vonfini 04.11.2022

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Nein sagen und reagieren lernen

Mit diesem Problem müssen wir deswegen offener umgehen, wenn wir Übergriffe wirklich verhindern wollen: „Nein“-sagen muss ebenso gelernt und geübt werden, wie auf „nein“ entsprechend zu reagieren und eben nicht in Dominanzspiele zu verfallen, wenn diese nicht klar kommuniziert von beiden Seiten gewollt sind. Eine zielführendere Rolle von Cis-Männern anstatt sich als weißer Ritter zu betätigen, kann deswegen darin bestehen, sich kontinuierlich mit dem Potential der eigenen Täterschaft zu beschäftigen und mit dem eigenen Freund*innenkreis über Erfahrungen von Grenzübertritten, aber auch von erfolgreichen Grenzkommunikationen zu sprechen. Nur auf diese Weise kann gelernt werden, dass auch WÄHREND Sexualität immer wieder Konsens hergestellt werden muss. Hier dürfen Menschen keine Abwehrreaktionen zeigen in Form von emotionaler Ablehnung oder Abfälligkeit, falls Konsens nicht hergestellt wird, selbst wenn ein „nein“ immer erstmal als Zurückweisung empfunden wird. Genauso kann es ratsam sein, grundsätzlich mehrere Abstufungen von „nein“ zu üben, da manchmal eine Grenze kommuniziert werden muss, ohne, dass dadurch die ganze sexuelle Situation beendet werden soll. Sehr simpel bieten sich hier folgende Begriffe an:

„Halt!“ (= das, was Du gerade gemacht hast, nicht mehr machen) und „Stopp!“ (= alles aufhören).

Außerdem sollten Konsensgespräche VOR sexuellen Situationen geübt und auch konsequent geführt werden. Denn: nicht alles, worauf man während sexueller Lust Lust hat, ist auch wirklich das, was eine*n nicht verletzt. Konsensgespräch können hier auch dem*der Partner*in eine Möglichkeit geben, selbst mit auf die Grenzen des Gegenübers zu achten bzw. bestimmte Praktiken von vornherein zu vermeiden. So ein Konsensgespräch fängt schon mit sich selbst beim Verlassen der Wohnung am Abend an: Worauf habe ich heute Lust, was möchte ich heute erleben und was sollte ich heute lieber vermeiden? Je unklarer Ihr Euch selbst über Eure Bedürfnisse seid, desto schwerer fällt es Euch später, sie jemand anderem gegenüber zu verteidigen.

Ergibt sich dann eine Situation, in der Ihr selbst aktiv werden wollt oder ein sexuelles Bedürfnis an Euch herangetragen wird, solltet Ihr zunächst darüber reden – wortlose Romantik à la Disney und sonstiger Popkultur ist ein Märchen und wurde nur dafür erfunden, um Männern unkonsensuellen Sex zu vereinfachen. Sprecht also jeweils darüber, wo die Reise in dieser Situation hingehen soll, wo Eure Grenzen sind, worauf Ihr Lust habt oder was Ihr jetzt und hier ausprobieren möchtet, sofern Euer Gegenüber darauf auch Lust hat. Gehen Eure Bedürfnisse weit auseinander oder wird das Gespräch von der anderen Person unter dem Rückgriff auf „Jetzt red‘ mal nicht so viel, sondern lass Dich fallen!“ abgeblockt, ist das ein erstes Indiz dafür, dass diese Person nicht sonderlich sensibel mit Grenzen umgeht oder hoffnungslos überfordert ist.

Gerade als Cis-Mann müsst Ihr solche Unterhaltungen häufig erst lernen, denn eine Norm in heteronormativer Sexualität besteht darin, als männlicher Part jederzeit souverän zu sein, zu wissen, wie das alles funktioniert, wo alles ist und die Situation quasi magisch zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen. Insbesondere eine weibliche Prägung steht häufig ebenfalls erstmal in derselben Tradition, von ihrem Gegenüber dieses „Regeln der Gesamtsituation“ zu erwarten.  Das können wir Disney nicht in die Schuhe schieben, sondern liegt meist an Aufklärung durch Pornographie und am Ideal der männlichen Performance. Diese Rolle der Gesamtverantwortung für sexuellen Verkehr könnt und solltet Ihr auch ablehnen, wenn der*die Partner*in sie an Euch heranträgt. Wenn Ihr also in einer kritischen Männlichkeitsgruppe o.Ä. aktiv seid: Redet konkret über Sexualität, über Pornographie, die Euch geprägt hat oder die Ihr jetzt eher empfehlen könnt. Und kleiner Tipp für Performanceängste: Auch darüber ist es hilfreich mit anderen Cis-Männern zu reden, denn die männliche Erektion ist von ebenso vielen Mythen umgeben wie Mutterschaft. Am Ende des Tages sind das nur körperliche Vorgänge, wie wir sozial mit ihnen umgehen, liegt jedoch bei uns und Sexualität von Penis-Fokussierung zu lösen ist ohnehin ein lohnendes Ziel.

Und wie immer bei Unklarheit oder unguten Gefühlen mit anderen Personen: Nehmt sie ernst, versucht darüber zu reden oder verlasst die Situation. Man kann sich trotzdem auf eine Situation mit Unklarheit einlassen, weiß dann aber ein bisschen besser, welches Risiko man eingeht oder welche Kräfte für ein „Nein“ mobilisiert werden müssen.
Gewährt Euch außerdem selbst und gegenseitig in Sachen Konsens eine gewisse Tagesformabhängigkeit: einmal ja/nein zu etwas gesagt zu haben, bedeutet nicht, dass dieses ja/nein von jetzt an für immer gilt. Es kann jedes Mal anders sein, die Zustimmung kann sogar währenddessen durch einen flüchtigen Gedanken, ein Flashback, einen Geruch oder einfach so komplett kippen. Konsens ist fragil und kein Vertrag, fragt deswegen lieber einmal zu oft nach als einmal zu wenig.

Solltet Ihr in einer Konstellation Sexualität erlebt haben, die wiederholt wird, sprecht unbedingt NACH der geteilten Sexualität darüber, was wie gefallen hat, was weswegen gefallen hat, was wiederholt werden soll und was nicht. Auch in eher abgeschlossenen sexuellen Erlebnissen kann es hilfreich und auch interessant sein, über das gemeinsam erlebte noch einmal zu sprechen. Nur so könnt Ihr sicher sein, dass Ihr keine Grenzen übertreten habt oder Ihr könnt dazu beitragen, dass ein Grenzübertritt keine großen Verletzungen nach sich zieht.

Hierbei könnt Ihr Euch außerdem Eure eigenen Trigger bewusst machen, die dazu führen, dass Ihr die Grenzen von anderen Menschen nicht mehr wahrnehmt oder sogar aktiv übertretet. Sexualität ist in der jeweiligen Situation eher weniger ein rationales Geschäft, trotzdem könnt Ihr Euch und die Dinge, die Euch quasi „wild“ machen, immer besser kennen- und einschätzen lernen: Was turnt Euch so an, dass Ihr nur noch DAS erleben, nur noch Eure eigenen Lust befriedigt sehen wollt und die involvierte Person darüber egal wird? Je bewusster Euch Eure eigenen Fetische, Kinks und Bedürfnisse sind, desto eher findet Ihr auch Personen, die konsensuell den Gegenpart übernehmen wollen – und ja, es gibt auch Menschen, die Freude an Rape Play haben.

Drogen und Sexualität

Wer schon mal Awareness auf einer Party oder in einem anderen Kontext gemacht hat, dem*der ist spätestens seit dem sehr klar: Die meisten Fälle von übergriffigem Verhalten und Vergewaltigungen entstehen unter Drogeneinfluss. Und auch hier sind wir wieder bei Punkt 4 des linken Programms, dem Hedonismus, bei dem individuelle Freiheit sehr hochgehalten wird und der der Grund dafür ist, dass nahezu jeder linke Raum wiederkehrende Debatten von „Freiheit bedeutet primär meine Freiheit, Drogen zu konsumieren“ hinter sich hat. Hedonismus in allen Ehren, aber es gibt auch wirklich zielführendere Möglichkeiten, sich selbst zu verletzen und so richtig rebellisch zu fühlen als mit übermäßigem Drogenkonsum. Selbstzerstörung hat in bestimmten linken Strömungen sogar einen programmatischen Wert, aber dafür muss er auch wirklich konsequent durchgeführt werden, wozu dann doch die meisten nicht das Rückgrat haben.

Drogen sind grundsätzlich dafür da, die Realität weicher zu machen oder soziale und individuelle Grenzen insbesondere körperliche nicht mehr zu empfinden. Dies gilt für die eigenen Grenzen genauso wie für die anderer Menschen. Jede Droge wirkt hier natürlich etwas anders, aber grundsätzlich kann gesagt werden, dass unter Drogeneinfluss kein rationaler und empathischer Umgang miteinander möglich ist. Jede Person, die sich für übermäßigen Drogenkonsum (inkl. Alkohol) in linken Räumen ausspricht oder dazu beiträgt, indem sie Menschen Drogen zugänglich macht, ihre schädliche Wirkung für andere verharmlost oder Drogen in die Sphäre der „Coolness“ holt, trägt deswegen dazu bei, dass sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen einen kaum regulierbaren Nährboden erhalten. Dieses Pulverfass einfach an eine wie auch immer ausgestaltete „Awareness“ zu übergeben, ist mehr als fahrlässig und reproduziert patriarchale Verhaltensweisen, bei denen die Lust den Hausherren und die Nachsorge dem FLINTA*-Personal überlassen wird – häufig sogar nach den Regeln der Hausherren in Form eines sozial besonders hochrangigen Veranstalters.

Insbesondere wenn an Sexualität beteiligte Personen unterschiedlich nüchtern sind oder verschiedene Arten von Drogen konsumieren, kann es trotz vorherigem Konsens zu Aktivitäten kommen, denen eine der beteiligten Personen im Nachgang nicht zugestimmt hätte, wenn sie nüchtern gewesen wäre. Sexualität unter Drogeneinfluss sollte man deswegen grundsätzlich reduzieren oder nur mit Menschen erleben, die man wirklich sehr gut kennt, wo eine Vertrauensbasis besteht, auch Übergriffe im Nachgang gemeinsam zu bearbeiten. Wir möchten an dieser Stelle insbesondere folgende Substanzen kritisch hervorheben (was aber nur die Spitze des Eisbergs andeuten soll):

  • Kokain erhöht das Aggressionspotential und führt schnell zu Selbstüberschätzung.
  • Alkohol erhöht ebenfalls das Aggressionspotential und macht körperlich unempfindlich.
  • MDMA/Ecstasy verstärkt körperliche Nähebedürfnisse und das Bedürfnis nach Vereinigung.

Möchte man das Risiko dennoch eingehen, sollte man sich VOR der Sexualität mit anderen Menschen bewusst machen, worauf man sich einlässt: Wie reagiere ich auf welche Drogen? Was kommt an Signalen durch den Rausch zu „mir“ als bewusster Entscheidungsinstanz? Wie gehe ich mit dieser Diskrepanz um und wie reagiere ich darauf, was an Stopp-Signalen durch meinen Rauch dringt? Im besten Falle kommuniziert man diese Erkenntnisse mit den Personen, mit denen man aktiv werden möchte. Denn dann können diese das Risiko für sich selbst ebenfalls besser einschätzen oder die Interaktion auch noch ablehnen, bevor sie selbst im Strudel des Rauschs fließen.

Wenn eine Person nüchterner ist als die andere, sollte diese ein Konsensgespräch herbeiführen. Und wenn schon das Probleme gibt (sowohl von Ablehnung oder auch einfach Unfähigkeit, sich der Situation angemessen zu artikulieren), dann solltet Ihr Euch sehr gut überlegen, ob Ihr das Risiko eingehen wollt, denn: Sexualität auf (unterschiedlichen) Substanzen ist und bleibt ein Risiko – vergleichbar mit Autofahren auf Substanzen.

Die heilige Kuh: Strafanzeige

Wurden all die beschriebenen Möglichkeiten, Konsens herzustellen und Risiken zu vermeiden, bewusst nicht angewendet oder sogar ausgenutzt und ggf. auch Übergriffe in verschiedenen linken Szenen durchgeführt, können wir aktuell nur langfristig damit umgehen, wenn das betroffene Opfer eine Strafanzeige stellt. Nicht, weil die Täter*innen dann sowas wie „Gerechtigkeit“ erfahren, sondern, weil dies als ein finaler Ausschluss aus aktivistischen Zusammenhängen gewertet werden kann, da der soziale Kontext den*die Täter*in nicht mehr vor dem Staat schützt. Wobei hier ganz klar die Bedürfnisse des Opfers im Zentrum stehen: Für manche Menschen ist eine Strafanzeige sehr belastend, für andere ermöglicht der Prozess die Gewalterfahrung zu verarbeiten. Solange wir als linke Szene Teil dieses Staates und sozial zwangsläufig ein Teil des Patriarchats sind, haben wir keine andere Möglichkeit, eine Form von Recht herzustellen, als diese. Eine Strafanzeige ist mit vielen sehr unangenehmen und auch risikoreichen Schritten verbunden: die Involvierung der Polizei, Indizienprüfung, ggf. psychologische Gutachten zur Feststellung der Zeugenfähigkeit, Kosten für Anwälte und Gerichtsverhandlungen. Bei nicht-weißen Personen, die angeklagt werden sollen, sollte außerdem noch gesondert betrachtet, dass ein Ruf der Polizei für nicht-weiße Personen ein Todesurteil bedeuten kann. Anstatt sich in einer Parallel-Justiz zu üben, indem immer wieder Awarenessstrukturen geschaffen werden, die hier und da Fallbegleitung übernehmen, wäre es insbesondere für Fälle von bewusster Vergewaltigung und Serienübergriffigkeit notwendig lokale, solidarische Strukturen zu entwickeln, die Betroffene bei der Durchführung von Strafanzeigen gegen sexuelle Gewalt unterstützt, sofern die betroffene Person diesen Weg gehen will. Genauso wie wir uns nahestehende Anwält*innen haben für Strafrecht, das gegen uns als Linke vorgeht, sollten wir Anwält*innen und Psycholog*innen in erreichbarer Nähe haben, mit denen wir Fälle von sexualisierter Gewalt bearbeiten können. Dies ist kein Feld für Laien.

Es ist allerdings auch nicht damit getan, das gesamte Thema „den Profis“ zu überlassen: Wenn wir sexualisierte Gewalt langfristig und nachhaltig abbauen wollen, muss sich jede einzelne Person mit ihren eigenen patriarchalen Prägungen und unbewussten sexuellen Neigungen befassen, denn jede einzelne Person wird ansonsten früher oder später zu Täter*in und/oder Opfer – oder zu der Person, die eine*n Täter*in durch einfache soziale Einflussnahme hätte aufhalten können.

 

Bundesweite Hilfsangebote für Betroffene, Unterstützer*innen und Täter*innen von sexueller Gewalt:

Weisser Ring e.V.
bundesweit tätige Organisation der Opferhilfe mit einem 24/7 erreichbaren Telefon
(Tel.: 116 006) sowie Beratungen vor Ort in 400 Außenstellen und Onlineberatung für Betroffene von Sexualstraftaten (eine Strafanzeige ist keine Voraussetzung)

pro familia e.V.
Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung mit lokalen Beratungsangeboten (auch online) in jedem Bundesland, klare Positionierung zur Beratung von trans*, inter und/oder nicht-binären Personen

Zartbitter e.V.
Kontakt und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen

Frauen gegen Gewalt e.V.
Bundesverband der Frauennotrufe und Beratungsstellen für Frauen und Lesben, je nach lokaler Ausrichtung auch für trans*, inter und/oder nicht-binäre Personen nutzbar

Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch
Tel. 0800 22 55 530

Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen
Tel. 08000 116 016

Lokale Beratungsstellen können auch über Google (Stichwort: Beratungsstelle sexuelle Gewalt + Stadt) gefunden werden oder über Dachverbände der Länder wie bspw. der Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW e.V.

Teil I: Tätervorwürfe, Definitionsmacht und allgemeine Ratlosigkeit

Teil II: Date Rape – Täter kann jede*r sein

Originaltext: https://de.indymedia.org/node/238565

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