vonfini 25.11.2021

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Auf dem neuen Album meiner Band Black Square gibt es eine Trilogie zum Thema Lost-Boy-Syndrom: „Wendy I“ ist ein Klavierstück von der Jazzmusikerin Carla Köllner, „Wendy II“ ist ein Song von mir und „Wendy III“ ist ein Gedicht von der Künstlerin Schrumpelmei, das mir auf den Artikel zum Lost-Boy-Syndrom zugesandt wurde. Alle diese Stücke sind von Cis-Frauen verfasst und richten sich primär an Cis-Frauen mit der Forderung: „Wir brauchen lostere Girls, die in Radikalität verenden, statt ihren Partner zu sortieren“. Ich werde gelegentlich gefragt, warum ich hier den Begriff „Girls“ verwende, obwohl ich an anderer Stelle von „FLINTA*“ spreche. Meine Antwort lautet meistens: Ich kann den LINTA* in FLINTA* nicht dasselbe vorwerfen wie Frauen, die ihren männlichen Partner an die Spitze der hegemonialen Männlichkeit organisieren, weswegen sich meine Forderung nach Radikalität nur an Cis-Frauen richtet.

Wait – what?

Eine heterosexuelle Cis-Frau hat ähnlich wie ein schwuler Cis-Mann eine seltsame Stellung im Kampf gegen das Patriarchat: Beide sind mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen, binären Geschlecht in Einklang und damit Träger*innen von Privilegien, die ihnen einen Platz in der hegemonialen Ordnung (Sicherung der Dominanz von Cis-Männern gegenüber Frauen und anderen Geschlechtsidentitäten) sicherstellen. Das sind nicht unbedingt gute Plätze, aber sie können dort einen haben. Diese Plätze sorgen innerhalb der Ordnung dafür, dass die Ordnung selbst stabil bleibt. Schwule Cis-Männer und Cis-Frauen können auf diese Weise zu Kompliz*innen hegemonialer Männlichkeit werden, indem sie als schwule Cis-Männer selbst normative Männlichkeit performen oder als Cis-Frauen Cis-Männer dabei unterstützen, den Normen hegemonialer Männlichkeit zu entsprechen (Theoriebasis: Rawyn Conell). Ein aktuelles Medienbeispiel für ersteres könnte Prince Kim Tränka aus der Serie Prince Charming herhalten, für letzteres bemühe ich immer wieder gerne das Lost-Boy-Syndrom, weil es sowohl in der Punkrock- als auch der linken Politszene stark verbreitet ist.

Von Pick-me-Girls und Straight Acting

In beiden Fällen scheinen zunächst alle Beteiligten unbeteiligt, weil sie selbst keine hegemonialen Cis-Männer sind/sein können. Dennoch nehmen sie eine besondere Rolle ein, wenn es um Privilegierung und Diskriminierung geht: Cis-Frauen und schwule Cis-Männer können Funktionen der Diskriminierung für heterosexuelle Cis-Männer übernehmen, um damit scheinbar ihren Anteil an möglichen Privilegien zu stabilisieren oder zu verbessern. Alltagssprachlich bewegen wir uns dann häufig auf Ebenen wie: „Mein schwuler Freund steht auch nur auf richtige Männer und findet Tunten albern.“ oder „Die Sängerin von der Band findet gendern auch unsinnig.“ Für dieses Verhalten von Cis-Frauen gibt es beispielsweise den Begriff „Pick-me-Girl“, der beschreibt, wie Cis-Frauen sich selbst in Abgrenzung zu allen anderen Frauen (häufig auch begleitet durch Abwertung) so versuchen zu positionieren, dass die patriarchale Auswahl auf sie fällt, damit sie ja nicht ohne Mann und/oder Kind dastehen. Paradoxerweise versucht ein Pick-me-Girl die „verbesserte Frau“ zu sein, also nicht so „girly“ oder „zickig“ wie andere Frauen. Wohingegen Straight Acting darauf zielt, der „verbesserte Schwule“ zu sein, hier ebenfalls ohne weiblich konnotierte Attribute wie „girly“ oder „zickig“. Beide Varianten führen also die binäre Logik des Patriarchats fort, wonach es ein definiertes „männlich“ sowie „weiblich“ gibt und das „männlich“ immer Vorrang hat, besser ist oder einfach bevorzugt wird.

In which team do I play?

Gegen Ausschlüsse und Verletzungen im Patriarchat haben sich verschiedene Begrifflichkeiten gebildet, die als Gegenperspektive zu Cis-Männern bzw. Heteronormativität verwendet werden und letztendlich als Selbstbezeichnung für all diejenigen funktionieren sollen, die aus der hegemonialen Geschlechterordnung herausfallen. Im deutschsprachigen Raum haben sich aktuell vor allem FLINTA* und LGBTQIA+ durchgesetzt (in Abwandlungen).

Der Begriff FLINTA* bezieht sich auf das Gender, fokussiert also die sexuelle Identität und richtet sich insofern gegen die einfache Übernahme der normativen Kategorisierung „Mann“ und „Frau“ sowie damit einhergehender Hierarchisierungen. FLINTA* kommt aus einem stark aktivistischen Kontext sowie feministischen Diskursen zu Freiräumen und hat u.a. den Begriff „FLTI*“ (Female, Lesbian, Trans, Inter, Divers) abgelöst sowie ergänzt um Non-Binary sowie Agender-Personen.

Der Begriff LGBTQIA+ hat eine längere Geschichte und ist durchaus wissenschaftlich geprägt. Ursprünglich bezog sich LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) fast ausschließlich auf die sexuelle Orientierung. Inzwischen wurde der Begriff um Queer, Intersexual, Agender und Divers erweitert. Er richtet sich insofern gegen die hetero-cis-normative Ordnung und ist international deutlich verbreiteter als FLINTA*. Der Begriff hat den Anspruch, Erfahrungen von gesellschaftlicher Ausgrenzung aufgrund eines nicht-normativen Geschlechts oder Begehrens sichtbar zu machen.

Nun wird relativ schnell deutlich: Bei FLINTA* werden schwule Cis-Männer exkludiert und bei LGBTQIA+ werden heterosexuelle Cis-Frauen exkludiert. Schwule werden bei FLINTA* exkludiert, weil sie als Cis-Männer am Patriarchat (= Herrschaft des Mannes) teilhaben können und heterosexuelle Frauen werden bei LGBTQIA+ exkludiert, weil sie innerhalb der heteronormativen Ordnung des Patriarchats funktionieren und insofern nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Benachteiligungen hinsichtlich rassischer, ökonomischer, gesundheitlicher und weiterer Kategorien im Sinne einer intersektionalen Perspektive werden in beiden Begriffen nicht explizit aufgeführt. Fraglich bleibt, ob sie dahinter verschwinden oder jederzeit mitgedacht werden.

Die Reproduktion binärer Logik

Beide Begriffe sind aus der Perspektive heraus entstanden, Kämpfe von ausgeschlossenen und vom Patriarchat misshandelten Personen zu verbinden. Anstatt in kleinen, einzelnen Kämpfen unterlegen zu sein, sollen die Begriffe dazu dienen, eine größere Einheit, eine Koalition zusammenzurufen, Freiräume zu gestalten und sich gegenseitig zu supporten. Sie sind Ausdruck von Solidarität ( = Zusammenhalten mit Anderen aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele) im Patriarchat. Insofern geht mit den Begriffen eine Verschiebung des patriarchal geprägten Otherings (= Distanzierung der eigenen Gruppe gegen eine andere) einher: Anstatt, dass einzelne Personen oder Gruppen, die nicht der hegemonialen Ordnung entsprechen, ausgeschlossen werden, richten sich nun neu geformte Gruppen gegen die hegemoniale Ordnung als solche. Bei Othering im positiven Sinne geht es grundsätzlich darum, vorab zu definieren, gegenüber wem ich mich verletzlich zeigen kann und gegenüber wem ich mich wappnen muss. Wenn ich an einen Ort komme, der als FLINTA*-only definiert ist, kann ich mich dort als Cis-Frau anders bewegen, denn ich kann davon ausgehen, nicht primär als (Sexual-) Objekt definiert zu werden. Auch Auswüchse toxischer Männlichkeit werden mir dort weniger begegnen und insofern kann ich auch meine Schutzmechanismen dagegen herunterfahren. Deswegen sind heterosexuelle Cis-Männer als Inhaber der meisten Privilegien von beiden Begrifflichkeiten und damit einhergehend auch entsprechend definierten Räumen ausgeschlossen. Dennoch bleibt Othering eine Reproduktion binärer Logik, weil zwischen dem „wir“ und „den Anderen“ eine scheinbar klar definierte Grenze besteht, die jeweils ausschließend wirkt.

Kommt mit Euren Waffen und erhaltet Eure Narben

Die Grenze ist in diesem Falle (und auch in den meisten anderen) nur leider nicht so besonders klar, wie am Beispiel der schwulen Cis-Männer oder auch heterosexuellen Cis-Frauen deutlich wird. An diesen Gruppen wird besonders deutlich, was dennoch auch für alle anderen geschlechtlichen Identitäten und Neigungen gilt: Es gibt keine Eindeutigkeit – und genau das ist eigentlich die Stärke feministischer Ansätze im Gegensatz zur binären Logik des Patriarchats. Alle im Patriarchat aufgewachsenen Personen tragen Aspekte der hegemonialen Geschlechterordnung in sich, haben patriarchal geprägte Empfindungen von Dominanz/Unterordnung und mussten Strategien entwickeln, darin zurecht zu kommen. Das Patriarchat kann deswegen nicht nur im Außen, sondern muss insbesondere, wenn es um weibliche oder männliche Sozialisation geht, in uns selbst benannt werden und auch bekämpfbar bleiben – auch wenn wir uns für diesen Kampf Verbündete suchen. Der Zusammenschluss zu FLINTA* oder LGBTQIA+ darf nicht dazu führen, dass sowohl Beteiligungen an Privilegien aber auch Verletzungen durch Diskriminierung von Einzelnen unsichtbar werden. Er kann auch nicht bedeuten, dass jede der Identitäten, die sich dahinter verbirgt, nur noch im Zusammenschluss agieren darf, denn jede einzelne hat eigene Herausforderungen und Wunden, aber auch eigene Potentiale und Waffen. Die Schönheit und Stärke von FLINTA* oder LGBTQIA+ entsteht durch ihre Vielfältigkeit und nicht über ihre Differenzierung zu mehrheitsgesellschaftlichen Geschlechternormen. Sie besteht darin, dass sowohl weiblich als auch männlich konnotierte aber genauso neutrale oder gänzlich neue Verhaltensweisen gezeigt werden können, aber in keinerlei Hierarchie zueinander oder Konsequenz zu sich selbst stehen. Anything goes statt Ausschlüsse und Reglementierungen, ansonsten ersetzen wir nur die eine Geschlechterordnung durch eine neue – und Ordnung kann niemals unser Ziel sein.

Feminismus darf nicht zur Ordnungsmatrix für neoliberale Verwertungen werden, sondern hat utopische Potentiale, die einen gemeinsamen Umgang jenseits von Ordnungsstrukturen und damit einhergehender Herrschaft ermöglichen können. Vielleicht haben wir diese Utopie noch nicht fertig geschrieben, auch fehlen uns an vielen Stellen immer wieder die Worte und auf dem Weg dahin werden wir in die ein oder andere Sackgasse laufen, aber wir haben uns immerhin auf den Weg gemacht, ein Miteinander entgegen binärer Logik, sondern in Anerkennung tatsächlicher Vielfalt und damit auch partikulärer Bedürfnisse zu entwickeln.

Unnu?

Wenn wir dieser Vielfalt Rechnung tragen wollen, müssen wir uns eher die Mühe machen, bei jeder Veröffentlichung oder Äußerung zu überlegen: Für wen gilt meine Aussage und für wen kann ich sprechen? Und mich vielleicht auch andersherum zu fragen: Bin ich in einem Statement jetzt überhaupt mitgemeint und muss ich das sein? Wenn trans* Personen darüber schreiben, dass Menstruationsthemen für sie problematisch sind, dann muss ich mich an der Stelle auch nicht dazu äußern – ich kann aber weiterhin mit anderen Cis-Frauen und Cis-Lesben über Menstruation sprechen. Genauso kann es passieren, dass ich durch dominantes und dementsprechend männlich gelesenes Verhalten von trans* Personen abgewertet werde – die Person kann dann aber trotzdem mit anderen trans* oder non-binary Personen so umgehen, wenn es für die klargeht. Wir können uns eben nicht darauf zurückziehen, einmal etwas vorzudefinieren und danach gibt es keine Konflikte mehr. Ganz im Gegenteil können und müssen wir all die Konflikte, die im Patriarchat und deswegen auch in uns bestehen, sichtbar machen und ausfechten. Letztendlich ist das die Freiheit, die mir FLINTA*-Kontexte geben, obwohl ich als heterosexuelle Cis-Frau an LGBTQIA+ Themen ansonsten keinen Anteil habe: Ich werde als Mensch anerkannt, kann mit anderen Menschen neu aushandeln, wie wir miteinander umgehen können und das jedes Mal aufs Neue, weil wir keine neuen Normen setzen, Verbote aufstellen und Dominanz ausüben wollen.

Dieser oder jener Feminismus

Bei Wendy II habe ich mich für den Begriff „Girls“ entschieden, weil hierunter für mich all diejenigen fallen, die weiblich konnotierte Verhaltensweisen zeigen und sich damit identifizieren. Ich würde mich insofern als „Girl“ definieren und meine Forderung geht an all diejenigen, die das auch tun. Dennoch kann m.E. die Forderung auch von anderen FLINTA* gestellt werden – im Gegensatz zu Cis-Männern, die damit nur ihrer angeborenen Dominanz Ausdruck verleihen würden. Aber jede FLINTA* profitiert davon, wenn Cis-Frauen sich ihrer eigenen patriarchalen Prägung zuwenden, anstatt einem Cis-Mann zur Dominanz verhelfen. Und alle Girls profitieren von FLINTA*, die unterstützend zur Seite stehen und sie nicht in ihrer vermeintlichen Liebe bekräftigen. Das Patriarchat wird nicht in einer Schlacht, an einem Tag oder an einem Ort vernichtet, es sind all diese Einzelfälle, die jede Minute passieren und die dazu führen, dass die hetero-cis-normative Ordnung auf allen Ebenen angegriffen wird. Die Gleichzeitigkeit der vielfältigen Kategorien von Diskriminierung darf nicht dazu führen, dass wir einzelne dieser Verletzungen nicht mehr empfinden oder sichtbar werden lassen. Der Kampf einer verheirateten Cis-Frau mit einem Neugeborenen in einem Lager für Geflüchtete ist ein anderer als der einer non-binary Person, der täglich ihre Nicht-Existenz unterstellt wird und beide sind andere als meiner – hier hilft es niemandem, wenn wir eine „Hierarchie der Opfer“ installieren und damit wieder in Dualismen zwischen Täter*innen/Opfern verfallen. So einfach ist das Game nicht.

Jede diskriminierte Lebensform hat ihre eigene Realität darüber, wie sich in ihr verschiedene Ebenen der Diskriminierung miteinander verweben und welche Strategien sie entwickelt, welche Privilegien sie vielleicht doch noch nutzen kann, um einen Umgang damit oder Ausweg daraus zu finden. Diese Strategien finden wir nicht immer sinnvoll oder sogar gefährlich, aber sie sind jederzeit Folgen eines kapitalistisch-patriarchalen Systems, innerhalb dessen es nur für weiße, hetersexuelle Cis-Männer sowas wie ein gutes Leben geben kann. Am Ende des Tages sitzen wir alleine auf dem Klo mit zerschundenen Körpern und verletzten Herzen. Und genau dann müssen wir wissen, wo wir uns hinwenden können, wo wir Unterstützung finden, um immer wieder in den Kampf zu ziehen. Dann ist es letztendlich egal, wo wir die Waffen und Werkzeuge hernehmen, um uns zu verteidigen – von FLINTA*, LGBTQIA+, Queer- oder Radikalfeminismus mit Küchenmesser, Rasenmäher oder Kuchen, der Feind ist das Patriarchat und niemals eine verletzte Lebensform.

 

 

 

 

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