vonmanuelschubert 01.11.2022

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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Es sind Kollisionen, wie sie nur ein Filmfestival zustande bringt, und mehr noch nur ein Festival wie das Pornfilmfestival Berlin mit seiner stets herausfordernden Kuratierung. Zwei dokumentarische Arbeiten waren im Jahrgang 2022 am selben Tag im Programm zu sehen, deren zentrale Protagonistinnen beide an den Wunden zu tragen hatten und haben, die ihnen Missbrauch durch Männer riss.

In Beth B’s Arbeit LYDIA LUNCH: THE WAR IS NEVER OVER begegnen wir der No-Wave-Ikone Lydia Lunch, die die Narben der Angriffe auf ihren Körper in Kindestagen bis heute wort- und stimmgewaltig auf die Bühne trägt. In MY NAME IS ANDREA von Pratibha Parmar tauchen wir ein in die Gedankenwelten der Feministin Andrea Dworkin, die über den Terror gegen ihren Körper zur Aktivistin wurde. Zwei Frauen, zwei Schicksale des Missbrauchs, zwei vollkommen unterschiedliche, ja geradezu entgegengesetzte Wege der Verarbeitung des Traumas. Wo Lydia Lunch, Jahrgang 1959, die Macht ihrer Gedanken, den Klang ihrer Stimme, die Energie ihres Körpers in der Musik als Instrument entdeckt, um daraus eine neue Form der Kunst zu schaffen, geht Andrea Dworkin, Jahrgang 1946, den Weg des unerbittlichen Aktivismus.

Lärm als Waffe

Laut – das sind beide Frauen. Lärm als Waffe gegen eine waffenstarrende Nation der Männer, in der kaum eine Minute vergeht, in welcher eine Frau nicht durch einen Mann misshandelt und/oder ermordet wird. Ihre Stimmen dröhnen auf den Bühnen, die sie sich nehmen. Sie ziehen die Publika in den Bann, die ihnen zuhören, die meisten freiwillig, nicht alle. Umso durchdringender ist dann ihr Vortrag. Zahlreiche Materialien in beiden dokumentarischen Arbeiten geben uns davon Zeugnis. Wohl dokumentiert sind diese Frauen auch, weil sie selber einen immensen Output produziert haben. Trotzdem war die Ausgangslage für die Filmemacherinnen völlig unterschiedlich. Pratibha Parmar konnte nur mit dem arbeiten, was Andrea Dworkin hinterlassen hat. Diese starb, mit nur 58 Jahren, bereits 2005.

Beth B. wiederum kann auf das Werk ihrer Protagonistin (und dessen Rezeption) zurückgreifen – und die Protagonistin direkt befragen, denn Lydia Lunch ist alive and kicking. Und sie gibt sich reichlich auskunftsfreudig vor der Kamera. Die Kamera von Beth B. scheint ihr nur eine weitere Bühne zu sein. Auf Bühnen zu sprechen für die Spoken-Word-Königing deren Performances – das zeigen uns die Archivmaterialien in THE WAR IS NEVER OVER – selbst heute noch absolut frisch, antreibend und inhaltlich aktuell sind, ist ihr Element. Das Wort als Instrument, um Wut zu artikulieren, Protest zu üben, um die Gedanken der Zuschauenden anzureizen und die Gesellschaft in Schwingung zu bringen. Eine Gesellschaft der omnipräsenten Gewalt, wo der weibliche Körper unentwegt Gefahr läuft, angegriffen und versehrt zu werden. „Trauma is greedy“, sagt Lydia Lunch an einer Stelle. Traumatisierung amalgamiert das Leben umfassend.

Still aus LYDIA LUNCH: THE WAR IS NEVER OVER | (c) Bild: B Productions/Beth B.

Damit zurechtzukommen, eine Bewältigungsstrategie zu entwickeln, bleibt eine lebenslange Aufgabe, ein ewiger Krieg im Inneren, wie Lydia Lunch es beschreibt. THE WAR IS NEVER OVER gibt davon auf kluge Weise Auskunft. Beth B., wenn auch formal vielleicht etwas konventionell umgesetzt als schlichte Montage von Interviews und Archivalien, lässt ihrem Publikum Raum, um zu atmen und das Gehörte wie Gesehene im Kopf zu bearbeiten. Wir können Lydia Lunch und ihrem Krieg im Inneren wie im Außen näherkommen und eine Verbindung aufbauen. Respekt und Empathie für diese faszinierende und aber immer auch getrieben scheinende Frau entwickeln. Ganz anders MY NAME IS ANDREA von Pratibha Parmar.

Die Emotionen müssen sitzen

Pratibha Parmar scheint es hundertachtzigprozentig wissen zu wollen. Sie hat offenkundig eine eigene Mission. Und diese Mission scheint es zu sein, die Botschaften der Andrea Dworkin beinahe ungebrochen in die Jetztzeit hinein zu verstärken und Wirkung entfalten zu lassen. Ihre Wahl der Mittel gibt hiervon deutlich Auskunft. Nicht nur räumt sie dem vielgestaltigen Bewegt- und Audiomaterial über und mit Andrea Dworkin immens viel Raum ein, lässt also Andrea sprechen, denken – was bedeutet, ihrem oft appellativen und Prädigen-von-der-Kanzel-ähnlichen Vortrag ausgesetzt zu sein. Dieses Material steht auch ohne eine irgendwie hinterfragende, wenigstens mit einer anderen Perspektive arbeitende Verortung.

Zudem stellt Pratibha Parmar sicher, dass die Emotionen sitzen. Wo sie kein visuelles Material zur Verfügung hat, setzt sie auf Reenactment. Spielszenen bilden die Kindheit, die Jugendjahre und die schlimmsten Stunden von Andrea Dworkin nach. Als Mädchen wird sie im Kino angegriffen, als junge Erwachsene wird sie bei einer Demonstration verhaftet und anschließend im Polizeigewahrsam von Polizeiärzten schwer misshandelt. Später, in ihrer ersten Ehe, erfährt sie erneut heftige Gewalt durch ihren Ehemann. Die Bilder die uns dies näherbringen sollen, sind keine einfachen Skizzen, keine Abstraktionen. Es sind vollwertige Spielfilmszenen, die mit dem ausdrücklich breiten Pinsel auf die Leinwand kommen. Kurz: Es sind Bilder der Manipulation. Die Taten, welche Andrea Dworkin widerfuhren, so unerträglich sie es für eine Person allein schon sind, sie werden hier als Wirkmächtigskeitsverstärker visualisiert und vernutzt. Das Grauen, es soll im Kopf der Zuschauer einschlagen. Pratibha Parmar scheint Andrea Dworkins Worte allein nicht für ausreichend zu erachten. Sie will mehr.

Nur, wenn Dworkins mindestens fragwürdigen bis übergriffigen Positionen (bspw. zu Pornografie) etwas nicht gebraucht hätte, dann eine manipulative Verstärkung. Dabei sind Dworkins Gedankengänge an manchen Ecken nicht mal grundweg falsch, im Gegenteil. Dies schafft Pratibha Parmar durchaus herauszuarbeiten, es gibt in diesem Material mitunter tatsächlich Bedenkenswertes für heutige feministische Arbeit. Aber nicht durchgängig und umfassend.

Still aus MY NAME IS ANDREA | (c) Bild:  Pratibha Parmar/Fork Films

Andrea Dworkins Thesen sind teilweise über 50 Jahre alt und entstammen einer schwerst traumatisierten und versehrten Person. Ihr Aktivismus war eine eigene Form der Bewältigung von Trauma. Ihr Weg, Agency über ihre Person zurückzuerlangen und den Einfluss der Täter auf ihr Leben und ihren Körper bestmöglich zu neutralisieren. Auch und gerade vor diesem Hintergrund benötigen ihre Ideen einer Auseinandersetzung mit Achtsamkeit und kritischer Reflexion. Respekt für die Position aus der sie sprach, aber nicht ungebrochenes Wiederkäuen des Gesprochenen. Achtsam und respektvoll ist Pratibha Parmars Arbeit weder gegenüber dem Publikum, noch gegenüber dem Schicksal von Andrea Dworkin.

Sieht mensch LYDIA LUNCH: THE WAR IS NEVER OVER und MY NAME IS ANDREA im Vergleich wird exemplafrisch deutlich, wie Filmemacher:innen mit den Opfern von Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit und deren Nachleben umgehen sollten – und wie nicht.


Hintergrund: Zum 17. Mal lud das Pornfilmfestival Berlin vom 25.-30. Oktober 2022 zu filmischen Erkundungen menschlicher Sexualitäten und allem was damit in Zusammenhang kommt. Der Filmanzeiger berichtete über das Pornfilmfestival im Rahmen eines Dauerliveblogs mit Gedanken, Schnipseln und Texten zu den Filmen des Festivals.

Ausgewählte längere Texte dieses Dauerliveblogs sind inzwischen ausgekoppelt:

Nicht wandeln in Finsternis – die Filme von Matt Lambert

Wer behält das letzte Wort? – RUA DOS ANJOS von Renata Ferraz und Maria Roxo

Lesbische Sichtbarkeit? – Dokumentation NARCISSISM von Toni Karat


 

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