Es ist leicht einzusehen, dass es sich bei Mafalda aus Buenos Aires um ein ganz besonderes Mädchen handelt, auch wenn erst einmal sehr viel typisch an ihr ist für eine Sechs- bis Achtjährige: Sie verbringt die meiste Zeit zu Hause mit ihrer Familie oder eben auf der Straße bzw. in der Schule mit ihren Freunden. Die hier wie dort lauernden und sich in variierter Form wiederholenden Freuden und Tücken des Alltags werden von der kindlichen Protagonistin genauestens beobachtet und gewitzt kommentiert. Dabei zeichnet nicht nur ihre erstaunlich schnelle und scharfe Zunge die kleine Mafalda aus, Legion sind auch ihr fehlender Respekt gegenüber (vermeintlichen) Autoritäten, ihre Wachsamkeit gegenüber den Widersprüchen und Ungerechtigkeiten im privaten und öffentlichen sozialen Leben sowie ihr beharrliches Eintreten für universelle Werte. Doch dazu später mehr.
Um die ganze soziopolitische Tragweite der Mafaldastrips zu verstehen, ist es nötig, sich vor Augen zu führen, in welcher Zeit und unter welchen Umständen die Comicheldin, die es heute zu internationaler Berühmtheit gebracht hat, einst das Licht der Welt erblickte. Der von andalusischen Einwanderern abstammende Cartoonist Quino, bürgerlich Joaquín Salvador Lavado, entwickelte die Figur in ihren Grundzügen für eine gezeichnete Werbekampagne eines argentinischen Haushaltsgeräteherstellers. Weil der Auftrag jedoch nicht zustande kam, debütierte MAFALDA als klassischer Comicstrip, der offensichtlich starke Anleihen an Charles M. Schulz PEANUTS nahm, im Spätsommer 1964 in der Wochenzeitung LA PLANA. Innerhalb des relativen kurzen Erscheinungszeitraums (1964-1973) der doch ziemlich bekannt gewordenen Serie – bis heute immerhin in mehr als dreißig Sprachen übersetzt – wechselten Erscheinungsort und -turnus noch einige Male.
Die Sechziger- und Siebzigerjahre Argentiniens waren die beiden Krisenjahrzehnte des Landes, das es zuvor insbesondere unter dem Populisten Juan Peron zunächst zu enormen Wohlstand und relativer sozialer Gleichheit gebracht hatte. Das schwierige Erbe des Peronismus, der in den Fünfzigern ökonomisch und politisch abgewirtschaftet hatte, bestand aus einer gespaltenen Gesellschaft und einem höchst instabilen politischen System, in dem demokratisch gewählte Regierungen immer wieder von meist rechten Militärs aus dem Amt geputscht wurden. Die meisten Jahre des Erscheinens von MAFALDA fallen in die Zeit der Diktaturen des rechtskonservativen Generals Juan Carlos Ongania und seiner Nachfolger (1966-1973), die die bürgerlichen Freiheitsrechte suspendierten und insbesondere der Jugend gewissermaßen den Krieg erklärten: aufwieglerische Studenten und langhaarige Beatniks galten als asoziale Elemente und wurden mit unnachgiebiger Härte verfolgt.
Auch wenn in ikonografischer Hinsicht die Gemeinsamkeiten der MAFALDA-Strips mit denen der PEANUTS wortwörtlich ins Auge fallen – skizzenhaft gezeichnete kindliche Protagonisten mit überdimensionierten, stupsnäsigen Charakterköpfen agieren vor einem realistisch gestaltetem Setting – sollte man sich über die Unterschiede der beiden Serien im Klaren sein: Charlie Browns Leben ist eine Verkettung von Missverständnissen und Missgeschicken, und seine Versuche daran etwas zu ändern, müssen scheitern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Anders als Charles M. Schulz mit seinem mitfühlenden Konservativismus setzte der Zeichner Quino auf die permanente Revolte gegen die damaligen politischen und sozialen Verhältnisse. Unter den oben geschilderten Bedingungen, zu denen auch die Einschränkungen der Pressefreiheit gehörte, wählte Quino allegorische Formen, um die Missstände in seinem Land zu kritisieren.
Wenn Mafalda den verdutzten Bauarbeitern, die die Straße mit Presslufthämmern und sonstigem schweren Gerät bearbeiten, rhetorisch fragend entgegenschleudert, ob sie der Straße etwa ein Geständnis entlocken wollen, liegt darin schon eine vergleichsweise offen formulierte Kritik an der staatlichen Repressionsmaschinerie. In der Regel ging Quino subtiler vor, nicht zuletzt um die damalige Pressezensur zu umgehen. Ein interessantes Motiv ist in diesem Zusammenhang die verhasste Suppe, die Mafalda von ihrer Mutter in wiederholender Regelmäßigkeit vorgesetzt bekommt und für Streit sorgt. Ein wohl in (fast) allen Kulturkreisen gern aufgeführtes familiäres Psychodrama, dass in Quinos Comicstrips aber eine weitere Bedeutungsebene enthält, in der politische Fragen nach Autorität, Macht, Protest und Widerstand verhandelt werden: Mafalda will diese Suppe einfach nicht auslöffeln, die ihr da von jemand anderem angerichtet wurde, selbst wenn sie dazu zu Mitteln der Nötigung oder der Sabotage greifen muss.
Mafaldas klarer politischer Haltung entspricht Quinos Zeichenstil im Sinne klarer, definierter Linien und dem Verzicht auf Schattierungen und sonstigen Grauabstufungen. Klar und schnörkellos ist auch die narrative Struktur der Strips, die in der Regel 3 bis 5 Panels umfassen: Auf die Eröffnung des Comics über die Darstellung einer Idee folgt deren weitere problematisierende Entwicklung bis zum Höhepunkt samt der humorvollen Auflösung im letzten Panel. Stilistische Experimente und ästhetische Innovationen sucht man in MAFALDA eher vergebens, in dieser Hinsicht war Quino – selbst an den damaligen Möglichkeiten der comicalen Erzählkunst gemessen – eher ein Konservativer als ein Revolutionär.
1973 beendete der Zeichner die Arbeit an der Serie und kehrte nur einmal zu seiner berühmtesten Figur zurück, als er für das Kinderhilfswerk UNICEF im Rahmen einer Kampagne für Kinderrechte eine MAFALDA-Sonderausgabe zeichnete. Als sich 1976 erneut rechte Militärs an die Macht putschten, verließ Quino Argentinien und fand Exil in Europa. Damit entging er vermutlich dem Schicksal eines anderen berühmten argentinischen Comicautors, Héctor Germán Oesterheld, der – wie tausende andere auch – am Tag seiner Verhaftung durch die Militärpolizei für immer verschwand. Quino starb 2020 mit 88 Jahren in Buenos Aires, mit dem Zeichnen hatte er da schon lange aufgehört. Eine Sonderausgabe aus der Reihe DIE BIBLIOTHEK DER COMIC-KLASSIKER (Carlsen) setzt dem Cartoonisten und Humoristen ein Denkmal und sorgt dafür, das auch kommenden Generationen der Name Mafalda noch ein Begriff sein wird. Und das ist gut so, denn gerade in ihren Kommentierungen der weltpolitischen Ereignisse der Sechziger- und Siebzigerjahre (die viel weniger chiffriert ausfielen als die Kommentare zur damaligen Situation in Argentinien) wirken die Comics auf eine fast beunruhigende Weise aktuell. Damit stellt sich die unvermeidliche Frage: Was würde Mafalda wohl zu unserer heutigen Zeit – ihren versteckten Widersprüchen und offen zutage tretenden Konflikten – zu sagen haben? Die Antwort könnte ernüchternd ausfallen.