmachten. Im Jahr 2021 wurde die letztere Option von 62,3 Prozent unterstützt, während die erstere auf 31,7 Prozent gesunken war.

Es besteht allerdings kein zwingender Zusammenhang zwischen dem sich ändernden Trend bei der Wahl der Identität und einer Bewegung für die Unabhängigkeit. Gegenwärtig wollen die meisten Menschen in Taiwan den Status quo beibehalten, und selbst unter den 30,3 Prozent Befürwortern der Unabhängigkeit sind nur 5,1 Prozent für „Unabhängigkeit so bald wie möglich“, während 25,2 Prozent sich für die „Beibehaltung des Status quo, Schritte in Richtung Unabhängigkeit“ aussprechen. Die Schlussfolgerung? Eine Unabhängigkeit Taiwans steht nicht unmittelbar bevor und daher ist ihre „Bedrohung“ für Peking und auch für Washington nicht real. Was die Spannungen über die Taiwanstraße hinweg anheizt, sind weniger diplomatische Gesten wie der Besuch von Nancy Pelosi, US-amerikanische Sprecherin des Repräsentantenhauses, in Taiwan als vielmehr Pekings prinzipielle Politik gegenüber Taiwan: Sie begnügt sich nicht damit , die Unabhängigkeit Taiwans zu verhindern, sondern zieht recht willkürlich „rote Linien“. Xi Jinping hat sich von Deng Xiaopings im Allgemeinen gemäßigtem Ansatz in der Diplomatie abgewandt und in Bezug auf Taiwan beschlossen, es so schnell wie möglich mit China wieder zu vereinigen – notfalls mit Gewalt -, daher sein extrem aggressiver Ansatz. Kein Wunder also, dass Peking nun frühere Versprechen in Bezug auf Taiwan bricht. Sein Weißbuch zu Taiwan enthält nicht mehr die frühere Klausel, dass Taiwan im Rahmen einer Vision von „einem Land und zwei Systemen“ eine eigene Armee behalten darf. Auch das Versprechen, keine Truppen vom Festland dorthin zu schicken, wurde fallen gelassen. Washington hat sich bis heute zu der „Ein-China-Politik“ bekannt. Im Gegensatz dazu macht Peking eine aggressivere Politik gegenüber Taiwan. Wir müssen einen Krieg über die Meerenge von Taiwan hinweg verhindern, aber dies erfordert in erster Linie ein richtiges Verständnis der dortigen Situation: Es ist die Regierung in Peking, die durch die Verweigerung grundlegender Rechte der Bevölkerung Taiwans eine wachsende Zahl von Taiwanesen in die Unabhängigkeit treibt, nicht die USA – zumindest nicht zur Zeit. Es nützt also nichts, lediglich Druck auf Washington auszuüben, um die Spannungen über die Meerenge hinweg abzubauen.

In der Gesellschaft in Taiwan unter der Kuomintang (KMT) gab es vier Klassen von „Bürgern“, wobei die Ureinwohner am unteren Ende standen. Die taiwanesischen benshengren hatten zwar einen höheren Status als die Ureinwohner, wurden aber von der KMT streng unterdrückt, und ihre Sprache wurde diskriminiert – so konnten benshengren-Kinder, die in der Schule ihre Muttersprache sprachen (anstatt Mandarin), bestraft werden. Die waishengren bildeten ursprünglich die Basis der KMT, als sie das Festland an die KPCh verlor, aber die meisten von ihnen wurden ebenfalls von der KMT unterdrückt. Nur die Kader der Regierungspartei bildeten die privilegierte „politische Klasse“ auf der Insel. Die einfachen Menschen in Taiwan wurden nacheinander von der Qing-Dynastie, den Japanern und dann von der KMT unterdrückt. Ihr jahrzehntelanger heldenhafter Widerstand hat ihnen schließlich seit Anfang der 1990er Jahre eine liberale Demokratie beschert. Ihr noch unvollendeter Weg in die Freiheit folgte einem ganz anderen historischen Modernisierungspfad als dem der Festlandchinesen, und dies gibt ihnen das natürliche Recht auf Selbstbestimmung über ihr Schicksal. Die Respektierung des Wunsches der Bevölkerung Taiwans ist ein wichtiger Baustein für jede Lösung der Krise zwischen Taiwan und China. Alle Befürworter der Demokratie müssen Peking daran erinnern, dass das Grundprinzip für die Bildung eines demokratischen Nationalstaates, der aus verschiedenen Teilen des Volkes hervorgeht, deren Recht auf Selbstbestimmung ist. Das Recht auf Selbstbestimmung bedeutet nicht zwangsläufig eine Abspaltung und die Gründung mehrerer Kleinstaaten, sondern könnte die Chance für eine demokratische und freie Wiedervereinigung zwischen benachbarten Nationen und Ethnien eröffnen, wie uns die bolschewistische Revolution einst gezeigt hat.

Besetzung des Parlamentsplenarsaal 2014 aus Protest der Sonnenblumenbewegung gegen ein umstrittenes Dienstleistungsabkommen mit der VR China, Foto: Kevin-WY CC BY-SA 2.0

Die KPCh hat das Recht der Taiwanesen auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf Unabhängigkeit, bis 1949 unterstützt. Dies war auch das Gründungsprinzip der Kommunistischen Partei Taiwans. Im Jahr 1927 wies die Dritte Internationale die Kommunistische Partei Japans an, die Gründung der Kommunistischen Partei Taiwans im Jahr 1928 zu unterstützen. Auch die KPCh spielte dabei eine große Rolle (4). Am 3. Mai 2022 brachte der Diplomat einen Artikel (5), der Peking an die oben genannte Geschichte erinnerte, indem er ein Interview mit Mao Zedong aus dem Jahr 1937 aus Edgar Snows bekanntem Buch Red Star over China zitierte: „…wir werden ihnen (den Koreanern) unsere enthusiastische Hilfe in ihrem Kampf um Unabhängigkeit anbieten. Das Gleiche gilt für Taiwan.“ Das Büro für Taiwan-Angelegenheiten des Staatsrats in Peking nahm daraufhin den Artikel unter Beschuss (6), vermied es aber sorgfältig, Snows Interview zu erwähnen – denn es konnte diese Aussage Maos nicht leugnen, denn es ist eine feststehende Tatsache (7). Die Regierungspartei hat ihr Gründungsprinzip so radikal verraten, dass sie sich ihrer eigenen Vergangenheit einfach nicht stellen kann.

In den Augen der Regierung in Peking sind alle chinesisch sprechenden Menschen ihre Untertanen, die nur vor ihr kuschen sollen. Der Tonfall ist so, dass die Menschen in Taiwan alles akzeptieren sollen, was Peking diktiert, oder bereit sein sollen, sich von Peking „umerziehen“ zu lassen. Ein chinesischer Diplomat sagte einem französischen Fernsehsender: „Nach der Vereinigung [mit Taiwan] werden wir dort eine Umerziehung durchführen“ (8). Dies ist die Sprache des Totalitarismus und des Kolonialismus, indem die Rechte der Menschen schlichtweg geleugnet werden. Peking wiederholt damit, was Taiwans frühere Unterdrücker getan haben. Das ist es, was mehr und mehr Menschen in Taiwan von China entfremdet hat. Diese Politik ist der sicherste Weg, die immer stärker werdenden zentrifugalen Kräfte in der Peripherie des chinesischen Festlandes und jenseits der Meerenge zu stärken. Chinesische Nationalisten sollten sich die folgenden Fragen stellen: Wenn Xi auf einer Politik besteht, die kontraproduktiv ist, wenn es darum geht, die Herzen der Menschen in Taiwan zu gewinnen, sollten sie ihn dann nicht als Führer absetzen? Oder verfolgt er mit seiner zunehmend provokativen Politik gegenüber Taiwan seine eigene Agenda, um sich für immer an die absolute Macht zu klammern?

Abschließend noch ein Wort zu Washington. Im Moment ist Peking in der Offensive, was Washington als Freund Taiwans in der gemeinsamen Sache der Aufrechterhaltung des status quo erscheinen lässt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Washington, genau wie Peking, Taiwans Recht auf Selbstbestimmung nie unterstützt hat. Wenn die Unabhängigkeitsbewegung schneller wächst, ist ein mögliches Szenario, bei dem Differenzen mit Washington entstehen, nicht von der Hand zu weisen. Gerade wegen dieses möglichen Szenarios hat Washington immer wieder hinter den Kulissen in die Wahlen in Taiwan und die öffentliche Meinungsbildung eingegriffen, um die Unabhängigkeitsbewegung in Schach zu halten. Unabhängig davon, inwieweit dies gelingt, zeigt sich, dass die derzeitige gemeinsame Basis zwischen der Bevölkerung Taiwans und Washington auf längere Sicht brüchig ist. Wenn Washington sich derzeit als Freund Taiwans präsentiert, dann nur, weil dies seiner eigenen taktischen Agenda entspricht. Seine strategische Agenda der Verteidigung seines Imperiums deckt sich nicht immer mit den Wünschen der Menschen in Taiwan. Auch das umgekehrte Szenario ist möglich, nämlich dass Washington seine Ein-China-Politik ändert und stattdessen die Unabhängigkeit Taiwans unterstützt, um seiner neuen Agenda zu dienen, auch wenn Taiwan dafür noch nicht bereit ist. Beides bedeutet eine große Gefahr für die Bevölkerung Taiwans, denn sie ist der kleinere Akteur in diesem großen Wettstreit, die leicht von dieser oder jener Supermacht schikaniert oder verraten werden kann. Genau aus diesem Grund muss sich die internationale Linke die Frage stellen: Wem sollte unsere erste Sorge in diesem Dreieckskampf zwischen Peking, Taipeh und Washington gelten? Ich finde, dass es weder Peking noch Washington sein kann, sondern die Bevölkerung Taiwans. Wenn eine Linke sich weigert, denjenigen die Hand zu reichen, die am stärksten unterdrückt wurden und trotzdem im jahrzehntelangen Kampf ihre partielle Freiheit errungen haben, wenn eine Linke es ablehnt, dieser Bevölkerung einen rechtmäßigen Platz auf diesem Planeten zu zugestehen und stattdessen den „Frieden“ zwischen zwei Supermächten bevorzugt vor dem Existenzrecht der Schwächeren, ist diese Linke dann noch der Bezeichnung „links“ würdig?

Anmerkungen
1)  Election Studies Center, National Chengchi University, Changes in the Unification – Independence Stance of Taiwanes 臺灣民眾統獨立場趨勢分佈(1994年12月~2022年06月)
2) Siehe auch https://blogs.taz.de/china-watch/ein-china-politik-aber-welches-china/
3) Election Studies Center, National Chengchi University, Changes in the Taiwanese/Chinese Identity of Taiwanese 1992 – 2022
4) 日據時代臺灣共產黨史(1928—1932),盧修一,自由時代出版社,臺北,1989年11月版,第3及7章。(The History of the Taiwan Communist Party under Japanese Occupation, by Lu Xiuy)
5) Gerrit van der Wees, When the CCP Thought Taiwan Should Be Independent, The Diplomat 3.5.2022
6) Takungpao 6.5.2022 美台诬蔑中共早期领导人支持“台独” 国台办长文驳斥
7) Edgar Snow, Red Star over China: The Classic Account of the Birth of Chinese Communism, Bantam edition, 1978, Grove Press, New York, p. 90.
8) Giulia Carbonaro,  China Would Re-Educate Taiwan in Event of Reunification, Ambassador Says in Newsweek vom 8.5.2022  

Übersetzung von P. Franke, Forum Arbeitswelten

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