(Fortsetzung von Das Lost Boy Syndrom I – Wendy says: My boy is lost.)
Auch Bosse und jüngst Kummer haben schon aus der Perspektive des Lost Boys typische Beziehungen beschrieben. Das Resultat sind erschütternde Danksagungen an die „Pflegekraft“ oder „Mutterfigur“:
„Du schreist Hurra in mein Gesicht; Hurra Hurra und dann kommt Licht; in all mein Schwarz dein grellstes Blinken; Dein Hurra gegen das Versinken.“
(Bosse, 2016 – bezeichnenderweise ist der lyrische Du im offiziellen Video ein Pinguin)
„Bin ich bei Dir ist alles anders, alles, inklusive mir; Du hast mich ein kleines bisschen repariert; denn bist Du da, bin ich nicht mehr dieser Wichser, der ich war.“.
(Kummer, 2019)
Ich empfehle in beiden Fällen, sich mal die gesamten Lyrics anzuschauen. Die Problematik ist dabei nicht, sich gegenseitig zu unterstützen und zu heilen. Denn eben darum geht es in der Beziehung zu einem Lost Boy nicht: Er nimmt und braucht, ist aber niemals in der Lage, dauerhaft zu geben und stabil zu unterstützen. Ähnlich wie Peter Pan mag er vielleicht im letzten Moment doch noch angeflogen kommen, bevor die Partnerin über die Planke geht, das kann man jedoch kaum als tatsächliche Unterstützung bewerten, denn es ist nur Mittel zum Zweck, dass die Partnerin ihm erhalten bleibt. Der Lost Boy ist damit eine seltsame, aber wichtige Figur im patriarchalen Gruselkabinett.
Ein Exkurs in die Männerwelten des 21. Jahrhunderts
Ein kleiner Exkurs in die Funktionsweise des Gruselkabinetts, könnte hier Aufschluss geben und die verschiedenen Puppen klarer machen. Die australische Soziologin Raewyn Conell entwickelte 1995 das Konzept der hegemonialen Männlichkeit. Hegemoniale Männlichkeit beschreibt hier die gesellschaftlich jeweilig vorherrschende „Wahrheit“ über Männlichkeit, also das Gerüst von Normen, das für die Dominanz des Mannes (und damit für die Unterordnung der Frau) sorgt. Maßgeblich für die hegemoniale Männlichkeit ist, dass sie sich in einem hierarchischen Konstrukt nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen andere, untergeordnete Männlichkeiten ausdifferenziert. Dabei ist hegemoniale Männlichkeit inhaltlich nicht bestimmt, sondern wandelt sich je nach dem, was die Dominanz innerhalb der gegebenen Gesellschaft sichert. Aktuell gehört der junge, westliche, heterosexuelle, gutaussehende Mann, der ein hervorragender Stratege sowie sportlich, erfolgreich und leistungsstark (und natürlich ein großartiger Liebhaber) ist, zu dem, was als hegemoniale Männlichkeit gewertet werden kann. Harvey Specter aus der Serie Suits ist ein Paradebeispiel für das momentan vorherrschende Normengerüst, das Männern auferlegt wird. Wenn man(n) nun zufälligerweise nicht zu den Auserwählten gehört, die diese Normen mit Leichtigkeit erfüllen können, bleibt nur ein Platz bei den untergeordneten Männlichkeiten. Als untergeordnet können derzeit beispielsweise homosexuelle, muslimische und nicht-akademische Männlichkeiten gezählt werden. Conell unterscheidet bei diesen zwischen marginalisierten und komplizenhaften Männlichkeiten. Marginalisiert sind sie dann, wenn sie ohnehin unterdrückten gesellschaftlichen Schichten angehören. Als komplizenhaft bezeichnet Conell allerdings die Männlichkeiten, die selbst aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage sind, an der hegemonialen Männlichkeit Teil zu nehmen, sie aber dennoch stützen, weil sie davon profitieren, wenn Frauen bestimmte (untergeordnete) Funktionen innerhalb der Gesellschaft einnehmen. Zum Beispiel, wenn Frauen für Führungspositionen nicht in Betracht gezogen werden oder sich hauptverantwortlich der Kindererziehung widmen.
Hegemonie von hinten durch die Brust ins Auge
Nun ist der Lost Boy wie beschrieben von Hause aus eigentlich dazu bestimmt, Teil der hegemonialen Männlichkeit zu sein. Das wird ihm auch durchaus nahegelegt, er wird dazu ausgebildet und darin gefördert, seinen Platz einzunehmen. Aber so recht mag der Schuh nicht passen. Vielleicht ist er auch aware und reflektiert genug, um das ganze System zu durchschauen und eben keinen übergeordneten Platz einnehmen zu wollen. Womöglich engagiert er sich sogar für Feminismus und bemüht sich, Frauen als Menschen wahrzunehmen. Trotzdem steht er letztendlich da und sorgt durch sein Verhalten dadurch, dass seine Partnerin genau in der Rolle bleibt, die ihr als Frau nahegelegt und zu der sie immer noch erzogen wird: Sie muss fürsorglich, nachsichtig, ein bisschen fordernd und liebevoll sein – im Zentrum ihres Seins und Lebens steht der Mann und somit die Gestaltung seines Lebens, denn sein Leben ist auch ihr Leben, schließlich wird es irgendwann zu ihrem gemeinsamen Familienleben. Der Lost Boy befriedigt damit die tiefsitzende Sozialisation der Frau und die Partnerschaft zu ihm ermöglicht ihr ein seltsames Gefühl von „Bestimmung“ und der Berechtigung, zu sein. Die von ihr geförderte Grandiosität des Lost Boys verhilft außerdem natürlich auch ihr zu einem höheren gesellschaftlichen Ansehen (unabhängig davon in welcher Sphäre/Szene der Gesellschaft sich ihr Leben abspielt, gibt es auch innerhalb immer ein höher oder tiefer) und einer einflussreicheren Position, als sie alleine womöglich erreicht hätte. Selbst wenn der Platz innerhalb der hegemonialen Männlichkeit noch nicht ganz eingelöst wurde, ist auch die missverstandene Genialität ein Glanz im eigenen Leben und die Verheißung einer großartigen gemeinsamen Zukunft („Wenn doch nur, wenn doch nur…“). Sie fühlt sich absolut geliebt, gebraucht, richtig in dem was sie tut, wie sie ist und nimmt so ihrerseits den ihr zugewiesenen Platz im Gruselkabinett ein.
Komplizen der hegemonialen Männlichkeit
Somit sind sie beide als Komplizen der hegemonialen Männlichkeit zu betrachten. Mit ihrer Hilfe und durch ihre Motivation nimmt der Lost Boy seinen Anteil an der hegemonialen Männlichkeit in Anspruch und dominiert ihr Leben: Er beendet sein Studium, nimmt einen gut bezahlten Job an, bekommt ein Kind oder gründet ein Unternehmen, sie sorgt dauerhaft dafür, dass er einen geregelten Tagesablauf hat, gut isst und sozialverträglich agiert. Chris‘ Freundin hat beispielsweise inzwischen dafür gesorgt, dass er nicht mehrfach wöchentlich MDMA in völlig alltäglichen Situationen konsumiert, sondern nur noch zu festlichen Anlässen. Nebenbei hat sie dann noch die Fertigstellung seiner Abschlussarbeit vorangetrieben, indem sie ihm Struktur, Selbstorganisation und -disziplin beigebracht hat.
Diese Entwicklungen sind meistens jedoch nur temporär, denn der Lost Boy wollte weder den Platz innerhalb der hegemonialen Männlichkeit noch das tun, was dafür notwendig ist. Und genauso wenig wie Wendy in Nimmerland Mutter werden wollte, gefällt der Partnerin der Platz, den sie dann plötzlich hat. Also finden sich beide am Ende verwirrt grinsend in der Manege wieder und fragen sich, warum sie jetzt, wo doch scheinbar alles gut ist, (immer noch) nicht glücklich sind.
Sowohl Robert als auch Chris sind mit ihren Partnerinnen irgendwo in der Nähe dieses Punkts angekommen. Chris wohnt inzwischen mit seiner Freundin in einem hübschen Haus, hat ein goldiges Kind, seine Freundin geht Vollzeit arbeiten und er ist seit mehreren Monaten wegen Depressionen krankgeschrieben. Robert zieht immer wieder enorm große Aufträge an Land und erledigt die mit Bravour, um dazwischen in Verzweiflung zu versinken und alles Geld zu verschleudern, sodass er wieder Schulden machen muss. Die dazugehörigen Partnerinnen verharren irgendwo zwischen Wut und Ratlosigkeit, täglich abwägend, wie weit sie sich noch emotional distanzieren können, um nicht immer wieder verletzt zu werden oder ob irgendwann doch eine grundlegende Entwicklung in ihrer Beziehung passiert.
Ein Kabinett braucht Publikum
Notwendig werden an dieser Stelle Demonstrationen des gemeinsamen Glücks: Turtelnd und gigglend fallen der Lost Boy und seine Partnerin übereinander her, sobald genügend Publikum anwesend ist, um ihre Leidenschaft zu dokumentieren. Auf Insta laden wunderschöne Bilder des gemeinsamen Heims zum Nachamen ein, großartige Geschenke oder Unternehmungen zeugen außerdem von dem tiefen Verständnis, das beide trotz aller Differenzen füreinander hegen.
Beweise der großen Liebe, die so zelebriert werden, folgen nicht selten auf tiefe Wunden, die Wendy zu verkraften hat. Verluste, Überforderung und Demütigungen werden auf diese Weise wieder gut gemacht, sodass Wendy ihren Schmerz vergisst. Natürlich würde der Lost Boy nicht handgreiflich werden und auch für die Partnerin wäre eine handgreifliche Auseinandersetzung (unabhängig davon, wer handgreiflich wird) eine derartige Grenzüberschreitung, dass die Beziehung danach zwangsläufig beendet wäre. Denn die Schicht, in der wir uns hier bewegen, verletzt niemals körperlich, denn diese Gewalt ist sichtbar und könnte vom Publikum verurteilt werden. Der Machismo des Bildungsbürgertums ist insofern der Lost Boy: Wo der erste auf der Couch sitzt, säuft und prügelt, grübelt der andere im Lehnsessel, kokst, kifft und verletzt, vernichtet letztendlich seine Partnerin emotional. Beides geschieht in Performanz der großen Leidenschaft und Liebe als Rechtfertigung des anhaltenden Schmerzes. Beides geschieht aus Unfähigkeit in dieser neoliberalen, weiterhin patriarchalen Gesellschaftsform zu leben, geschweige denn zu lieben.
Ausweg aus dem Gruselkabinett?
Wer schon mal einen Lost Boy verlassen hat, es also letztendlich doch verweigert, ihn zu retten und stattdessen doch lieber das eigene Leben vor der ausufernden Negativität schützt, wird sich einer geballten Wucht Wut gegenübersehen. Überwältigt davon, wo jetzt diese Kraft auf einmal herkommt, muss Frau sich dann plötzlich dafür rechtfertigen, sich nicht aufzuopfern und ihr eigenes „dem Traum vom gemeinsamen Leben“ unter zu ordnen. Denn: „Ich liebe dich doch!“
Dass dieser Satz leer bleibt und sich irgendwann anfühlt wie eine Ohrfeige, wenn er nicht mit Leben gefüllt und tatsächlich umgesetzt wird, merkt der Lost Boy nicht. Für ihn war diese eine Entscheidung, sich zu binden, so gravierend und fundamental, dass sie steht und allem standhält, was an Negativität von ihm selbst ausgeht. Diese Liebe, scheinbar unconditional, auf der einen Seite und maßlose Vorwürfe auf der anderen, führen in immer kürzeren Schleifen immer wieder dazu, dass Frau die Beziehung (lange) nicht beendet. Das Gefühl unbedingter Liebe führt womöglich auch dazu, dass sie ein Kind mit dem Lost Boy bekommt oder andere manifeste Verbindungen schafft, weswegen die Rettung des Boys irgendwann auch für sie notwendig und damit zu ihrer zentralen Lebensaufgabe wird. „Ich bin wie ein Videospiel für Dich. Ich muss perfekt sein, damit Dein Leben erträglich ist.“ Sagt Joelle Brooks in der Serie Dear White People zu ihrem Lost Boy. Was sie damit sagt ist: Ich muss Regeln folgen und für Dich aufstellen, damit Du es nicht musst.
Auch Wendy möchte nicht nur irgendwann wieder weg aus Nimmerland, nachdem sie die Erfahrung mit dem echten Peter Pan abseits ihrer Geschichten gemacht hat, sondern, sie möchte nun, obwohl ihr Vater milde geworden ist und sie doch nicht des Kinderzimmers verweist, doch erwachsen werden.
Das Problem heißt Patriarchat
Die Liebe zu einem Lost Boy ist eine sehnsüchtige, traumhafte Illusion dessen, sich der Welt dauerhaft verweigern zu können, gemeinsam nicht erwachsen werden zu müssen und für immer Abenteuer zu erleben. Dafür muss man nur ein bisschen Mutter spielen und dabei aus Versehen in der Nachbarzelle landen, anstatt die Illusion nach egalitären Beziehungen direkt auf zu geben oder für immer alleine zu sein. Ist das Verharren in solch einer Beziehung eine bittersüße Möglichkeit, im Nachthemd zu bleiben und die Hässlichkeit der Welt nicht so nah an sich selbst heran zu lassen? Weil alle Aufmerksamkeit auf ihm ruht, rückt die eigene Verzweiflung in den Hintergrund. Der eigene Glanz, die eigene Art fliegen zu lernen verschwinden allerdings ebenso hinter der Fürsorge für den Lost Boy und den immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen.
Wir haben es hier mit einer doppelten Problematik zu tun: Der eigenen Unsicherheit und der strukturellen Diskriminierung der Frau. Wir können kaum zu einem solchen Glanz erstrahlen, wie unser Partner. Wenn, dann am einfachsten an seiner Seite und mit ein bisschen von seiner Strahlkraft. Insbesondere wenn die Beziehung zu einem Lost Boy familiär wird, also Kinder gezeugt oder anderweitig langfristige Verpflichtungen miteinander eingegangen werden, wird deutlich, wie wenig sich an den äußeren Rahmenbedingungen hierfür geändert hat. Die Fürsorgepflichten für Haus und Heim liegen klar bei der Frau, fällt der Lost Boy also aus und tut gar nichts mehr (was er ja immer wieder tut), gibt es keine strukturelle Unterstützung, die dies auffangen würde. Wendy kann entweder sich selbst oder das Kind überfordern, denn weder staatliche noch persönliche Strukturen existieren in dem Ausmaß, dass die monogame Zweierbeziehung ausgedient hätte.
Widerstand statt Wendy-Sein!
Beziehungen zwischen Lost Boys und ihren Partnerinnen sind also letztendlich eine weitere Spielart der andauernd vorherrschenden Unterdrückung der Frau und Ausbeutung ihrer Potentiale. Womöglich brauchen wir also lostere Girls, die lieber temporär in sinnloser Radikalität verenden, als dabei, ihrem Partner zu einem erfolgreichen Leben zu verhelfen. Wir stehen vielleicht auf der Erde und sind erwachsen geworden, weil uns im Gegensatz zu Männern nicht der Luxus vergönnt ist, uns in Hirngespinsten und Selbstmitleid zu verheddern – aber wir können fliegen lernen. Wir brauchen dazu keinen Glanz und kein goldenes Schiff: Wir nehmen seit jeher den Hexenbesen. Der Umgang mit der Negativität der Welt und unserer strukturellen Diskriminierung kann nicht bedeuten, die einzigen Plätze einzunehmen, die uns gewährt werden. Es muss bedeuten, diese zu verweigern und weitere zu erkämpfen, selbst wenn wir dafür verbrannt werden. Im Zweifel auf Kosten der nachfolgenden Generation – sonst kommen weder sie noch wir hier jemals raus.
Das Lost Boys Syndrom III – Praktische Anregungen für Lost Boys und ihre Partnerinnen