In meinem Artikel „Am Ende mit der Moral“ habe ich als erstmal letzten Beitrag zur Reihe „Analyse aus dem Coronareallabor“ eine Überlegung dazu angeregt, dass Moral und Ethik relativ nutzlose Werkzeuge sind, um tatsächlich etwas an ökonomischen Strukturen und gesellschaftlichen Systematiken zu verändern. Ich starte deswegen hiermit eine neue Reihe zum Thema „Der Individualisierung entkommen“ und stelle in diesem Rahmen verschiedene konkrete Aktionen, Überlegungen oder Herangehensweisen vor, wie antikapitalistische Kämpfe und solidarische Zusammenhänge 2022 aussehen können.
Individualismus ftw?!
Solidarität ist – wie schon beschrieben – eine nicht unproblematische Begrifflichkeit: Seit spätestens 2 Jahren völlig vereinnahmt und in einer postmodernen Existenz kaum haltbar, denn sie verträgt sich nicht so recht mit dem Individualismus, der alle Lebensbereiche inzwischen prägt. Die Aussicht auf einen kalten Winter in einer täglich weiter eskalierenden Wirtschaftskrise lässt nun viele Menschen an die Grenzen ihres Individualismus stoßen oder vielmehr: Daran verzweifeln. In einem individualistischen, neoliberalen Gesellschaftskonzept ist jede*r selbst für die Erfüllung seiner Bedürfnisse zuständig. Das Narrativ geht wie folgt: Je leistungsstärker Du bist, desto mehr Geld verdienst Du und desto mehr Deiner Bedürfnisse kannst Du befriedigen (oder auch: desto angenehmer ist Dein Leben). Das gilt auch für Bereiche, die eigentlich alle Menschen betreffen wie Wohnen, Mobilität, Gesundheit, Energie usw. Nun scheitern derzeit immer mehr Menschen an diesem Narrativ, denn obwohl sie ihr Leben lang leistungsstark und finanziell halbwegs solide aufgestellt waren, stehen sie plötzlich vor den rasant steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten und können sich diese eigentlich nicht mehr leisten. Nach dem neoliberalen Narrativ sind sie an diesem Umstand selbst schuld, weswegen die Gesellschaft (meist in Repräsentation eines Staates) auch nur mäßige Anstrengungen unternimmt, diese Schuld von der Einzelperson zu übernehmen.
Soziale Räume halten wärmer als soziale Medien
Auf diese Weise geraten immer mehr Einzelpersonen im Angesicht der derzeitigen Wirtschafts- und Energiekrise in Schuldenspiralen, denn sie versuchen, ihre wirtschaftlichen Probleme allein zu lösen und ihren Lebensstandard trotz allem auf dem Niveau ihres sozialen Umfelds zu halten. Armut ist weiterhin nicht sexy, Stolz bringt sie auch nicht hervor und ist damit kaum Grundlage für eine individualisierte Identität – weswegen diese Diskriminierungslinie bei den meisten Diversity-Aktivitäten einfach ignoriert wird. Mit dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen und daraus folgenden Kampagnen sowie Demonstrationen haben seit Juni 2022 Menschen versucht, an diesem Problem anzusetzen. Wie in den meisten Fällen von Online-Aktivismus hakt es aber am Übergang in die soziale Realität. Soziale und herkömmliche Medien waren und sind durchaus moralisch betroffen, davon wird aber kein Wohnzimmer warm und kein Strom-/Gasversorger zur Verantwortung gezogen. Ortsgruppen der FAU – Freie Arbeiter*innen Union haben schon vor einigen Jahren begonnen, sogenannte „solidarische Nachbarschaften“ zu initiieren sowie Strategiepapiere zum Vorgehen zu verbreiten. Angesichts der heutigen Krise verbreitet sich dieser Ansatz auch unter anderen linken Organisationen. Die Vorbilder dafür kommen u.a. aus Spanien, wo die Wirtschaftskrise 2006 die Menschen bereits dazu gezwungen hat, neue Formen sozialer Unterstützung zu entwickeln. Das Ziel solcher Nachbarschaftsvernetzungen angesichts der Krise ist die konkrete Unterstützung von Einzelpersonen bei ihren jeweiligen Problemen, aber auch das Etablieren von Warmräumen, „Volksküchen“ oder anderen gemeinsam nutzbaren Ressourcen. Ich habe das erste Treffen eines solchen Versuchs in einem Stadtteil von Bonn (Bonn-Beuel) besucht und mit den Initiator*innen gesprochen. Warum Bonn-Beuel, ein Stadtteil auf der „falschen“ Rheinseite und relativ weit weg vom Zentrum? „Es gibt ein soziales Zentrum und das Milieu ist eher gemischt, ich habe hier in der Gegend für Pflegedienste gearbeitet und deswegen habe ich einen ganz guten Eindruck von der Infrastruktur und der sozialen Situation der Menschen bekommen.“, sagt Max. Max ist 35, promoviert in Soziologie und ist FAU-Mitglied in Bonn. „Wir starten hier erstmal, aber es sollen noch mehr Stadtteile dazukommen und eine Vernetzung unter den Gruppen entstehen, damit man auch angemessen konfrontativ gegenüber Energieversorgern auftreten kann.“
Schnittchen und Kuchen?
Das Treffen fand bei Sonnenschein in der „Alten VHS“ statt, einem selbstverwalteten Kulturraum mit großen Räumen sowie einer Infrastruktur für Selbstversorgung und Selbstorganisation. Vor dem Gebäude auf der Terrasse war eine lange Tafel aufgebaut, wo es neben Kaffee und Tee auch Schnittchen, diverse Kuchen und andere Mitbringsel der Teilnehmenden gab. Jede*r konnte sich bedienen und zum Ankommen erstmal an Biertische in der Sonne setzen. Max und seine Mitstreiter*innen begrüßten jede ankommende Person und boten damit ein für linke Räume eher untypisches Gefühl des Willkommen-Seins. „Bei so einer Versammlung ist es wichtig, einen Ort zu wählen, wo Menschen keine Ablehnung erfahren, weil sie keine Szene-Codes bedienen.“, sagt Max. „Wir haben außerdem 10.000 Flyer verteilt und den Menschen, die hier wohnen, in die Briefkästen gesteckt – die Hälfte davon sah links aus und die andere Hälfte nicht.“ Einige der 20 Teilnehmenden kamen aus aktivistischen Zusammenhängen, es waren jedoch auch interessierte Nachbar*innen und eine Journalistin der städtischen Zeitung gekommen. Eingeladen hatte nicht die FAU, obwohl dort aktive Einzelpersonen wie Max maßgeblich an der Organisation des Treffens beteiligt waren. Das Treffen sollte möglichst frei von politischen Ideologiekämpfen gehalten werden und sich konkret an den Bedarfen der Menschen vor Ort orientieren. Max sagt dazu trocken: „Wir müssen als Linke halt auch einfach wieder lernen, normal mit anderen Menschen zu reden und gute Bündnispartner für solche Aktionen zu finden.“ Die Moderation war entsprechend durchlässig: Nach dem Ankommen teilte sich die Gruppe auf und die Hälfte ging rein, um dort Teile einer Dokumentation über die Vorbildaktionen in Spanien („7 Tage mit der PAH in Barcelona“) zu sehen und zu besprechen. Die andere Hälfte blieb draußen und sammelte erste Ideen, wie individuellen Schulden gemeinsam begegnet werden kann.
Mit Gemeinschaft gegen Depressionen
Ich habe mich für den Film entschieden, der nicht komplett geschaut wurden, sondern Max wählte einzelne Szenen aus und gab dazu politischen/wirtschaftlichen Kontext. Die PAH – Plataforma de Afectados por la Hipoteca gründete sich 2009 als parteiunabhängige Bürgerinitiative, um Betroffenen von Zwangsräumungen zu unterstützen. Das politische Ziel der PAH war eine sozial verträgliche und gerechte Verteilung der Folgen der Immobilien- und Wirtschaftskrise, sodass Menschen, die in Schulden geraten waren, rechtlich unterstützt als auch gewaltfrei Zwangsräumungen verhindert wurden. Das konkrete Versprechen, dass sich die Menschen vor Ort selbst gaben, hieß: Du bist nicht mehr alleine und Du wirst nicht obdachlos. Analog zur Energiekrise, die wir gerade erleben, waren Menschen, die sozial eigentlich bislang alles „richtig gemacht“ hatten, plötzlich nicht mehr in der Lage, ihre Rechnungen zu bezahlen und gezwungen, Schulden zu machen. Die PAH als grobes Vorbild für das eigene Vorgehen zu sehen, schien deswegen den Teilnehmenden naheliegend. Insbesondere der psychologische Effekt von Aktionen wie der PAH oder der Nachbarschaftsvernetzung wurde hervorgehoben und für die aktuelle Situation als zielführend festgestellt: Bei den Treffen der PAH wurden zunächst Einzelschicksale geteilt und damit das erste Mal wieder besprechbar, woran jede*r für sich alleine verzweifelte. Denn hierbei wird sehr deutlich, dass es kein individuelles Versagen von jeder*m Einzelnen ist, plötzlich „arm“ zu sein. Wirtschaftskrisen kommen selten mit einem lauten Knall daher, sondern beginnen schleichend an den Rändern einer Gesellschaft zu wirken. Eine direkte Wahrnehmung dessen, was also direkt um mich herum passiert, woran die echten Menschen in meinem Umfeld so verzweifeln, hilft insofern dabei, politischen Prozessen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Nach dem Film und einer kurzen Pause wurde deswegen eine erste Runde in dieser Richtung versucht. Max freut sich sehr, dass die Teilnehmenden den psychologischen Effekt der PAH ausprobieren wollen: „Es ist unheimlich wichtig, Angst besprechbar zu machen und sich auch über mögliche Folgeprobleme des eigentlichen Problems bewusst zu werden, die jemand anderes vielleicht schon erlebt hat, damit man sie noch vermeiden kann.“
Nicht tatenlos abwarten
Besonders auffällig an dieser Runde war zunächst das Zögern, negative und persönliche Erlebnisse in der Öffentlichkeit zu erzählen. Außerdem wurde am Ende der Runde das gemeinsame Fazit gezogen, dass die meisten Teilnehmenden gerade noch nicht bei der konkreten Zahlungsunfähigkeit angekommen waren, sondern eher mit großer Angst auf den Zeitpunkt warten, wann die erste Rechnung kommt, die ihnen finanziell das Genick bricht. Nach der Runde wurde deswegen beschlossen, die gemeinsame Arbeit erstmal darauf zu konzentrieren, mehr über das Thema Energie und Wohnen zu erfahren. Hierzu soll bei einem nächsten Treffen sowohl der Mieterschutzbund als auch Anwält*innen eingebunden werden, um ganz konkrete Fragen zu stellen. Sind beispielsweise die Mieter*innen belangbar, wenn durch mangelndes Heizen Schimmel entsteht oder die Bausubstanz anderweitig leidet? Wie kann ein*e Mieter*in Einfluss darauf nehmen, welchen Energieversorger der*die Vermieter*in auswählt? Zusätzlich wollen die Teilnehmenden eine Art Guide entwickeln, wie individuell der „große Knall“ abgefedert werden kann, beispielsweise durch den kurzfristigen Bezug von Hartz 4 oder Wohngeld bei Arbeitnehmer*innen. Mit Punkteverfahren wurde ein Messenger zur weiteren Vernetzung ausgewählt sowie die Treffen für die kommenden Monate festgelegt (1 Treffen im Monat). Mögliche Aktionsformen, auf die man sich ebenfalls vorbereiten möchte, sind: die öffentliche Bloßstellung von Energieversorgern, öffentliche Proteste, Strom teilen, gegen Zwangsräumungen vorgehen, bei den zuständigen Ämtern aufschlagen oder auch die Arbeitgeber*innen in die Verantwortung nehmen. „Ob sich das dann zu politischen Kämpfen entwickelt oder es eher um solidarischen Befriedigung der Grundbedürfnisse geht, wird sich zeigen – das hängt ja von den Menschen ab, die hierherkommen.“, so Max über die Zukunft der Stadtteilversammlung in Bonn-Beuel.
„Es ist wirklich scheiße!“
Aktivismus ist eine der sichersten Eintrittskarten in einen Burn-Out insbesondere für die zentralen Organisator*innen. Max sieht hierbei jedoch einen enormen Vorteil der Stadtteilversammlungen: Die Initiation wird zwar von politisch häufig erfahrenen Personen vorangetrieben, allerdings kommt die Politisierung und die Aktivität der Teilnehmenden aus ihrer eigenen Notlage und den neuen Beziehungen untereinander. „Wir haben im Vorfeld die Flyer und Inhalte vorbereitet, Karten des Stadtteils entwickelt für die Briefkastenaktion, die Strategie zum Vorgehen von anderen Initiativen abgeleitet und so allgemeine Administration wie Termin und Raumorga gemacht. Das waren für mich persönlich ungefähr 2 Stunden die Woche.“, so Max. „Dazu kommt die inhaltliche Beschäftigung mit dem Thema, das ist aber überschaubar in seiner Komplexität. Ich empfehle immer, wirtschaftliche Literatur aus dem 21. Jahrhundert zu lesen – Lenin hilft nur bedingt, wenn man aktuelle wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen will.“ Unten findet Ihr deswegen ein paar Literaturtipps von Max über Globalisierungskritik von Anfang der 2000er, digitalen Kapitalismus sowie zu den Wirkmechanismen von Aktienmarkt und Börse. Denn ja, der Krieg in der Ukraine hat hinsichtlich der Energieknappheit etwas beschleunigt, was allerdings auch ansonsten demnächst eskaliert wäre. Der Gegner in diesem Kampf ist teilweise abstrakt, insofern wir es mit Wirkmechanismen des Kapitalismus zu tun haben, aber konkret heißen die Gegner*innen jeder betroffenen Einzelperson: Vermieter*in (Abwälzen der Mehrkosten auf die Mieter*in), Energieversorgungsunternehmen (Profitorientierung bei Energie), Lebensmitteleinzelhandel (Profitorientierung bei Lebensmitteln) oder auch Bank, insofern letztendlich die Privathaushalte dazu genötigt sind, sich zu verschulden. Stadtteilversammlungen können dabei helfen, diese Gegnerschaft bewusst zu machen, finanzielle Probleme nicht zu individualisieren und Menschen in direkter Nähe zu wissen, denen es genauso geht und die einander Unterstützung zusichern.
Literaturtipps:
Nicole Mayer-Ahuja, Oliver Nachtwey (Hrsg.): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft
Sabine Pfeiffer: Digitalisierung als Distributivkraft: Über das Neue am digitalen Kapitalismus
Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert
Mariana Mazzucato: Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern
David Graber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre
James C. Scott: Seeing like a State
Naomi Klein: No Logo
Raúl Zibechi: Bolivien. Die Zersplitterung der Macht