Michael Sontheimer in einem der ersten taz-Jahre Von Michael Sontheimer
Knapp drei Wochen bevor die taz am 17. April 1979, nach zehn sogenannten Nullnummern, zum täglichen Erscheinen überging, kam es im Reaktorblock 2 des Atomkraftwerks Three Miles Island bei Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania zu einer partiellen Kernschmelze. Für uns in der Ökologieredaktion der taz war die Kombination aus technischem und menschlichem Versagen in den USA der Beweis, dass Atomreaktoren eine zu riskante Technologie sind, um damit Wasser zu erhitzen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung dagegen mokierte sich über die “pauschale und naive Forderung” nach Stilllegung der Atomanlagen. Wir verstanden uns als Teil der Anti-AKW-Bewegung, die 1974 im badischen Whyl ihren Anfang genommen hatte. Es folgten militante Großdemonstrationen in Brokdorf, Grohnde oder Kalkar und nachhaltiger gewaltfreier Widerstand in Gorleben. Die radikale Linke vereinigte sich mit den Bürgerinitiativen und brach aus ihrem Getto aus. Mit mehr als 100.000 Menschen erlebten Hannover und Bonn im Jahr 1979 die größten Protestmärsche in der Bundesrepublik seit den Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren.
Michael Sontheimer heute. Foto: Anja Weber Zunächst knickte der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht ein und erklärte, die in Gorleben geplante Wiederaufarbeitungsanlage sei leider politisch nicht durchsetzbar, dann verhinderte die Anti-Atom-Bewegung die Wiederaufarbeitung in Wackersdorf, ebenso die Fertigstellung des schnellen Brüters in Kalkar. Der Traum der Atomphysiker vom Perpetuum mobile der Plutoniumwirtschaft war ausgeträumt.
GAU alle 100.000 Jahre?
Die Protagonisten der Atomlobby, wie wir den politisch-industriellen Komplex zur Durchsetzung und zum Ausbau der Kernenergie nannten, warfen uns ausdauernd Hysterie und Panikmache vor – und reklamierten die Vernunft für sich. Nur alle 100.000 Jahre, so behaupteten sie, könne ein GAU vorkommen, wenn überhaupt.
Es dauerte 17 Jahre, bis nach dem Unfall von Three Miles Island dann Ende April 1986 Block 4 des Atomreaktors in Tschernobyl explodierte. Die Hilflosigkeit der Betreiber, die Verseuchung großer Landstriche, der Strahlentod vieler Kontaminierter führten in der Bundesrepublik zu einem Stimmungsumschwung gegen die Atomindustrie, den die Freunde der Kernkraft nicht mehr ändern konnten. Die Behauptung, die sowjetischen Reaktoren seien leider Schrott, aber unsere Reaktoren die sichersten der Welt, verfing nur noch bei einer Minderheit.
Das Desaster von Fukushima eröffnet nun die historische Chance, den Ausstieg aus der Atomenergie für Deutschland irreversibel zu machen. Es spielt dabei eine untergeordnete Rolle, dass Angela Merkel und andere Opportunisten mit dem Abschalten der alten Reaktoren aus den falschen Motiven heraus das Richtige tun. Es ist egal, sagte der chinesische Kommunist Deng Xiaoping gerne, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt die Mäuse.
Faulheit der etablierten Politik
Die Atomlobby wird sich nicht kampflos ihre Reaktoren stilllegen lassen. Da ihr Lügen pathologisch ist, werden wir in der nächsten Zeit zu hören bekommen, dass die deutschen Reaktoren natürlich, im Gegensatz zu den japanischen, sicher sind, dass ihr Abschalten immense Kosten nach sich ziehen und den Industriestandort Deutschland existenziell bedrohen würde. Geschenkt. Die Geschichte ist schon über viele Versuche, eine verlorene Sache zu verteidigen, hinweggegangen.
“Noch nie wollte ich so ungern recht behalten wie jetzt”, sagte mir vergangene Woche Ute Scheub, mit der ich damals in der taz-Ökoredaktion arbeitete. Sie war tief erschüttert über die ausweglose Lage der Menschen, die in der Nähe der außer Kontrolle geratenen Reaktoren leben, und die Inkompetenz der japanischen Krisenmanager. Hin- und hergerissen zwischen Wut, Depression und Zynismus erinnerten wir uns, dass wir vor über 30 Jahren in der taz, die als erste deutsche Zeitung eine tägliche Ökologieseite hatte, nicht nur gegen die Atomenergie anschrieben, sondern auch alternative Energien propagierten: Wind- und Sonnenenergie, Erdwärme.
Diese Anti-AKW-Sticker verkauft die taz in ihrem Online-Shop Wir gehörten damit zu den Ersten, doch angesichts der Endlichkeit der fossilen Energien erschien uns das entschlossene Sparen von Energie und die zügige Entwicklung regenerativer Energiequellen als eine banale Notwendigkeit für das Überleben jeder Industriegesellschaft. Wir verstanden nicht, warum unsere offenkundig vernünftigen Vorschläge zunächst kaum Resonanz fanden; wir verfluchten die gedankliche und operative Faulheit der etablierten Politiker.
Angesichts des Horrors und Elends in Japan wäre jede Besserwisserei herzlos, jeder Triumphalismus abstoßend. Aber wir Anti-Atom-Aktivisten der ersten Stunde sollten doch anmerken dürfen, dass wir die künftige historische Wahrheit schon vor über 30 Jahren antizipiert hatten; und dass die Beschwichtigungen der Atomenergiefreunde sich als das erwiesen haben, wofür wir sie immer gegeißelt hatten: haltlose Propaganda, verantwortungslose Lügen. Unser tiefes Misstrauen gegen die Atomenergie war zu großen Teilen weniger von physikalischer Expertise getragen als von unseren Instinkten, gleichzeitig war es vollkommen berechtigt.
Wir hatten recht
Zumindest ernüchternd ist es zu sehen, dass es dreier Reaktorkatastrophen bedurfte, bis die Vernunft die Chance bekam, sich gegen die von militärischen und wirtschaftlichen Interessen manipulierte Politik entscheidend durchzusetzen. Quälend lange hat es gedauert, bis die einfache Erkenntnis, dass die Atomenergie zu gefährlich und ihr destruktives Potenzial zu groß ist, in Deutschland vor dem Sieg steht. Manche der alten Anti-Atom-Aktivisten sind zwischenzeitlich angesichts der Verlängerung der Laufzeiten in Zynismus und Apathie verfallen, viele gingen wieder demonstrieren.
Und zu demonstrieren wird an diesem Wochenende erneut nötig sein, um den Point of no Return zu überschreiten. Das mag lästig sein. Doch beruhigend ist es zu sehen, dass sich die langsame Vernunft nach über 30 Jahren Atomdebatte nicht mehr unterdrücken lässt.
Michael Sontheimer war Mitbegründer sowie Chefredakteur der taz und arbeitete anfangs für die Ökologieredaktion. Heute ist er Mitglied des Kuratoriums der taz Panter Stiftung und schreibt vorwiegend für den Spiegel.