vonmanuelschubert 01.11.2022

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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Es mutet erstaunlich an, dass die dokumentarische Arbeit RUA DOS ANJOS erst auf dem Pornfilmfestival Berlin 2022 ihre Deutschlandpremiere hatte. Eine Arbeit dieser Qualität hätte eigentlich schon in das Programm der diesjährigen Berlinale oder des Dok.Leipzig-Filmfestivals gehört. Schauspielerin und Filmemacherin Renata Ferraz erzählt hier gemeinsam mit der (inzwischen verstorbenen) Sexarbeiterin Maria Roxo von und über Roxos Leben.

Ausgangspunkt ihrer Erzählung ist ein Plan: Maria bringt Renata bei wie Sexarbeit geht. Und Renata bringt Maria bei wie man Filme macht. RUA DOS ANJOS ist ihr kollaboratives Projekt. Ein Projekt auf Augenhöhe, das aber ausdrücklich auch interessengetrieben ist. Maria will ihre Geschichte dokumentiert wissen, eine Geschichte, die weit über Leben und Alltag einer Sexarbeiterin hinaus geht. Renata, die einst als Darstellerin eine Sexarbeiterin zu spielen hatte, sucht (wohl vor allem) nach Antworten für eine ehrliche und respektvolle Form der Repräsentation von Sexarbeiter:innen.

Es ist ein unkonventionelles Setting, welches wir in diesem Film vorfinden. Wir stehen in einem nahezu leergeräumten, dunklen Raum, scheinbar ein Film- oder TV-Studio. Die Beleuchtung erfolgt nur punktuell und ausgerichtet auf die wenigen Requisiten in diesem Raum: Ein Bett mit Nachttisch, zwei Stühle und eine Art Netz-Tischdecke, die Bett und Stühle raumhoch voneinander trennt, auch wenn sie den Blick hindurch noch ermöglicht.

Wessen filmischen Blick sehen wir?

Wer steht hier auf welcher Seite dieses Raumtrenners, wieso – und mit welcher Absicht? Wessen filmischen Blick auf das Gegenüber sehen wir gerade? RUA DOS ANJOS hebt die gewöhnliche Ordnung dokumentarischen Filmemachens auf – hier Filmemacher:in, dort Protagonist:in. Wer von den beiden Frauen gerade welche Rolle innehat verschwimmt mit der Zeit. Deutlich wird, Maria versteht das Filmhandwerk schneller als Renata die Arbeit mit der sexuellen Verführung. Aber um Schnelligkeit geht es hier nicht.

Es geht um Menschen, um eine wahrhaftige Repräsentation dessen was sie sind, was sie zu dieser Person gemacht hat. Und wie man dies für die Kamera umsetzt. Diese dokumentarische Arbeit ist daher auch ein Denkraum über das dokumentarische Arbeiten in sich, insbesondere wenn die Grenzen zwischen den Welten vor und hinter Kamera porös werden. Es wird intim in RUA DOS ANJOS, es wird schmerzhaft. Es wird extrem spannend für jene, die mit der portugiesischen (Kolonial-)Geschichte nicht vertraut sind. Denn die Sexarbeiterin Maria Roxo, das lernen wir – genauso unerwartet wie Filmemacherin Renata Ferraz es lernt – war Medizinstudentin, war gezwungene Kämpferin gegen die antikolonialistische Befreiungsguerilla in der portugiesischen Kolonie Mosambik, war gebärende Mutter und zugleich Witwe wortwörtlich mitten im Wahnsinn des Krieges, war Flüchtling vor der portugiesischen Militärjunta, war Junkie, war ein Mensch mit HIV/AIDS – und eben, sie war bis zu ihrem Tod Sexarbeiterin.

Zuviel für ein Menschenleben? In jedem Fall. Zuviel für einen Dokumentarfilm? Sehr wahrscheinlich. Mensch muss RUA DOS ANJOS deshalb auch als ein Dokument des gelungenen Scheiterns betrachten. Gescheitert, leider, an der immensen Biografie der verstorbenen Maria Roxo, die nun selber nicht mehr Zeugnis ablegen kann obwohl es noch soviele Fragen gäbe. Gelungen, weil dieser Film Maria Roxos Erinnerungen wachhält und dem Genre des Dokumentarfilms einen Spiegel vorhält. Weil er Frage nach der Position von Dokumentarfilmemacher:innen in ihren Arbeiten vor die Kamera zerrt – und zur Diskussion stellt, was Agency eigentlich wirklich bedeutet.

Wer behält das letzte Wort?

Dokumentarisches Arbeiten ist notwendigerweise daran interessiert auch jene Facetten einer Person wahrzunehmen und zu beleuchten, die diese vielleicht nicht ohne weiteres oder nur in einer bestimmten Weise präsentieren möchte. Es gibt einen genre-immanenten Konflikt zwischen der Person vor und der Person hinter der Kamera. Ein Konflikt, den man sehr vereinfacht auf eine Frage runterbrechen kann: Wer behält das letzte Wort? Protagonisten sind unzuverlässig und Dokumentarfilmemacher:innen kommen so gut wie immer mit einem vorgefertigten Gedanken und einer bestimmten Absicht zum Dreh. Wer bestimmt also, was letztendlich auf der Leinwand zu sehen ist? Wann hat ein:e Protagonist:in im Dokumentarfilm Agency über die eigene Erzählung? Und wann die Filmemacher:innen über die eigene Arbeit?

Zu keiner dieser Fragen wird RUA DOS ANJOS eine letztgültige Antwort liefern. Und doch ist die Arbeit von Renata Ferraz und Maria Roxo vielleicht einer der spannendsten Dokumentarfilme seit Jahren und ein Glücksfall für das Genre.


Hintergrund: Zum 17. Mal lud das Pornfilmfestival Berlin vom 25.-30. Oktober 2022 zu filmischen Erkundungen menschlicher Sexualitäten und allem was damit in Zusammenhang kommt. Der Filmanzeiger berichtete über das Pornfilmfestival im Rahmen eines Dauerliveblogs mit Gedanken, Schnipseln und Texten zu den Filmen des Festivals.

Ausgewählte längere Texte dieses Dauerliveblogs sind inzwischen ausgekoppelt:

Nicht wandeln in Finsternis – die Filme von Matt Lambert

Der Terror gegen die Frauen – Dokus zu Andrea Dworkin und Lydia Lunch

Lesbische Sichtbarkeit? – Dokumentation NARCISSISM von Toni Karat


 

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