vonmanuelschubert 02.06.2022

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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_52 Bundesstaaten oder staatenähnliche Gebietskörperschaften haben die USA, 52 statische Einstellungen hat Jamens Bennings neuester Streich UNITED STATES OF AMERICA. Jede dieser Einstellungen ist in etwa 1 Minute 55 Sekunden lang oder kurz. Jede diese Einstellungen wirkt auf den ersten Blick, als ob die Kamera wahllos in die Landschaft gehalten wurde. Nicht jede dieser Einstellungen zeigt den Ort, den der Prätext verheißt.

Doch beim (in Ermangelung einer treffenderen Beschreibung, der Mann ist soviel mehr) experimentellen Dokumentarfilmemacher James Benning ist nie etwas wahllos und jedes Bild genau ausgewählt. So auch hier. Da die wenigsten Menschen außerhalb der USA wirklich en détail mit den USA vertraut sind, erschließt sich UNITED STATES OF AMERICA nicht unbedingt und schon gar nicht schnell. Umso mehr ist man darauf zurückgeworfen, sich aus den Sequenzen und dem Gezeigten selber einen Reim zu machen.

Wir sehen also schier unendlich viele Landschaften, nicht wenige davon erstaunlich verdorrt und leblos. Wir sehen Industriekomplexe, Hafenanlagen, von der Kamera aus dem urbanen Zusammenhang herausgelöste Gewerbegebäude, Vorort-Villen, Windräder, Kühltürme, Tagebaue, endlos lange Güterzüge (James Benning ist ein Eisenbahn-Nerd und hat über Güterzüge einen eigenen, sehr empfehlenswerten Film gemacht – RR), Küstenstreifen, Brücken, tote Tankstellen, Kriegsschiffe, Kakteen, Radaranlagen, den Himmel, den Mond, Sonnenblumen.

Die eigene Geschichte der Tonspur

Die visuelle Ebene ist bei James Benning aber niemals der alleinige Erzähler, die Tonspur hat mitunter ihre eigene Geschichte anzubieten. Häufig ist es On-Location-Sound, der uns verrät, was sich hinter der Kamera abspielt. Etwa, dass das vermeintliche Naturidyll vor der Kamera neben einer Schnellstraße oder in Nachbarschaft an einer Munitionstestanlage liegt. Wir sehen die Klangquellen dabei nie, die Kamera bleibt, wo sie ist. Unser Kopf muss Klang und Bild zusammenbauen, um sich verorten zu können. Und doch keine abschließende Gewissheit zu haben.

Hin und wieder übernimmt auch Foundfootage die Tonspur. In UNITED STATES OF AMERICA hören wir Politiker, die über den militärisch-industriellen Komplex sprechen, wir hören schwarze Bürgerrechtsaktivisten, die über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung mit einem Journalisten diskutieren, wir hören einen Native, der vom Zwang zur Assimilation der Native Americans durch die Weißen berichtet. Und wir hören Musik, Musik aus dem Radio, mal alte Schlager, mal aktuelle Popsongs. Zur Erinnerung in James Bennings Filmen passiert nie etwas zufällig oder zur Dekoration.

Bennings Filme sind Puzzel, UNITED STATES OF AMERICA, der eine Art Update oder Remake eines gleichnamigen Films von Benning von 1975 ist, darf diesbezüglich als exemplarisch gesehen werden. Seine Filme werfen uns auf unsere eigene Beobachtungsgabe und unsere Erinnerung zurück. Sie sind insofern auch – im besten Sinne – Schulen der Wahrnehmung. Eine Erzählung nach herkömmlicher Lesart, gar einen gestaltlichen Erzähler gibt es nicht. Braucht es auch nicht. James Bennign vertraut seinem Publikum in seiner Fähigkeit, sich schon irgendwie einen Reim auf die Sache zu machen und das zurecht. Selbst wenn man nicht weiß, dass Sequenz Nummer 38 die Kühltürme eines ehemaligen und umstrittenen AKWs zeigt, so weiß zumindest der mit der kollektiven deutschen Erinnerung vertraute Kopf, dass derartige Kühltürme für etwas stehen, was mit gesellschaftlicher Veränderung zu tun hat, die nicht ohne Widerstand errungen wurde. Im Heute der Klimakrise erst recht.

Kartografen des Anthropozäns

Und im Grunde ist dies die auf die Schnelle und Kürze des Blog-Formats heruntergebrochene Quintessenz von James-Benning-Filmen, zumindest von UNITED STATES OF AMERICA: Menschen mache sich Landschaft untertan. Sie besetzen (nicht nur) ihre Lebensräume vollumfänglich, sie prägen und codieren diese mit Menscheitsgeschichte in all ihren uferlosen Exzessen, bis auch das unscheinbarste und Schneeumwehteste Tal seine Unschuld verloren hat, weil es einst Versteck für einen Terroristen war.

Mensch könnte James Benning also vielleicht als Kartografen des Anthropozäns bezeichnen und dabei helfen uns seine Filme, das Hinsehen und Lesen (wieder-)zu erlernen. Aber was wir dabei Entdecken in der ungestörten Friedlichkeit von einer Minute und 55 Sekunden pro Einstellung, gibt vor allem Zeugnis davon, wo Menschen untereinander und gegenüber der Natur mehr als nur übergriffig wurden. James Benning ist dabei kein filmischer Ankläger, kein Kämpfer für die Entrechteten. Derlei aktivistische Aufgeregtheit ist ihm fremd (was ihn im Herzen des aktivistischen Films, der Berlinale, zu einem Novum macht). Er dokumentiert was er sieht, keine Deutung, keine Erklärung. Nichts. Bild und Ton sprechen für sich. Es ist an uns, hinzuschauen. Wir tragen die Verantwortung. James Benning ist vielleicht einer der letzten der Revolutionär:innen des Weltkinos.

PS: Die „Playlist“ mit den Reden und Songs aus UNITED STATES OF AMERICA hat das Kino Arsenal auf Youtube zusammengestellt.


UNITED STATES OF AMERICA, James Benning, USA 2022, 98′; Weltpremiere im Forum der Berlinale 2022

Der Film ist noch bis 12. Juni 2022 im Berliner Kino fsk zu sehen.


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