vonmanuelschubert 17.10.2022

Filmanzeiger

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Endlich! Es mag verwunderlich klingen, aber endlich geht Berlins wichtigstes Filmfestival – neben der Berlinale – wieder mit voller Kraft an den Start: Das Pornfilmfestival Berlin feiert mit seiner Festivalausgabe 2022 die Rückkehr zur Normalität. Nachdem die Ausgaben 2020 und 2021 weitgehend der Pandemie zum Opfer fielen, können die Welten des sexpositiven Filmschaffens nun wieder von einem neugierigen und begeisterungsfähigen Publikum erkundet werden.

Das Pornfilmfestival hat sich in seinen nun 17 Jahren (ein Jahr vor der Volljährigkeit sozusagen) als Leuchtturm und feste Adresse für filmisches Arbeiten jenseits von Moralvorstellungen, sexuellen, gesellschaftlichen, aber auch filmformativen Normen etabliert. Die ganze Vielfalt (nicht nur) menschlicher Körper und Sexualitäten spiegelt sich in den Filmen dieses Festivals, deren Bandbreite zwischen langer und kurzer Form, zwischen fiktionalem, experimentellem und dokumentarischem Erzählen changiert.

Offene Hosenschlitze, offene Mösen

Der Jahrgang 2022 bildet hier keine Ausnahme. Herz des Festivalprogramms ist das umfangreiche Kurzfilmprogramm, welches neben dem Wettbewerb zahlreiche besondere Kurzfilmrollen anbietet. Zusätzlich zu den fast schon traditionellen Rollen wie „Fun Porn Shorts“, „Political Porn Shorts“, „Lesbian Porn Shorts“, „Gay Porn Shorts“ kommen nun wieder neue Kuratierungen hinzu: Die „Open Hearts Porn Shorts“ blicken auf offene Hosenschlitze, offene Mösen und eine Offenheit für neue Sexspielzeuge – eine Reihe für alle mit wachem, offenen Geist. Guter Sex flutscht, wortwörtlich – die Rolle „Slippery When Wet Porn Shorts“ feiert Wasser, Öl, Schleim und andere Flüssigkeiten beim sexuellen Spiel.

Mit einer eigenen Rolle zu Gast ist das Excentrico Film Festival aus Chile. „Abya Yala“ stand in der Sprache des indigenen Volks der Kuna für das, was wir heute als Amerika kennen, – vor der Besetzung durch Kolonisatoren. Excentrico-Macher Nicola Rios versammelt in diesem Programm nun neun Filme aus dem südlichen Abya Yala. Filme, die auf verschiedensten Wegen den Kontinent, seine oft gewaltvolle Geschichte und deren Wirkung auf Körper und Sexualitäten untersuchen.

Still aus NARCISSISM | © Foto: Toni Karat

Das Festival eröffnet „NARCISSISM – The Auto-Erotic Images“ aus Berlin. Filmemacher:in Toni Karat bittet in dieser 90-minütigen Arbeit zahlreiche Menschen aus Berlin auf einen alten Dachboden und vor einen Spiegel. (Nicht nur) anhand ihres eigenen Spiegelbilds verhandeln sie mit sich und der Kamera Fragen von Narzissmus und erotischem Selbstverständnis. Die Protagonist:innen rekrutieren sich dabei aus der nicht-heterosexuellen, sex-positiven Community der Stadt, womit der Film wiederum auch den Kreis zum Pornfilmfestival selber schließt. Ist es doch diese Community, dies das Festival seit seiner Gründung bereichert und sich wiederum von diesem bereichern lässt. Was genauso auch auf Toni Karat zutrifft, denn „NARCISSISM“ ist die nun fünfte Arbeit die:der Filmemacher:in im Festival.

In Memoriam Charles Lum

Der kanadische Filmemacher Bruce LaBruce kann defakto als Inventar des Festivals durchgehen, nicht zuletzt auch weil sein langjähriger deutscher Produzent der Festivalgründer Jürgen Brüning ist. Im diesjährigen Programm präsentiert Bruce LaBruce seine jüngste spielfilmlange Arbeit für das Independent-Pornlabel Erika Lust „The Affairs of Lidia“. Im Zentrum steht hier ein Hetero-Paar, dessen männliche Seite eine offene Beziehung wünscht. Misstrauisch geworden, verfolgt Sie ihren Mann und entdeckt, dass er eine Affäre mit einem anderen Kerl pflegt. Eine Intrige nimmt ihren Lauf, die in bester Bruce LaBruce-Manier inszeniert wird, wenn auch die Story etwas den anarchischen Geist vermissen lässt, den Bruce LaBruce in früheren Spielfilmen pflegte.

Fester Bestandteil der Community des Pornfilmfestivals war Charles Lum. Der US-amerikanische Filmemacher, Jahrgang 1958, widmete sich in seinem gerne auch experimentellen Werk über lange Jahre dem Durch- und Erleben schwuler sexueller Alltagskultur in all ihren lichten und dunklen Seiten, ganz egal ob Auseinandersetzungen mit dem eigenen Körper, Kuriositäten beim Crusing im Park oder Reden mit Jüngeren über HIV/Aids. 2021 erlag Charles Lum einer AIDS-induzierten Krebserkrankung. Sein langjähriger filmischer Weggefährte und ebenfalls regelmäßiger Gast des Pornfilmfestivals, Todd Verow präsentiert im Festival nun die Arbeit „Charles Lum: This Is Where I Get Off“.

Es ist eine Hommage an den Filmemacher und langjährigen Freund, kompoliert aus den filmischen Arbeiten von Charles Lum. Todd Verow, dessen jüngste Arbeit „Fucked in the head“ ebenfalls im Festival zu erleben ist und der sich seit Lums Tod ein Stück weit auch der Pflege dessen filmischen Nachlass‘ verschrieben hat, eröffnet in dieser Arbeit noch einmal einen Zugang zum weitschweifenden, nachdenklichen, gerne auch unterhaltsamen und unbedingt lustvoll-versautem Werk von Charles Lum. Man kann dem Pornfilmfestival nicht hoch genug anrechnen, dass es diesem einzigartigen Filmemacher noch einmal eine würdige Bühne bereitet. Auf das Charles Lum nie vergessen werden möge.

Familie und Sexualität

Anhand dreier Werke laden die Kurator:innen des Pornfilmfestivals 2022 zu einer eher außergewöhnlichen Familienaufstellung und zum Durchdenken des Spannungsfeldes von Gesellschaft, Familie und Sexualität ein. Im dokumentarischen Essay „Bilder (m)einer Mutter“, verhandelt die Filmemacherin Melanie Lischker anhand von privaten Filmaufnahmen und Tagebüchern die Geschichte ihrer früh verstorbenen Mutter und deren Versuche des Zurechtfindens in einer alt-bundesrepublikanischen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, ein Land, die sich mit der Emanzipation der Frau schwer taten und im Grunde bis heute schwertun.

Auch beim Gewinner des Max-Ophüls-Preises 2022 spielen Tagebücher und Erinnerungen eine zentrale Rolle: In „Anima – Die Kleider meines Vaters“ erkundet Filmemacher:in Uli Decker das bis nach dessen Tod geheimgehaltene zweite Leben des Vaters als Transvestit in der alten Bundesrepublik. Eine Existenz, für die in der damaligen Gesellschaft und erst recht für einen 1936 in streng katholischen Verhältnissen geborenen Mann in keiner Weise ein Platz vorgesehen war. Über das Freilegen der Geschichte des Vaters eröffnet sich aber auch ein Resonanzraum für die eigenen Fragen der sexuellen Identität der:des Filmermacher:in. Der diesjährige Berlinale-Beitrag „Grand Jeté“ wiederum bearbeitet fiktional die Frage, was passiert, wenn sich Mutter und Sohn nach langer Trennung wie zwei Unbekannte begegnen und füreinander sexuelles Begehren entwickeln.

Grand Jeté“ steht in seiner Unerschrockenheit und seiner gleichermaßen verstörenden wie erfrischenden Radikalität wiederum auch für eine zentrale Qualität des Pornfilmfestivals und seiner Kurator:innen insgesamt: Ein Filmfestival, welches sich selber nicht erlaubt, Tabus zuzulassen und ausdrücklich auch jene filmischen Auseinandersetzungen dem Publikum zumutet, die sich den äußersten Rändern der Sexualität annehmen und Licht auf das Geschehen hinter gesellschaftlichen, moralischen, ethischen und auch legalen Grenzen werfen. Es ist ein Filmfestival des Menschseins in all seinen Schattierung, denn Sexualität ist Kern des Menschseins. _


17. Pornfilmfestival Berlin 2022

25.-30.10.2022, Kino Moviemento, Kino Babylon Kreuzberg, im Stream

www.pornfilmfestival.de

Tickets auf den Homepages der jeweiligen Kinos.


 

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